…oder wie lässt sich’s ohne Mitte auch gut leben
Weder Metropole noch Provinz
Das Ruhrgebiet spielt im nationalen und europäischen Rahmen eine urbanistische Sonderrolle irgendwo zwischen den oder jenseits der Kategorien Metropole und Provinz. Wahrscheinlich helfen diese beiden Urbanitätsmaßstäbe aber im Falle dieser Art von Stadtlandschaft überhaupt nicht weiter. Denn trotz nachholender soziokultureller Mittenbildung bleibt die Multipolarität ihrer Grundstruktur sehr wahrscheinlich auch die nächsten hundert Jahre erhalten. Zumindest was die vier „Hauptstädte" Duisburg, Essen, Bochum und Dortmund betrifft. Ebenso wird deren bandartige Aneinanderreihung unveränderlich bleiben. Einzig und allein ihr noch weiter gehendes Zusammenwachsen durch zusätzliche Bebauung ist – trotz wahrscheinlich abnehmender Bevölkerung – absehbar. Eine klassische Stadtmitte als urbanes Zentrum ist von daher selbst bei der verwaltungsmäßigen Zusammenführung aller Ruhrstädte zu einer Ruhrstadt nicht realisierbar und, wenn man die Besonderheit dieser Stadtlandschaft berücksichtigt , auch gar nicht wünschenswert.
Das Puzzle und der Dschungel
Hilfreicher zur Beschreibung dieser Realität sind da eher der Begriff des Puzzles und der des Dschungels. Urbanität setzt sich der Bewohner von Ruhr, sofern man eine Stunde Mobilitätszeit für eine Großstadt des 21. Jahrhunderts für durchschnittlich annimmt, jeweils nach seinen Bedürfnissen räumlich selbst zusammen, und das, in Ermangelung eines Zentrums, durch die Mobilität selbst. Es kann je nach Ausgangspunkt und Anspruch eine großes und sehr vielfältiges oder ein eher kleines und weniger vielfältiges sein. Fahren ist jedoch in jedem Fall die wesentlich Voraussetzung dafür, es zusammensetzen zu können.
Damit wird der Weg das eigentliche Medium der Urbanität. Die Ruhrstadt bleibt dabei das, was das Ruhrgebiet wahrnehmungsmäßig immer schon war: Ein Roadmovie. Etwas, was man nur in Bewegung begreifen und zugleich räumlich bewältigen kann.
Entscheidend für die Zukunft von Ruhr ist damit der Umgang mit der Mobilität selbst und das erst recht im Zeichen des Klimawandels. Ihre Steigerung ist, verbunden mit ihrer gleichzeitiger Ökologisierung, das Non Plus Ultra der kommenden Stadtentwicklung. Und genau hier kommt der Begriff des Dschungels ins Spiel.
Es gibt nämlich keine mir bekannte Agglomeration dieser Größenordnung auf der ganzen Welt, in dem Stadt und Land so eng ineinander verwoben und verschachtelt sind. Wer im Sommer einmal einen ganzen Tag durch das „grüne Meer“ geradelt ist, in dem ganze Städte fast komplett verschwinden begreift, dass es sich bei der Ruhrstadt nicht um eine Stadtlandschaft im übertragenen, sondern im ganz realen Sinne handelt. Das ist eine städtebauliche und vor allem sozialräumliche Qualität, nach der echte Metropolen dieser Welt trotz oder gerade wegen ihres andauernden Bevölkerungs- und Publikumserfolgs händeringend suchen. Nur, dass sie sie aus dem selben Grunde auf niemals in diesem Maße erreichen können, ohne dabei ihre angestammten Urbanitätsvorteile durch Dichte zu verlieren.
Die Ausbreitung der Wildnis in der Stadt
Neben dieser starken Verwobenheit von Natur und Stadt, die selbst in Zentrennähe Bauernhöfe und Weizenfelder zu ihren Landschaftsformen zählt, ist in diesem Zusammenhang ein Landschaftselement besonders hervorzuheben, das dem Dschungelbild auch in der realen Botanik und Physis sehr nahe kommt: das der Wildnis. Sie findet sich zum einen in immer noch fast unberührter Weise in den nicht besiedelten und der graduellen Versumpfung anheim gestellten Teilen des Emscherbruchs und zum anderen als "Industrienatur" auf den von der Produktion verlassenen Gebieten sowie auf den renaturierten Waschberge- und Müllhalden. Letztere sowohl in der "kulturalisierten" Form des Landschaftsparks als auch als "verbotene" Stadt der ungestalteten Brache. Diese noch nicht als Erholungsraum domestizierten und landschaftsgestalterisch ästhetisierten Gebiete sind , ähnlich wie die Sumpfgebiete des Emscherbruchs, im wahrsten Sinne des Wortes Stadtdschungel, ohne feste Wege und zum Teil sogar undurchdringlich.
Vertikale Landmarken und horizontale Ankerpunkte als urbanes Entwicklungskonzept
Leider versuchen Stadt- und Landschaftsarchitekten auch diese ganz besondere und besonders typische Seite dieser Stadtregion in ihrem Gestaltungswahn zu domestizieren und, wenn auch ökologisch unterfüttert, in eine Parklandschaft zu überführen. Dem ist auch in Anbetracht der kommenden Bevölkerungsschrumpfung Einhalt zu gebieten, denn genau in diesem Zusammenhang ergeben sich neue städtebauliche Chancen, die diese besondere räumliche Qualität der Ruhrstadt zusammen mit der Erweiterung und Renaturierung von Kanälen und Flussläufen zu vergrößern in der Lage sind.
Stattdessen bedarf es in diesem so erweiterten Dschungel vermehrt der eher vertikalen städtebaulichen Orientierungspunkte und der Attraktivierung der „Puzzle-Urbanität“ durch dezentrale „Clusterbildung“. Beim Ersteren hat die IBA Emscherpark durch ihr Landmarkenkonzept einen wichtigen Anstoß gegeben, den es fortzuführen und zu entfalten gilt. Beim zweiten Punkt könnte das Konzept der Dezentralen Zentralisierung weiter entwickelt werden. Dezentrale urbane Cluster können dabei zwar nicht über die Gesamtvielfalt eines Gesamtzentrums, jedoch über eine ausreichende Teilvielfalt und Mischung verfügen, die sich jeweils um ein spezielles Thema räumlich bündelt.
Wenn dazwischen das System des linienbezogenen öffentlichen Nahverkehrs ausgebaut und verstärkt mit dem flächenorientierten und hoch individualisierten Fahrrad kombiniert wird, könnte sich das ganze dann doch noch zu einer „Metropole neuen Typs“ auswachsen.