In seinem Buch „Die Europäer“ zeichnet Orlando Figes das Bild eines im 19. Jahrhundert moderner werdenden Kontinents, dessen Entwicklung erst der deutsche Nationalismus stoppt. Die Zeichnung der Lebenswege des russischen Schriftstellers Iwan Sergejewitsch Turgenew und dem Ehepaar Pauline und Louis Viardot, mit denen er ein Dreiecksverhältnis pflegte, beschreibt auch den Ausbau der Kunst zu einem Geschäft. Für die meisten Künstler war das eine Befreiung.
Es war nur eine kleine Schicht von reichen Adeligen, erfolgreichen Künstlern und zunehmend wohlhabender werdenden Freiberuflern und Industriellen, die im 19. Jahrhundert in einem Europa lebten, dass uns bekannt vorkommt: Die Menschen sprachen mehrere Sprachen, überwanden wie auch die Waren und Dienstleistungen immer häufiger die Grenzen der Staaten und fühlten sich immer weniger als Deutsche, Franzosen oder Russen, sondern vor allem als Europäer. Beschreibt Stefan Zweig in „Die Welt von gestern“ das kosmopolitische Europa der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, geht Figes noch weiter zurück: In im Zentrum seines Buches stehen die Biografien von Iwan Turgenew, dem seinerzeit erfolgreichsten russischen Schriftsteller und der Sängerin Pauline Viardot, der damals die Welt zu Füßen lag und die international ein Star war, wie es zuvor keinen gab. Der dritte im Bunde ist Louis Viardot, ihr Mann und ein Kunstexperte, ohne den Ausstellungen heute anders aussähen. Sie lebten mehr oder offen zusammen, eine leidvolle und trotzdem ungemein produktive Liebesgeschichte, in der sich alle gegenseitig halfen, inspirierten und stützen und das vom ersten Moment ihrer Begegnung an bis zu ihrem Tod.
Figes beschreibt, wie eine im Laufe der 19. Jahrhunderts eine Kulturszene, welche die nationalen Fesseln hinter sich ließ und Neugierig auf neue Bilder, neue Musik und neue Bücher war, erst an Boden gewann und dann immer mehr unter Druck geriert: Zum einen durch die Folgen des von Bismarck durch die Emser-Depeche provozierten deutsch-französischen Krieg von 18070/71, der zum Aufkeimen des Nationalismus führte, aber auch durch den Neid, die Missgunst und den Antisemitismus anderer Künstler. Das Richard Wagner dabei eine große Rolle spielte, überrascht kaum.
Figes zeigt aber auch, und darum geht es vor allem in diesem Artikel, wie sich die Kunstszene internationalisierte und kommerzialisierte. Das Aufkommen der Züge ermöglichte es erst Musiker, später ganzen Opernensembles, auf Tour zu gehen. Es entstand ein Markt für Sänger und Orchester, die sich nun europa-, ja zum Teil weltweit, denn auch die Dampfschifffahrt setzte sich immer mehr durch, die besten Angebote aussuchen konnten und mehr verdienten als zuvor: „Sobald sich die Eisenbahnlinien über den gesamten Kontinent zogen, begünstigten sie auch die internationale Verbreitung europäischer Musik, Literatur und Kunst, was zu einer Revolution auf dem Kulturmarkt führte. Ein Markt für künstlerische Werke hatte bereits im 18. Jahrhundert existiert, als sich eine öffentliche Sphäre in Form von Konzerten, Zeitungen und Zeitschriften, Privatgalerien und -museen entwickelte, durch die Schriftsteller, Künstler und Musiker ihre Abhängigkeit von mächtigen Gönnern überwinden und ihre Arbeiten einer breiteren Gesellschaft anbieten konnten.“
Der Zug ermöglichte die Entstehung eines kosmopolitischen Bewusstsein. Von den Reaktionären wurde er wegen seines demokratischen Einflusses bekämpft. Reisen, das sollte den Privilegierten vorbehalten bleiben, eine Idee, die auch heute wieder an Einfluss gewinnt. An den Bahnhöfen entstanden Buchhandlungen, in denen den Reisenden immer mehr preiswerte Bücher angeboten wurden. Ein Markt, der sich nur herausbilden konnten, weil die Zahl der Menschen, die lesen konnten, durch die Ausweitung des Bildungssystems im 19. Jahrhundert immer mehr zunahm.
Auch in der Musik änderte sich viel. Nicht mehr ein Programm nur für die alten Eliten sollte die Oper spielen: In der Julirevolution hatte man den Gedanken untermauert, dass das Theater als Geschäft betrieben werden und nicht der Staatskasse zur Last fallen solle. Die Opéra hatte trotz zunehmender Subventionen in den 1820er Jahren enorme Schulden angesammelt. Ihre privilegierte Stellung machte sie zur Zielscheibe für die liberale Opposition, die auch eine Erneuerung ihres konservativen Repertoires forderte.“
Opernmusik wurde, bis sie unter dem Einfluss von Wagner geriert, zum Pop des 19. Jahrhunderts. Die Hits der Opern wurden nachgespielt und erreichten Millionen Menschen, wenn auch zumeist in einfacheren Arrangements, die auf einem Klavier gespielt werden konnten. Das Klavier wurde in der Folge dieser Marktentwicklung zu einem industriell hergestellten Massengut, das sich immer mehr Haushalte leisten konnten. Und um die teuren Opern zu finanzieren, wurden ihnen zum Teil Spielbanken angeschlossen, deren Gewinne ihren Betrieb erst möglich machten.
Die Künstler entwickelten sich zu Unternehmern, verhandelten hart über die Höhe ihrer Gagen und Tantiemen, wechselten den Verlag, wenn ein Konkurrent mehr bot und begannen. sich um die internationale Vermarktung ihrer Werke zu kümmern.
Sie drängten auch immer stärker auf die Durchsetzung eine neuen Idee: Dem Urheberrecht, das ihre Existenz als Künstler erst möglich machte. „Nicht nur das Geld bewog Schriftsteller, sich energischer für ihr Urheberrecht einzusetzen. Vielmehr ging es ihnen auch darum, die Integrität ihrer Arbeit sowie ihr geistiges ebenso wie ihr wirtschaftliches Eigentum zu schützen. Dies nannten die Franzosen droit moral; der Begriff tauchte in den 1840er Jahren auf und definierte das Recht von Künstlern, die Kontrolle über Form und Inhalt ihrer veröffentlichten Werke zu behalten.“
Die Idee des Urheberrechts kam zuerst in der Französischen Revolution auf. Sie war revolutionär und modern, sie ermöglichte Künstlern ein von Gönnern und Zuschüssen unabhängiges Leben. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Jeder Angriff auf das Urheberrecht ist ein Angriff auf die Unabhängigkeit der Künstler.
Auch die Maler wurden durch die kommerzielle Revolution befreit. Über Jahrhunderte gab es keinen richtigen Markt für Bilder und Skulpturen. Sie waren Auftragsarbeiten, Adel und Kirche bestimmten, was hergestellt wurde. Zwar wurden Alte Meister seit dem 17. Jahrhundert vereinzelt auch von Privathändlern verkauft, doch ein kommerzieller Markt für zeitgenössische Kunst gab es erst ab den 1840er Jahren, als Privatgalerien den Kauf von Bildern ermöglichten, deren Verkauf die Kunsthochschulen ablehnten. Sie bevorzugten Historiengemälde, mythologische und religiöse Motive. Nun erst war der Weg frei für eine Kunstszene, wie wir sie heute kennen. Originale wurden Anlage- und Spekulationsobjekte und dass meisten Geld verdienten die Künstler mit Drucken ihrer Werke – die dank des technischen Fortschritts immer besser und preiswerter wurden.
Die drei Hauptpersonen in Figes Buch waren Menschen, die ihre Chancen in der sich wandelnden Kulturszene erkannten. Kosmopoliten, denen ihrer Unabhängigkeit wichtig war und die wussten, dass sie für diese Unabhängigkeit eine wirtschaftliche Grundlage brauchten. Alle drei, Turgenew und die beiden Viardots, hielten, wo immer es möglich war, Abstand zur Herrschaft und zum Staat und verließen sich auf ihre eigenen Leistungen. Dabei waren sie großzügig, unterstützten Freunde nicht nur finanziell, sondern auch dabei, mit ihrer Kunst Geld zu verdienen. Turgenew vermittelte für andere Schriftsteller Verlage, half bei Honorarverhandlungen und der internationalen Vermarktung. Am Erfolg Tolstois hatte er entscheidenden Anteil. Die Viardots veranstalteten in ihrem Haus Konzerte und halfen jungen Musikern und Komponisten. Alle drei waren sie auf ihre Leistung stolze, erfolgreiche und unabhängige Künstler. Mehr noch, sie haben durch ihr Leben gezeigt, was es heißen kann, Künstler zu sein.
Orlando Figes: Die Europäer, Carl Hanser Verlag, 2020