Die EstNische (9): Schnee-Fall

Irgendwann wird Schnee zum logistischen Problem. Das Zeug will einfach nicht in der Erde verschwinden, sich ins Grundwasser verflüssigen, bleibt liegen. Es stapeln sich Haufen auf Straßenlaternen oder Zaunpfosten, abenteuerliche Konstruktionen, für die der Este nicht so das Auge hat.

Er schippt. Und schippt. Und schippt. Es schneit noch, er schippt. Es wird gleich wieder schneien, er schippt. Richtiger müsste ich schreiben, sie schippt. Bei meinen Spaziergängen durch die Schneewelt (->hier das Video) sehe ich Frauen, alte und jüngere, die zwischen den Haus- und Schneewänden dafür sorgen, dass wenigstens etwas Platz bleibt.

Gestern Nacht um drei waren es dann Männer, die ihren Transporter parkten, Werkzeug heraus holten, feixten und im Nachbarhof Eisplatten zertrümmerten, Schnee und Eis mit Schubwannen wegschoben oder auf einen zwei Meter hohen, zehn Meter, vier Meter langen Berg warfen. Heute sah ich Lastwagen, mit dem Schnee verbracht wird, sogar einen geschlossenen Lieferwagen, den Männer mit Schnee füllten. Ich weiß nicht, wohin sie ihn bringen, den Schnee, was sie damit machen. Lagern sie Wildbrett? Machen sie Bier? Wird der Schnee in einem Hangar mit Heizstrahlern einfach vernichtet? Ich habe etwas Angst. Aber letztlich heißt es: Wir oder der Schnee. Wer macht sich breiter?

Die Wege auf denen Menschen laufen können und Wagen fahren, werden enger, die Schneemauern dicker. Es ist ein Überlebenskampf. Und Monika war erst der Anfang. Es ist Mitte Dezember. In Estland nennt man den Sommer auch: zwei lausige Monate fürs Skifahren. Zwei! Meine Angst wird größer.

Andererseits, Tallinn leuchtet, das Eis glitzert, der Schnee weckt Schauma-Erinnerungen, als Schäume noch Träume waren und kein Nitrat, saure Böden, Weichmacher. Ich bin auf Zigaretten mit weißem Filter umgestiegen, um den Gesamteindruck nicht zu stören. Nur beim Rauchen aus dem Fenster unserer Nichtraucherwohnung, beuge ich mich nicht zu weit vor, schaue nicht nach oben, zu den mörderischen Eiszapfen, Damokles‘ Schwerter.

Ich sehe mich schon gepfählt, wie ich nach dem Schlag überkippe, das eisige Metall der Fensterbank greife, abrutsche, noch am Band eines Meisenknödels hänge, dann falle und verzweifelt versuche, in einem Schneeberg zu landen … Ich kann mir das gut vorstellen, weil ich es sah. Vor dem Schnee.

Nebenan stürzte einer vom Dach, als er die Dachrinne von Herbstlaub reinigen wollten, der Wasserstrahler blieb oben liegen, er stürzte sieben Meter auf das Pflaster. Ich hörte den Aufprall, sah wie der Dacharbeiter aufstand, die Farbe aus seinem Gesicht wich. Er saß im Kofferraum seines Kombis mit einer Decke umwickelt, von einer Nonne umsorgt und wartete auf den Krankenwagen, wimmerte, zitterte. Mein Fenster zum Hof.

Auf dem Platz vor dem Rathaus steht ein großer Weihnachtsbaum. Ein Typ aus Bremen verkauft deutsche Bratwurst (aus Tartu) und deutschen Glühwein (aus spanischem Rotwein). Abends stinkt er nach Wurst und ist trotzdem sauglücklich, weil die Geschäfte gut laufen. Auf dem Weihnachtsmarkt, mühsam frei geräumt von den Schneemassen, spielen sie wie zuhause „I’m dreaming of a white christmas“. Dann doch lustig.

* 2010, Ruhrgebiet ist Geschichte. Das kommmende Ding heißt Tallinn 2011, Geschichten von der Küste. Und ich bin dabei. Mit Geschichten vom Meer, der Stadt und diesem überhaupt ziemlich seltsamen Land am nordöstlichen Rande Europas.

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Rob
Rob
14 Jahre zuvor

Weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Schöne Impressionen mit einem schönen Song unterlegt. Ein schöner Artikel. Schön der Vergleich „Damokles’ Schwerter“. Ich bin froh, dass der Mann den Sturz überlebt hat, Mann-Mann-Mann.
Übers Neujahr schaue ich mir den Schnee aus der Nähe an, freue mich schon drauf.

David Schraven
Admin
14 Jahre zuvor

Schöne Geschichte. Hab sehr gelacht. 🙂

mimi müller
14 Jahre zuvor

Ja, eine wundervolle Geschichte, die ich an meinem Fenster zur (Dorf)-Strasse sitzend, gelesen habe. Draussen wildes Schneetreiben. Gleich werde ich den Schneeschieber holen und schippen und schippen und schippen… Und an Ihre Geschichte denken. Und die Frauen in Lettland…

mimi müller
14 Jahre zuvor

(Frau Müller lacht). Estland natürlich. Wenn ich auch tatsächlich an Lettland dachte…. Hallo Velga! (lol)

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