Die aktuelle Debatte um Cancel Culture wurde durch zwei Briefe, die weltweit für Aufmerksamkeit sorgten, ausgelöst: Unter anderem J. K. Rowling, Daniel Kehlmann und Margaret Atwood veröffentlichten Anfang Juli im amerikanischen Harper´s Magazin einen offenen Brief, in dem sie sich für eine freie Debattenkultur und gegen Redeverbote einsetzten. Kurz darauf folgte ein Text der „New York Times“-Redakteurin Bari Weiss, in dem sie, mit derselben Stoßrichtung, erklärte, warum sie für die Zeitung nicht mehr arbeiten könne.
Deutschland erreichte diese Debatte dann durch die zeitweise Löschung eines Textes von Dieter Nuhr auf der Seite der Deutschen Forschungsgesellschaft, für die es, schaut man sich Nuhrs Textes an, keinen nachvollziehbaren Grund außer einem daueraufgeregten Twittermob gab. Und dann ist da noch Ausladung der Kabarettistin Lisa Eckhart wegen des Vorwurfs des Antisemitismus durch das Festival Harbour Front in Hamburg. Ob der Vorwurf gerechtfertigt ist, darüber gehen die Meinungen auseinander. Gerhard Haase-Hindenberg kann ihn in einem Beitrag für die Jüdische Allgemeine nicht nachvollziehen, Sandra Kreisler in derselben Zeitung kann es. Eckhart sagt in Cicero:
„Ich habe, wie schon in anderen Nummern, einfach zwei Themen kurzgeschlossen. Einerseits die hemmungslose Anklageflut gegen Weinstein und zum anderen Antisemitismus. Ich habe schelmisch den Anklägern Antisemitismus unterstellt. Wie man das nun derart drehen kann, ist mir nicht ganz ersichtlich. Ebenso bei der Nummer, wo ich vorgeschlagen habe, Flüchtlinge aus Umweltgründen zu Fuß abzuschieben. Das ist mir auch so ausgelegt worden, dass es gegen Flüchtlinge sei. Tatsächlich aber war es ein Kurzschluss zwischen Abschiebung und dem privilegierten Spleen der Flugscham. All das liefert keine Antworten, doch dazu bin ich auch nicht da. Mein Anliegen ist es, das Publikum in seiner moralischen Selbstgefälligkeit zu verstören.“
Erfreulicherweise sind in den vergangenen Tagen mehrere Texte gegen die Cancel Culture und für mehr Offenheit in Debatten erschienen. Unerfreulicherweise wird als ein Beispiel für das Vordringen der Cancel Culture Achille Mbembe genannt, dessen geplanter Auftritt bei der Eröffnung der Ruhrtriennale zwar daran scheiterte, dass das ganze Festival wegen Corona abgesagt wurde, aber der es auch ohne das Virus kaum auf die Bühne geschafft hätte. Denn in NRW und Bochum werden BDS-Anhängern keine öffentlichen Räume zur Verfügung gestellt. In Mbembe ein Beispiel für Cancel Culture zu sehen, bedeutet allerdings nichts anderes, als eine Täter-Opfer-Umkehr. Denn es war Mbembe, der den Boykott israelischer Wissenschaftler und Künstler forderte und im Fall der israelischen Wissenschaftlerin Shifra Sagy sogar durchsetzte. Ihm und den anderen Unterstützern der antisemitischen BDS-Kampagne die – von Steuerzahlern finanzierte, um nichts anderes ging es – Bühne zu verweigern, bedeutet letztendlich nichts anderes, als Mbembe die eigene Medizin zu verabreichen und zu verhindern, dass künftig keine Israelis mehr auftreten können: BDS steht für Cancel Culture und ein Vertreter der Cancel Culture, ist Mbembe. Es ging bei der Forderung, Mbembe nicht die Eröffnungsrede der Ruhrtriennale halten zu lassen, nie um das, was Mbembe sagte oder schrieb, sondern um das, was er tat: Auftritte von Israelis verhindern.
Die einen werden gecancelt, weil sie etwas sagen, das anderen nicht passt, und andere, weil sie etwas SIND, das anderen nicht passt. Das ist der identitätspolitische Clou an der Sache: Nuhr, Eckhart und andere können ihre Meinung ändern oder behalten, Shifra Sagy kann meinen, was sie will, sie IST.
Und das ist, wie es war. Das Bild oben bebildert keine Cancel Culture, sondern BDS.