„Die Bundesregierung will den Menschen in der Türkei nicht helfen“

Sigmar Gabriel


Im April kündige Bundesaußenminister Gabriel an, Erdogan-Kritikern die Einreise nach Deutschland zu erleichtern. Ließ Gabriel den Worten Taten folgen?

Es war gut eine Woche, nachdem Recep Tayyip Erdoğan das Referendum in der Türkei knapp gewonnen hatte, das ihm mehr Macht gab als allen türkischen Präsidenten zuvor, als Bundesaußenminister Sigmar Gabriel (SPD) den Kieler Nachrichten Ende April ein Interview gab. Gabriel sprach davon, dass Deutschland im Umgang mit der Türkei wieder das Heft des Handelns übernehmen müsse, anstatt nur auf Erdogan zu reagieren. Und er hatte auch eine Idee, wie das gelingen könne: „Ich wäre dafür, gerade jetzt erleichterte Reisemöglichkeiten für die uns wichtigen Teile der türkischen Gesellschaft einzuführen – für Intellektuelle, Wissenschaftler, Studenten, Künstler, Schriftsteller, Journalisten oder auch Unternehmer, die in Deutschland und der Türkei unterwegs sind.“

Mehr als drei Monate sind seitdem vergangen und von erleichterten Möglichkeiten „für Intellektuelle, Wissenschaftler, Studenten, Künstler, Schriftsteller, Journalisten oder auch Unternehmer“ nach Deutschland einzureisen, hat der Kölner Rechtsanwalt und CDU-Kommunalpolitiker Ilias Uyar bislang nichts mitbekommen. Uyar hat zahlreiche Kontakte zu Dissidenten in der Türkei, die nach Deutschland wollen: „Es hat sich in den vergangenen Monaten nichts getan. Es gibt keinerlei Vereinfachung.“

Auf der Internetseite des Auswärtigen Amtes kann man nachlesen, wie kompliziert es nach wie vor für Türken ist, nach Deutschland einzureisen: Ein Recht auf ein Visum gibt es nicht, wer einreisen will, muss die „Plausibilität und Nachvollziehbarkeit des Reisezwecks “ darlegen und die „Finanzierung der Lebenshaltungs- und Reisekosten aus eigenem Vermögen bzw. Einkommen“ nachweisen können.

Viele der Türken, die Uyar betreut, sind deshalb nicht direkt nach Deutschland gekommen. Sie reisten über Griechenland oder die Niederlande ein: „Die Anforderungen, die man als Türke erfüllen muss, um für Deutschland ein Visum zu bekommen, sind nach wie vor sehr hoch.“ Und wer in Deutschland durch eine Einladung an einen türkischen Staatsbürger den Weg für ein Visum ebnet, geht ein hohes Risiko ein: Der Einladende muss eine Verpflichtungserklärung unterschreiben und bereit sein, für alle Kosten aufkommen. Dazu zählt auch eine eventuelle „Abschiebung, Zurückschiebung und Zurückweisung“.

Eines habe sich allerdings in den vergangenen Monaten getan, sagt Uyar: „Viele Städte verlängern stillschweigend die nur 90 Tage gültigen Visa, aber das tun sie im Rahmen ihrer eigenen Verantwortung.“

Auf Anfrage der Welt bestätigte das Auswärtige Amt, dass es keine der von Gabriel angekündigten Reiseerleichterungen gibt: „Für Visumerleichterungen oder –befreiungen im Bereich der Kurzaufenthalte liegt die ausschließliche Zuständigkeit bei der Europäischen Union, die seit Ende 2013 mit der Türkei einen Visaliberalisierungsdialog führt.“ Für die sogenannten „Schengen-Visa“ ist das richtig. Für „humanitäre Visa“, welche die Einreise in ein Land zur Prüfung eines Asylantrages ermöglichen, sind die Auslandsvertretungen der einzelnen Nationalstaaten ebenso zuständig wie für die Erteilung von Visa für Aufenthalte, die länger als die 90 Tage des Schengen-Visums dauern dürfen.

Das Auswärtige Amt verweist in seiner Antwort auf die mit der Alexander von Humboldt-Stiftung 2015 ins Leben gerufene Philipp-Schwartz-Initiative, die es ermöglicht, gefährdeten Wissenschaftlern einen zweijährigen Forschungsaufenthalt in Deutschland zu gewähren: „Von den insgesamt 69 Stipendiatinnen und Stipendiaten stammen 27 aus der Türkei, ab August 2017 werden weitere 40 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der Türkei ein Stipendium erhalten.“

Darüber hinaus erarbeite man derzeit zusammen mit „zivilgesellschaftlichen Akteuren in Deutschland“ Konzepte, um einen ähnlichen Mechanismus wie mit der Philipp-Schwartz-Initiative auch für gefährdete Journalisten und Kulturschaffende aufzubauen.

Von diesen Konzepten hat Ali Ertan Toprak noch nie etwas gehört. Toprak ist der Vorsitzende der Kurdischen Gemeinde Deutschlands und Präsident der Bundesarbeitsgemeinschaft der Immigrantenverbände, in der sich 13 Verbände aus elf Nationen zusammengeschlossen haben: „Wir wurden bislang nicht von der Bundesregierung angesprochen. Ich würde mir wünschen, dass sie auf uns zukommt. Wir arbeiten ja ehrenamtlich und helfen Menschen, die in Deutschland ankommen und würden uns gerne mit dem Staat an einen Tisch setzen. Wir sind ja Experten, weil wir beide Länder kennen.“ Wie Toprak hat auch Atila Karabörklü, einer der beiden Bundesvorsitzenden der Türkischen Gemeinde in Deutschland, nichts davon mitbekommen, dass das Auswärtige Amt den Kontakt zu Organisationen der Zivilgesellschaft sucht: „Ich habe keine Informationen über eine solche Initiative.“ Nach wie vor müssten Veranstaltungen mit türkischen Künstlern in Deutschland abgesagt werden, weil Visa gar nicht oder zu spät erteilt wurden.

Daran änderten auch die 10.000 Visa für Kulturschaffende aus der Türkei nichts, die in den ersten vier Monaten dieses Jahres erteilt wurden. Zumal nicht klar ist, ob die Visa, die bis zu fünf Jahre gültig sind, auch genutzt wurden. Sie machen ohnehin nur einen kleinen Teil der gut 200.000 Visa aus, die jährlich an Bürger aus der Türkei ausgestellt werden.

Ein türkischer Künstler, der es nach Deutschland geschafft hat, ist der Journalist und Autor Hayko Bağdat. Er hat armenische und griechische Wurzeln, was ihm das Leben in der Türkei zusätzlich zu seiner kritischen Haltung gegenüber Erdogan erschwert hat. Er sieht sich selbst nicht als Flüchtling: „Ich bin Zeit meines Lebens nirgendwohin geflohen bin. Ich bin nur an einen anderen Ort gewechselt, um Atmen zu können.“ Bağdat, der in der Türkei ein erfolgreicher Fernsehmoderator war, ist sich sicher, dass noch viele nach Deutschland kommen wollen, ja, müssen: „Jeder, dessen Pass noch nicht von Erdogan eingezogen wurde, sollte es versuchen.“ Bitter und voller Sarkasmus beschreibt er die Aufnahmebereitschaft Deutschlands: „Die Bürokratie ist manchmal derart zermürbend, dass man auf den Gedanken kommen kann, dass es besser wäre, zurückzugehen und im Gefängnis zu sitzen.“

Der Bundestagsabgeordnete Volker Beck (Grüne) ist nicht nur enttäuscht, dass Bundesaußenminister Sigmar Gabriel seinen Ankündigung von April keine Taten folgen ließ: „Die Bundesregierung ist noch nicht einmal bereit, die Möglichkeiten des geltenden Rechts auszuschöpfen. Türkische Oppositionelle, die kein Asyl beantragen wollen, erhalten oftmals keinen längerfristigen Aufenthaltstitel zur Arbeitsaufnahme, obwohl sie einen Job haben, wird keine Aufenthaltsgenehmigung erteilt. Die sollen oft wieder in die Türkei reisen, um von dort ein Visum zu Arbeitsaufnahme zu beantragen und dann wieder zurückzukommen.“ Was unter Erdogan extrem gefährlich sei. Auch Beck weiß, dass es Ausländerbehörden gibt, die ihre Spielräume nutzen: „Aber es gibt keine generelle Anweisung dazu, es gibt viele Behörden, die sich scheuen, die Spielräume entsprechend zu nutzen.“ Auf breiter Front geschehe überhaupt nichts, dabei sei es heute schon, nur mit dem politischen Willen und ohne die Änderung eines Gesetzes, möglich, Menschen aus humanitären Gründen aufzunehmen. „Ich habe das Gefühl, die Bundesregierung will der Opposition und den Menschen in der Türkei nicht helfen. Aus Angst vor Erdogan.“

Der Artikel erschien in einer ähnlichen Version bereits in der Welt 

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