In den letzten Tagen wird wieder viel über Armut diskutiert. Mit dem bei uns verwendeten Armutsbegriff ist sie jedoch nicht zu bekämpfen.
Wenn wir in Deutschland über Armut diskutieren, dann geht es dabei um relative Armut. Absolute Armut bedeutet Hunger, Obdachlosigkeit, kein Zugang zur Gesundheitseinrichtungen, Bildung etc.. Davon betroffen sind in Europa vor allem bedauernswerte Randgruppen, die häufig in der Illegalität leben wie Flüchtlinge oder die Obdachlosen, von denen viele neben wirtschaftlichen auch ein Abhängigkeitsproblem haben. Ihre Zahl konnte in den vergangenen Jahren jedoch deutlich gesenkt werden.
Relativ arm ist nach EU Definition, wer weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Nettoeinkommens, in Deutschland aktuell 856 Euro, zur Verfügung hat. 856 Euro – das ist wirklich nicht viel Geld, steht aber für eine gewisse Kaufkraft.
Wie könnte nun eine effektive Bekämpfung der Armut aussehen? Mehr Kaufkraft für den Einzelnen wäre eine nahe liegende Lösung.
Was würde aber nun passieren, wenn sich die Kaufkraft (nicht das Geld-Einkommen) aller in Deutschland verdoppeln würde? Die Armut nähme nicht ab, sie würde gleich bleiben.
Und was wäre, wenn alle in Deutschland nur eine Kaufkraft von 856 Euro zur Verfügung hätten? Nach der gängigen Definition von Armut gäbe es dann keine Armut mehr.
Das ist ein grundlegendes Problem der Definition von relativer Armut. Sie kann nicht durch den steigenden Wohlstand oder durch Wirtschaftswachstum bekämpft werden, sondern nur durch Umverteilung: Je geringer die Unterschiede, je geringer ist die relative Armut. Nach der Berechnungsmethoden zur relativen Armut kann es im Kapitalismus keine effektive Armutsbekämpfung geben – egal wie hoch die Kaufkraft der wirtschaftlich schwächsten Gruppen der Bevölkerung ist. Die relative Armut ist eine gute Definition für alle, die im Armuts-Business tätig sind, denn sie bestätigt bei jedem Armutsbericht die Notwendigkeit zur Bereitstellung hoher Mittel – und vieler Stellen – zur Armutsbekämpfung. Und diese Armutsbekämpfung ist ohne Ziel – sie wird so lange nicht erfolgreich sein, wie wir nicht alle arm sind – oder alle reich. Viel sinnvoller als den Begriff Armut zu benutzen ist die Verwendung des Begriffs der Unterschicht. Deren Hauptproblem ist die mangelnde Bildung, aus der sich als Konsequenz die Arbeitslosigkeit in einer hochtechnisierten Wirtschaft ergibt, die kaum noch ungelernte Hilfskräfte benötigt. Will man den Menschen in der Unterschicht helfen, muss man massiv in Bildung investieren. Der Ausbau von Ganztagsschulen, kindliche Frühförderung und Sprachkurse sind die Mittel, um den Menschen den wirtschaftlichen Aufstieg zu ermöglichen. Der ideologischer Armutsbegriff nutzt noch nicht einmal zur Problembeschreibung, weil er keine realistische Problemlösungsstrategie ermöglicht.
Der Gedankengang ist nicht neu, aber immer wenn die Armutsdiskussion durch das Land zieht, macht es meiner Ansicht nach Sinn, einmal über unseren zweifelhaften und ideologischen Armutsbegriff und seine Konsequenzen nachzudenken.
„…Und was wäre, wenn alle in Deutschland nur eine Kaufkraft von 856 Euro zur Verfügung hätten? Nach der gängigen Definition von Armut gäbe es dann keine Armut mehr…“ (s.o.)
Diese Frage und diese Antwort sollte sich jeder Politiker in gut leserlicher Schrift (möglichst Fettdruck) auf den Schreibtisch legen.
Das grundlegende Problem der Definition von relativer Armut ist zweifellos richtig dargestellt. Nur bitte ich zu bedenken, dass Begriffe wie Armut oder auch Reichtum nur in Relation zur Gesellschaft am Ort und in der Zeit einen Sinn machen können. Verglichen mit einem Kuli in Kalkutta oder auch mit Karl dem Großen leben wir alle in Saus und Braus.
Auch der Vorschlag, sich auf die Unterschicht und deren häufig anzutreffende Bildungsdefizite zu konzentrieren, ist m.E. ganz vernünftig. Doch was ist mit der arbeitslosen Akademikerin, die ein Kind allein erzieht? Was ist mit der „Normalfamilie“, in der der Mann (mit Berufsausbildung) einem handwerklichen Beruf nachgeht, und die Frau sich um die drei Kinder kümmert?
Ob deren Probleme nun qua definitione wegdefiniert werden oder nicht: käme in den beiden von mir zitierten – und mir tatsächlich bekannten – Haushalten mehr Geld an, es würde nicht versoffen, sondern die Teilhabe- und Bildungschancen der genannten Kinder tatsächlich erhöhen.
@Werner: Der Akademikerin könnte mit besseren Betreuungsmöglichkeiten geholfen werden. Das gleiche gilt für den Handwerker: In einem Haushalt mit zwei Verdienern würde die Situation gleich besser aussehen. Tendenziell laufen wir auf einen massiven Fachkräftemangel zu, der den Wohlstand in diesem Land gefährdet. Daher sollte alles getan werden, um den Leuten eine Chance zu geben Arbeit zu bekommen: Bessere Betreuung, Qualifikation etc.
„Relativ arm ist nach EU Definition, wer weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Nettoeinkommens, in Deutschland aktuell 856 Euro, zur Verfügung hat.“
Dies ist nicht ganz richtig. Realtiv arm ist, wer weniger als 60% des mittleren Nettoeinkommens zur Verfügung hat. Entscheidender Wert hierbei ist der Median bzw. das Medianeinkommen und nicht das arithmetische Mittel (vulgo: Durchschnitt bzw. das Durchschnittseinkommen). Vorteil dieser Berechnungsmethode (anhand einer Ordinal- oder Rangskala) ist, das der Median relativ stabil bleibt gegenüber Ausreissern nach unten und nach oben, d.h. im konkreten Fall würde selbst bei Zuzug mehrerer Milliardäre nach Deutschland der Wert der relativen Armut sich nicht großartig verändern (wie häufig angemerkt von selbsternannten Experten). Das mag jetzt alles ein wenig nach Erbsenzählerei klingen, doch wer die Diskussionen darüber aufmerksam verfolgt, stellt fest, dass hier gerne Schindluder mit der Unwissenheit der Menschen getrieben wird, v.a. in Talkshows usw. .
Nix für ungut, ich wollte das einfach mal gesagt haben.
Ich habe genug Arme Menschen in Deutschland gesehen, um zu wissen, dass diese Debatte über „ideologische“ Armutsbegriffe akademisch überflüssig ist.
@David: Dann rede mal mit einem Sozialdezernenten über Armut. Die Diskussion ist alles nur nicht „akademisch“.
ja genau, wenn es um Armut geht, sollte man über die Definition reden. Das wird immer so gemacht. Natürlich immer unter Verweis auf die „absolute Armut“. Die wurde von ihren „Erfindern“ einmal kreiert, um auf die besondere Brutalität einer solchen Armut hinzuweisen. Inzwischen wird sie benutzt um immer die „relative Armut“ zu relativieren. Obwohl es ja vielleicht einleuchtend ist, dass das Fehlen einer Sache vom Stand der jeweiligen gesellschaftlichen Entwicklung abhängig ist. Gibt es nur Hütten fehlt keinem die Villa, gibts die Villa gibt es eine bessere Form das Wohnbedürfnis zu befriedigen als die Hütte. Wo kein Auto erfunden ist, fehlt dem Bahnfahrer nichts. Insofern ist Armut (wie Marx mal ungefähr gesagt hat), keine Frage der Sache sondern des Stands der gesellschaftlichen Entwicklung. Allgemein hat Hegel mal geschrieben, dass arm ist, wer die Bedürfnisse der bürgerlichen Gesellschaft hat, aber nicht die Mittel diese zu befriedigen. Aber da müßte man jetzt sicher wieder schwer darüber diskutieren, ob diese Bestimmung adäquat ist. Das übertrifft ja sogar noch den relativen Armutsbegriff!
will noch was sagen: Der neueste Hit ist ja nun, dass der Unterschicht Bildung fehlt. Da weiss der Hart IVler warum er arbeitslos ist. Wäre er nur länger zur Schule gegangen. Allerdings hapert das schon mal daran, dass per Beschluss des Staates ein bestimmter Prozentsatz ausgesondert wurde. Bis Pisa gab es ja das Argument „Begabung“ und dass die Selektion genau diesen Begabungsdifferenzen entspricht. Das ist halt etwas ins Wanken gekommen, weil andere Staaten ganz andere Selektionsergebnisse hatten. Und wenn der Hartz-IVer auf die Idee verfällt, studieren zu wollen, dann sagt ihm die Arge, dann gibts kein Hartz IV mehr. Hat der Hartz-IVer Pech gehabt. Und auch von den Gebildeten hört man, dass sie immer länger ihre Warteschleifen in Praktika verbringen oder irgendwo als Sachbearbeiter o.Ä. enden. Die Top-Unternehmensberatungen melden, dass ihre Auswahlkriterien versagen, weil immer mehr die Auswahlkriterien erfüllen. Wohl gemerkt: Sie sagen nicht, her damit, ihr erfüllt unsere Auswahlkriterien sondern ups, wir brauchen neue Auswahlkriterien. Dann hat Anna-Lena Pech gehabt. Und deshalb: Könnte es sein, dass einfach ein Verdrängungswettbewerb stattfindet? Von den besser Gebildeten zu den weniger gut Gebildeten. Wo früher der Meister saß, sitzt heute der Ingenieur. Und nur weil die „einfache“ Arbeit durch Maschinerie ersetzt wird, nimmt ja die qualifizierte Arbeit nicht zu. Wenn alle ihr Abitur haben, wer wird dann „verdrängt“? Ich wäre doch mal auf den Nachweis gspannt, dass mit steigendem Bildungsniveau auch die entsprechenden Arbeitsplätze entsprechend zunehmen.
Der relative Armutsbegriff ist durchaus sinnvoll, auch wenn er mit absoluter Armut nicht unbedingt was gemein hat. Gerade eine relativ
gute Gleichverteilug der Güter ist doch der Garant für ein recht friedliches Zusammenleben.
„Armut hat keine Wahl“, hat meine Oma früher immer gesagt. Und irgendwie trifft dies meiner Meinung nach immer noch genau auf den Punkt. So muss in Deutschland zwar kaum einer wirklich hungern, doch vieler (relativ armer) Leute Kinder haben weniger Wahlmöglichkeiten als die Sprösslinge wohlhabender Eltern.
Im Vergleich zu Kindern aus schwer gebeutelten Krisenregionen ist dies zwar nur ein relatives Problem – aber es ist trotzdem ein Problem. Dies kann man zwar immer relativ einfach relativieren – schließlich ist es immer schlimmer zwei Beine zu verlieren als nur eines – doch die Frage ist, wem dies etwas bringt. Genauer gesagt: Sind die Relativierungsversuche in der Armutsdebatte nicht bloß eine Ausrede, um nicht perfekten Zuständen den Anschein einer gewissen Unverbesserlichkeit zu geben? 😉
Wenn Schraven seine Erkenntnisse aus Erlebnissen mit „armen“ Menschen bezieht, und Laurin sich im Gegenzug auf einen Sozialdezernenten beruft, dann weiß man wie man diesen Artikel einzuordnen hat.
Das Drama der Armut ist nicht die Armut selbst. Es wird sie immer geben und sie ist immer nur als Verhältnis zum Reichtum zu definieren. Das Drama ist die imnmer geringer werdende Chance der Armut zu entkommmen bzw. sich aus ihr heraus arbeiten zu können.
Ein Kind aus armen Verhältnissen hat in Deutschland und nicht nur hier selbst bei überdruchschnittlicher Intelligenz nur eine kleine Chance durch Bildung als Erwachsene(r) zu einem durchschnittlichen geschweigen den zu einem hohen Einkommen zu kommen.
Dagegen hat selbst die größte Dumpfbacke aus wohlhabenden Verhältnissen ein 90% Garantie das weitere Leben finanziell gut über die Runden zu kriegen.
@ Arnold: Aus diesem Grunde müssen wir weg von der Elternförderung und hin zur Kinderförderung. Es bringt nichts, das Kindergeld um 20 € zu erhöhen oder arbeitslosen Eltern mehr Geld für den Lebensunterhalt zu geben. Eltern, die ihren Kindern bei den Hausaufgaben nicht helfen können, weil sie selbst keine gute Schulbildung haben, sind dazu nicht plötzlich imstande, nur weil sie 20 € mehr im Monat bekommen. Das Geld ist besser angelegt in Einrichtungen, die Kinder und Jugendliche besuchen. Mehr Erzieherinnen in Kindergärten für kleinere Gruppen, mehr und vor allem leistungsabhängig bezahlte Lehrer in Schulen für kleinere Klassen usw. Schön für Kinder wäre es auch, wenn ihnen beim Unterricht in der Schule mal nicht der Putz auf den Kopf fallen würde.
Dem sonst mor sehr gut gefallenden Themenspektren der Ruhrbaronen ist hier definitiv ein Griff ins Klo gelungen. Sollte ich hier nicht eine Ironie oder Post-Ironie überlesen haben, dann greift dieser Diskussion auf die alte Culture Of Poverty bzw. Underclass – Debatte zurück, demnach Armut in erster Linie ein Ergebnis kulturellen Mangels sei, was eben am besten zu lösen sei durch eine Aufhebung kulturellen Mangels, Erziehung/Pädagogisierung von Armen- und somit Individualisierung gesellschaftlich produzierter Problemlagen. Das wird m.E. den verschiedenartig sich überschneidenden Formen von Selektions,, Ein- und Ausschließungs sowie Zerfalls- und Prekarisierungstendenzen nicht gerecht. Ist es nicht vielmehr Ideologie anzunehmen, dass das Problem der Armut dauerhaft zu lösen wäre durch individuelle, persönliche Anstrengungen, in Zeiten, in denen durchaus gut Qualifizierte, gut gebildete Personen hin und wieder einkommensarm sind?