Erhard Meyer-Galow war bis 1998 Vorstandsvorsitzender der Hüls AG und der Stinnes AG – dem Chemiezweig und der Handelstochter der damaligen VEBA und ist Honorarprofessor für Wirtschaftschemie. Unser Gastautor Leo D. Hoffmann hat sich mit Meyer-Galow über Ethik und eine sich schneller drehende Welt unterhalten, in der Leistung über alles geht.
Leo D. Hoffmann: Lieber Herr Meyer-Galow. Schön daß Sie Zeit gefunden haben. Ihre Vita lässt sich ohne Chemie nicht lesen: Sie sind Chemiker, waren bis 1998 Vorstandsvorsitzender der damaligen Hüls AG. Sie waren Präsident der Gesellschaft Deutscher Chemiker. Seit 2012 haben Sie eine eigene Stiftung, die Innovationen in der chemischen Industrie auszeichnet. Wie kam der Mensch Meyer-Galow zur Chemie?
Erhard Meyer-Galow: Ich hatte einen großartigen Chemielehrer in der Schule, der mich von der Chemie begeistern konnte. Mich hat die Umwandlung von Stoffen fasziniert. Ich bin sogar nachmittags dafür zusätzlich in die Schule gegangen und wir haben mit dem Lehrer Versuche gemacht. Die Faszination hielt über Jahre an. Da wurde mir klar, ich studiere Chemie und werde Chemiker.
LDH: Sie wurden Chemiker. Das „Werden“ in der Bezeichnung dieses Prozesses ist Ausdruck einer Veränderung. Gleichwohl kann man nur werden, was man vorher schon ist – so wie eine Statue schon im Marmor steckt, sofern man den unnötigen Marmor wegschlägt. Wie schaut der Chemiker auf seine eigene Veränderung?
EMG: Das ist eine sehr gute Frage. In der Chemie geht es ja um die Umwandlung – also Veränderung von Stoffen. Das Werden in der Chemie bildet aber nur ab, was in der ganzen Evolution, im Leben und der Umwelt um uns herum passiert. Mit der Chemie hat sich der Mensch dieses materielle Wissen nutzbar gemacht. Wenn ich früher bei Hüls – heute Evonik – auf dem Werksgelände vor den großen Reaktoren stand und mir vorstellte, wie die Moleküle darin herumfliegen und miteinander reagierten, dann hat das auch dazu beigetragen, daß ich auf andere Veränderungen in der Welt und auch auf meine eigene Veränderung geschaut habe. Je älter ich wurde, umso mehr wurde mir klar, daß „Transformation“ mein großes Lebensthema ist.
LDH: Wenn im Reaktor die richtigen Substanzen unter den richtigen Rahmenbedingungen zusammengebracht werden, haben diese Substanzen keine Chance sich der Verbindung zu entziehen. Es geht in der Chemie also um eine vorhersehbare Prognose, wie Stoffe sich verhalten. Der Mensch ist in seinem Verhalten und in seiner Entwicklung weniger vorhersehbar.
EMG: Das ist richtig. Der Mensch ist in seiner Entwicklung viel komplizierter als die Welt der Elemente. In der Chemie kann ich über die richtigen Rahmenbedingungen alles steuern. Beim Menschen kann der äußere Rahmen aber stimmen und er verhält sich trotzdem anders. Eine positive Veränderung beim Menschen kann daher nicht von außen, sondern nur von innen heraus vollzogen werden – durch inneres Wachstum. Ich habe das in meinem Arbeitsleben als Chemievorstand selbst erfahren und mich nun viele Jahre mit meinem eigenen Wachstum und dem inneren Wachstum des Menschen beschäftigt.
LDH: Wir haben uns heute verabredet, um über Ihr neues Buch zum Thema Wirtschafts-Ethik zu sprechen. Was bedeutet Ethik für Sie?
EMG. Ethik ist für mich ein Grundgerüst, ein System aus kumulierten Werten, die wir aufnehmen durch Erziehung, durch Bildung und durch Vorbilder. Daraus resultiert ein Entscheidungsrahmen, an dem wir unser Handeln ausrichten. Wir handeln – wenn wir gefestigt sind – nach dem, was wir ethisch für richtig halten. Das ist übrigens der Unterschied zu einer gesellschaftlich aufgezwungenen Moral: Ethik ist daher der Moral übergeordnet. Wenn ich beispielsweise in einen Supermarkt gehe und nicht stehle, weil da Kameras hängen, dann mag das moralisch richtig sein – aber es ist ethisch nicht gut. Stehle ich hingegen nicht, egal wie viele Kameras dort hängen, dann handle ich ethisch und moralisch gut.
LDH: Wie wichtig ist ethisches Handeln der chemischen Industrie?
EMG: Auch, wenn die Chemie für sich wertfrei ist, hat Ethik für die chemische Industrie eine immense Bedeutung. Ich möchte mal ein Beispiel geben. Wenn Sie Chlor herstellen, dann kann man damit Trinkwasser desinfizieren und somit Menschen vor Infektionen schützen. Sie können es aber auch als Kampfgas einsetzen – so geschehen im ersten Weltkrieg. Ein und das selbe Element kann moralisch oder unmoralisch eingesetzt werden. Das hängt von der Entscheidung des Anwenders ab. Das gibt der chemischen Industrie eine besondere Verantwortung, sich mit Fragen der Ethik zu beschäftigen.
LDH: Die Beschäftigung mit der Nutzung des Produktes ist aber ein Aspekt. Sicherheit und Ehrlichkeit in der Kommunikation sind empfindliche Stellen der chemischen Industrie, an denen das Ausmaß ethischen Managements sichtbar wird. Ich erinnere mich noch an den HOECHST Störfall in Frankfurt im Februar 1993. Damals wurde durch einen Unfall ein ganzer Stadtteil mit einer hochgiftigen Substanz kontaminiert. Höchst reagierte mit verharmlosenden Pressemitteilungen. In den Medien sahen wir aber Bilder des Reinigungseinsatzes von Spezialkräften mit gelben ABC-Schutzanzügen, die neben ungeschützten Fußgängern herumwerkelten.
EMG: Das war eine Zäsur für die chemische Industrie und der letzte Weckruf nach Bhopal und Seveso, das Thema Sicherheit und Umweltschutz ernst zu nehmen. Diese Unfälle sind ja nicht absichtlich passiert. Aber sie sind passiert, weil alle der Meinung waren, daß einfache Sicherheits-Mechanismen ausreichend sind im Umgang mit gefährlichen Stoffen. Heute sind wir viel klüger und wissen, daß in allen Prozessen der Mensch der größte Unsicherheitsfaktor ist, und wir daher mehrfach ausgelegte Sicherheitssysteme benötigen.
LDH: Was hat sich seitdem in der chemischen Industrie geändert?
EMG: Das hat die deutsche chemische Industrie grundlegend verändert. Zwei wesentliche Systemveränderungen möchte ich anführen. Erstens, die Annahme der Verantwortung durch das Top-Management. Denn erst durch das Heben der Umwelt- und Sicherheitsverantwortung auf die Vorstandsebene wurden die Sicherheitsmechanismen mehrfach ausgelegt: übrigens auf Kosten des Gewinns und in der festen Überzeugung, daß es richtig ist, hier auf Margen zu verzichten. Daher kann man hier zu recht von einem ethischen Entwicklungsschritt sprechen: Von einer Rechtfertigungs-Ethik hin zu einer Business-Ethik mit einer erkennbaren Berücksichtigung ethischer Komponenten in der Entscheidungsfindung des Unternehmens.
LDH: Dies ging als ‘Corporate Social Responsibility’ in eine Art unternehmerisches Gewissen über. Ein Management-Thema, daß aber auch alle anderen Branchen betraf. Heute ist die Finanzkommunikation großer Konzerne in dem Geschäftsbericht und CSR Bericht zusammengefasst. Was war das Besondere in der chemischen Industrie?
EMG: Die deutsche Chemie war in besonderem Maße in einer Krise. Sie müssen sich das so vorstellen, daß viele Produktionsstätten bis heute an Wohngebiete angrenzen. Dieser Störfall hat das Bewusstsein für die Gefahr in unsere Mitte – wenn Sie so wollen in die Fußgängerzone gebracht. Dadurch ist das passiert, was passieren musste: eine gedankliche Neuausrichtung unter Berücksichtigung ethischer Komponenten. Ich kann heute mit gutem Gewissen sagen, daß dies in der deutschen chemischen Industrie besonders gut funktioniert hat. Hier haben sich alle Beteiligten ins Zeug gelegt und nicht nur Lippenbekenntnisse abgelegt. Hier kommt die zweite Systemveränderung ins Spiel. Denn wir mussten lernen, völlig anders zu kommunizieren. Die dementierende Kommunikation hat in den Tagen dieses Vorgangs viel Vertrauensschaden angerichtet. Alles in allem war dies in Deutschland eine Entwicklung von einer Business-Ethik des Lamentierens und Kleinredens hin zu einer Berücksichtigung ethischen Denkens im Management. Oder – wie ich es in meinem Buch beschreibe von einer Business Ethik 1.0 zu einer Business-Ethik 2.0. Das war schon ein weiter Weg, aber wenn ich heute darauf schaue, reicht das noch nicht. Wir brauchen den nächsten Entwicklungsschritt: Eine integrale Wirtschafts-Ethik 3.0.
LDH: Bevor wir zu der von Ihnen angesprochenen „neuen Form“ der Wirtschaftsethik kommen, möchte ich bei dem Zwischenschritt stehen bleiben. Andere Industrien scheinen nicht so weit. Aus der weltweit größten Aluminiumhütte ALUNORTE in Brasilien sind erst vor wenigen Wochen rote Klärschlämme in einen Zufluss des Amazons ausgetreten. Erst hieß es: Völlig ungefährlich. Überlauf eines Klärbeckens durch Starkregen. Doch dann gab es Bilder von toten Fischen, die wir alle nicht sehen wollen. Heute ist klar, daß große Mengen starkgiftiger Substanzen durch ein unterirdisches Abwasserrohr austraten. Die Betreiber von NORSK HYDRO – nebenbei ein schwedischer Staatsbetrieb – bestritten von dem Rohr etwas gewusst zu haben.
EMG: Das sind entsetzliche Vorgänge, die alle nach dem gleichen Muster ablaufen. Erst wird geleugnet und dementiert und später das ohnehin nachgewiesene zugeben. Business Ethik 1.0 ist eben eine ausschließlich defensive Strategie, die der Frage nachgeht, wie man etwas abwiegeln kann. Das funktioniert heute natürlich nicht mehr. Solche Vorgänge zeigen auf, daß der Entwicklungsschritt zu einem verantwortlichen Handeln tatsächlich in vielen Industrien nicht abgeschlossen ist. Dafür muss man aber gar nicht bis nach Südamerika gucken. Nehmen Sie als Beispiel die Automobilindustrie in der gegenwärtigen Diesel-Affäre. Hier wurden Kunden und die Politik in den letzten Jahren absichtlich getäuscht, Gesetze übertreten und die Kontrollmechanismen mit Schummel-Software ausgetrickst.
LDH: Gibt es in der deutschen Automobil-Industrie kein ethisches Gewissen?
EMG: Das ist eine gute Frage und ich wüsste wer sie beantworten sollte. Fest steht so viel: Volkswagen war auf dem Papier eigentlich weiter als in einer Rechtfertigungsrhetorik stehen zu bleiben. Es gab ethische Richtlinien und niedergeschriebene Werte, mit denen das passierte nicht in Einklang stand. Ich würde daher Volkswagen schon eine Ethik 2.0 bescheinigen. Dennoch wurde jahrelang betrogen und nach den ersten Veröffentlichungen dementiert. In der heutigen deutschen chemischen Industrie wären solche Vorgänge absolut unvorstellbar.
LDH: Was wäre in der chemischen Industrie vorstellbar?
EMG: Da sind wir am Kern des Problems, wie ich es in meinem Buch beschreibe. Aufgeschriebene Worte und verfasste Richtlinien sind nutzlos, da sie das schwächste Glied: den Menschen außer Acht lassen. Gerät dieser unter Druck – und wir leben in einer Hoch-Zeit des Leistungsdrucks – so entscheidet der Mensch sich im Zweifel für Leistung & Performance: Also für den höheren Gewinn und gegen die Ethik.
LDH: Was wäre vorstellbar?
EMG: Schlagen Sie die Zeitung auf: illegale Preisabsprachen, Bilanzfälschung, Schmiergelder. Davon sind alle Branchen betroffen. Das sind eindeutig unmoralische Vorgänge, die jahrzehntelang als Kavaliersdelikte galten und heute noch regelmäßig stattfinden. Die Unmoral blüht. Und sie ist wie ein Eisberg: Man sieht nur ein Sechstel. Nehmen sie alleine das Thema Schmiergelder. Bis Mitte der 90er Jahre konnten Schmiergelder in Deutschland in der G&V als Kosten berücksichtigt werden. Gegen Ende der 90er Jahre mussten die Empfänger genannt werden und erst ab Januar 2002 sind Schmiergelder illegal. Bestechung beschädigt Märkte, schädigt die Verbraucher und ist in hohem Maße unmoralisch.
LDH: Sie schlagen in Ihrem Weg einen neuen Weg vor, der beim Individuum beginnt. Sie sagen wir brauchen keine ethischen Leitlinien für Firmen, Marken und Berufsgruppen sondern ethisch gefestigte Individuen. Ist das wirklich so einfach?
EMG: Es ist so einfach. Wenn wir die Veränderung in Gesellschaften, in Volkswirtschaften, in Unternehmen, in Teams und in Gruppen hinbekommen wollen, müssen wir beim einzelnen Individuum ansetzen. Anders funktioniert es nicht. Im Kern geht es doch um eine ganz einfache Frage. Warum verhält sich das Individuum, daß vielleicht 20 Jahre als Gutmensch in der Welt unterwegs war, plötzlich unter Druck unmoralisch.
LDH: Warum?
EMG: Carl Gustav Jung hat als Begründer der Tiefenpsychologie die Grundlagen zur Beantwortung dieser Frage geschaffen. Die christlich judäische Ethik, die uns zu Gutmenschen erziehen wollte, ist in die Sackgasse geraten. Parallel lief die Aufklärung, die das Denken – also die Ratio – in den Mittelpunkt stellte. Die Ratio ist ok. Das Ego ist auch ok. Aber Egoismus und Egozentrik bringen uns in den Konflikt mit der normativen Ethik. Was macht der Manager unter Druck, wenn er die Leistung nur bringen kann, wenn er Dinge macht von denen die Öffentlichkeit nichts wissen darf. Da gibt es zwei Mechanismen: Unterdrückung & Verdrängung. Er weiß also, daß es nicht richtig ist und unterdrückt es, aber es bleibt in seinem Bewusstsein. Oder noch schlimmer, weil er es dann gar nicht mehr weiß: er verdrängt das Fehlverhalten sogar. Beides geht in den Schatten, wie Jung sagt. Gerät der Manager nun unter Druck, dann übernimmt der Schatten die Regie. Die dunkle Seite steuert nun und nicht der Mensch. Dann machen wir Sachen, die wir gar nicht mehr unter eigener Kontrolle haben.
LDH: Wie kann der Mensch die Kontrolle zurückerlangen?
EMG: Wir müssen üben und versuchen einen inneren Weg zu gehen, die innere Instanz zu stärken, das Böse integrieren und eine Entscheidung treffen, die außen niemandem schadet. Es geht darum, die dunkle Seite, die wir alle in uns tragen anzunehmen und daran zu reifen. Für C.G. Jung ist das der Individuationsweg. Dies ist ein Weg, die Regie zu übernehmen. Die Mediation ist ein anderer Weg – ein spiritueller. Wir spüren doch, wenn die dunkle Seite die Kontrolle übernehmen möchte und uns in die Versuchung führt, unethisch zu handeln. Wir spielen oft in der Amateurliga, aber unsere dunkle Seite spielt Champions League.
LDH: Es ist kein Zufall, daß der Kampf zwischen der guten und der dunklen Macht nach „Krieg der Sterne“ und dem Helden Luke Skywalker klingt. Wussten Sie, daß George Lucas sich durch die Archetypik von Jung inspirierten ließ?
EMG: Ja, C.G. Jung ist wohl der Prophet unseres Jahrhunderts. „Die ganze Welt hängt an einem seidenen Faden und das ist der Mensch mit seiner Psyche! Und von der wissen wir viel zu wenig.“ Ob es Lucas’ Star Wars-Filme oder der Matrix-Zyklus der Wachowski-Brüder sind. Das sind tolle Filme mit einer klaren tiefenpsychologischen Botschaft. Über Bilder senden diese Geschichten die Annahme von Gut & Böse. Dabei wird ein archetypisches Muster bedient. Der junge Held, der in die Welt ziehen muss um gute und böse Erfahrungen zu machen. Die Lehre des Lebens ist die Vereinigung der Gegensätze. Letztendlich kommt er als holistisch gereifte Persönlichkeit zurück. Diesen Plot finden Sie in zahlreichen Geschichten aus allen Kulturkreisen, seien es die 3000 Jahre alten Upanischaden, das Gilgamesch Epos oder das Gleichnis vom verlorenen Sohn in der Bibel. Es geht immer um die Verirrung des Helden in der Krise und die Integration von Gut & Böse zum holistischen Ansatz. Aber heute sind ja Initiationsriten zum Erwachsenwerden abhandengekommen. Viele bleiben deshalb in ihrer kindlichen Sozialisation stecken. Sie sind aber in der Wirtschaft nicht so leicht zu erkennen, weil sie so schicke Anzüge tragen und sich hinter freundlichen Masken verstecken. Untrügliche Kennzeichen: Sie wollen ständig gelobt werden, sind schnell beleidigt und schuld haben immer die anderen. Und auch ein Mangel an Empathie und Kongruenz zwischen „Sagen“ und „Tun“ sind sichere Zeichen der Unreife.
LDH: Schauen wir noch einmal auf die dunkle Seite. Volkswagen musste eine Vorahnung gehabt haben, als sie 2012 einen TV-Spot zum Superbowl mit einem jungen Darth Vader produzierten. Lassen Sie uns doch mal mit dem Wissen von heute auf diesen gefallenen Helden schauen. Hat er eine Chance zum Wandel durch neu formulierte Ethik-Richtlinien?
EMG: Der Held braucht keine Ethik-Richtlinien. Er muss aufstehen und wissen, was zu tun ist.
Um nichts Anderes geht es in der Wirtschaft. Volkswagen hat eine große Chance aus dieser Krise so zu wachsen. Wenn wir das archetypisch betrachten, also auf den gefallenen Helden schauen, dann nutzen neue Ethik-Richtlinien nichts. Sie können die Krise nicht weg-managen. Sie muss angenommen werden als negative Erfahrung, um den anschließenden Reifeprozess zu ermöglichen. Der Held muss sich ja seiner Situation bewusstwerden. Es beginnt also mit der Achtsamkeit, dem Tor zu innerem Wachstum. Nimmt er seine Fehler an oder versucht er sie zu verdrängen und zu vertuschen. Sehen Sie: Wenn das Unternehmen zur höchsten Stufe seiner Reife kommt, dann handelt es aus sich heraus ethisch vorbildlich ohne äußere Moral-Leitplanken. Nebenbei ist ein Unternehmen, daß so agiert auch noch hoch kreativ, schafft Innovation aus Intuition und Inspiration. Davon bin ich fest überzeugt.
LDH: Woher nehmen Sie diese Überzeugung?
EMG: Schauen Sie nach Kalifornien: Thích Nhất Hạnh – einer der großen religiösen Führer unserer Zeit – berät Google. Zen-Meister arbeiten für Firmen in der New Economy. Diese Firmen kultivieren Achtsamkeit und Mitgefühl ihrer Mitarbeiter. Diese Firmen haben begriffen, daß die Arbeitswelt anders wird. Diese Firmen haben begriffen, daß Kreativität gespeist wird durch Intuition und daß Intuition fließen kann, wenn man sich nach innen wendet. Das Wort kommt ja vom Lateinischen Intueri: nach innen wenden. Daher muss ich meinen Mitarbeitern Raum geben für Achtsamkeit und Mitgefühl. Das Ergebnis: Die bekommen alle Elite-Studenten von den Universitäten. Die jungen Leute wollen alle so arbeiten. Work-Life-Balance ist das Modewort. Und sie arbeiten dort mit Begeisterung an allen Zukunftsthemen unserer Zeit: Glauben Sie mir das. Das ist die wesentliche Führungsaufgabe des Managements. Die Unternehmen müssen vorbildlich und sichtbar Raum für das innere Wachstum ihrer Mitarbeiter schaffen. Achtsamkeit, Gelassenheit und Mitgefühl sind das Ergebnis.
LDH: Das klingt ja erst einmal toll. Aber wenn wir aktuell auf Google, Facebook, Amazon & Apple schauen: Stehen diese Konzerne nicht für eine beispiellose Dimension globaler Machtkonzentration mit erheblichen Schattenseiten. Nehmen wir nur den Facebook-Skandal. Das können doch nicht die ethischen Leuchttürme unserer Zeit sein.
EMG: Das stimmt natürlich. Da sind die Unternehmen der New Economy ja offensichtlich weit davon entfernt, ethisch korrekte Unternehmen zu sein, wenn dort Daten geklaut werden und Kunden belogen werden, während die Mitarbeiter in ihren Büros meditieren. Aber man darf es natürlich auch anders sehen. Es ist ein Anfang. Ich habe mich mit Thích Nhất Hạnh darüber unterhalten und ihn genau das gefragt. Du arbeitest für Unternehmen, die ihre Marktmacht dermaßen missbrauchen? Und er hat mir genau das geantwortet: Es ist ein Anfang. Die jungen Menschen, mit denen man dort heute in Kontakt tritt, sind genau die Mitarbeiter, die in einigen Jahren die Kontrolle über diese Unternehmen übernehmen. Und sie werden dann auch dafür sorgen, daß das Unternehmen als Ganzes korrekt handelt. Unten vollzieht sich schon der Wandel vom heutigen mentalen Bewusstsein zum zukünftigen integralen Bewusstsein; oben noch nicht. Das ist übrigens auch der Grund warum ich mein Buch als „Student Text Book verfasst habe. Es sind doch die jungen Menschen auf die wir setzen müssen, die das schon begriffen haben. Dazu ein Beispiel: Bei Google haben sich 3.000 Mitarbeiter gegen Militärprojekte gewendet. Diese jungen Menschen wollen keine Egoisten, Trickser, Zocker & Betrüger als Chefs. Die Wisdom 2.0 Bewegung in den USA gibt mir daher sehr viel Zuversicht.
LDH: Wollen Sie uns zum Schluss noch verraten, was Ihr Buch von anderen Ethik-Büchern unterscheidet?
EMG: Es gibt so viele Ethikansätze von Autoren, die von Wirtschaft nichts verstehen. Ich schreibe aus meiner Erfahrung als CEO. Die von mir eingeforderte Business-Ethik 3.0 ist daher praxisorientierter und integral. Sie speist sich aus den Quellen der Quantenphysik, Tiefenpsychologie und der Weisheitslehren. Sie folgt der Sehnsucht einer jungen Generation, die sich für eine ganzheitlich ausgerichtete Welt engagieren möchte. Ich wünsche mir eine Wirtschaftsethik nach Hans Peter Dürr, die das Lebende lebendiger werden lässt. Wenn wir schon als Menschen in unsere Umwelt eingreifen, müssen wir sie besser machen, der Erhalt des Status Quo reicht nicht.
LDH: Lieber Herr Meyer-Galow. Ich danke Ihnen sehr für Ihre Zeit und wünsche Ihnen viel Erfolg mit Ihrem Buch.
Das Buch „Business Ethics 3.0: The New Integral Ethics from a CEO’s Perspective” erscheint am 22. Mai 2018 für 29,95€ im De Gruyther Verlag, Berlin.
"Verirrung des Helden in der Krise" – dieses rhetorische Geschwulst interessiert die Opfer eines Dirk Neupert, seines Zeichens Ex-Geschäftsführer der Dortmunder Envio und verantwortlich für den größten deutschen Umweltskandal der letzten Jahrzehnte, einen feuchten Dreck. Und Neupert selbst auch.
Also ich find's ironisch, dass der Interviewte die Tatsache, dass ein asiatischer Geistlicher einen amerikanischen Dienstleister für Datensammlung berät, als Beispiel für gutes Wirtschaften nennt. Ich kann mir vorstellen, dass die Angestellten dieses Dienstleisters sich bei der Arbeit wohlfühlen und dass die Beratung des Geistlichen dazu führt, dass sich der Dienstleister überlegt, womit es seinen Angestellten bei der Arbeit gut geht. Schwerer fällt mir die Vorstellung, dass das Zusammenleben der Menschen in Deutschland und die Bewahrung der Schöpfung dann besser fluppen, wenn in Deutschland Arbeitsverhältnisse wie bei amerikanischen Dienstleistern die Regel werden, nämlich keine festen Arbeitsverträge, unzureichende Krankenversicherung, keine Rentenversicherung, kein Betriebsrat, wenig Urlaub, kein öffentlicher Nahverkehr, keine freie Schulwahl, keine kostenlose Hochschulbildung.