Den Saisonauftakt am Schauspiel Dortmund macht Murat Dikenci mit seiner ausverkauften Uraufführung von „Die Gerächten“. Von unserer Gastautorin Anna Schott.
Zuerst online, dann am Eingang in Form eines Flyers und zuletzt unmittelbar vor der Aufführung wird das Publikum über eventuelle Trigger der Inszenierung informiert. Ein aufgezählter Trigger lautet: „Polizeigewalt gegenüber Marginalisierten“, ob Polizeigewalt weniger triggernd ist, wenn sie Privilegierte trifft? Und ob man von einer guten Inszenierung sprechen kann, wenn sie keinerlei Trigger hat? Durch diese Belehrungen ein wenig voreingenommen gehe ich in den Saal. Es ist anfangs sehr dunkel und man hat Mühe sich zu orientieren. Man weiß nicht auf Anhieb, wie der Raum angeordnet ist. Allmählich merkt man, dass es keine Bühne gibt und die Darsteller mitten unter uns sind. Es ist immersiv, es gibt keine festen Plätze, man steht. Das Spiel der Darsteller ist intensiv, sie glänzen durch ihre Physis, das Spiel ist sehr körperbetont. Der Sound ist fett (wie Jugendliche sagen würden) und das Licht wird gekonnt eingesetzt.
Angelehnt an Camus‘ „Die Gerechten“ überlegen drei Postmigranten, wie es möglich ist die Gerechtigkeit in sein Gleichgewicht zurückzubringen. Was genau Gerechtigkeit ist und wie das Gleichgewicht bleibt diffus. Klar ist: es muss gemordet werden. Was man im Stück hört, lernt man auch in Antirassismusworkshops: die deutsche, weiße Mehrheitsgesellschaft ist ein monolithischer Block dem der ebenfalls einheitliche Block von marginalisierten Menschen gegenübersteht. Es gibt keine Schattierungen und kein Dazwischen, die Fronten sind klar. Deutschland muss „entgiftet“ oder ihm die Wurzeln gekappt werden. Opfer sind immer Migranten oder sogenannte PoCs.
Wie in der postmodernen Antirassismustheorie wird die ökonomische Ebene auch bei den „Gerächten“ außen vorgelassen. Dass die Eltern mehrere Niedriglohnjobs hatten? Rassismus. Es gibt Bürokratie und Polizei? Die Gründe dafür sind Rassismus und Sklaverei. Dass die Weiße Linke ihren Fokus auf den Klassenkampf hat? Findet man auch nicht gut, Rassismus ist viel schlimmer.
Im Ankündigungstext steht, die Gruppe stelle sich auch gegen Antisemitismus. Während des Stücks werden Zitate aus dem Off von KZ-Überlebenden eingespielt dadurch werden diese in direkte Verbindung mit dem heutigen Rassismus gebracht. Diese Nicht-Unterscheidung beziehungsweise Parallelisierung ist unzulässig und zeugt von gefährlichem Halbwissen. Den modernen Antisemitismus, der den industriellen Massenmord zur Folge hatte in direkte Kausalität mit dem jetzigen Rassismus zu setzen ist, um es milde zu sagen, verkürzt. Auch bleibt der heutige, nicht minder virulente Antisemitismus unerwähnt. Dabei gibt es genug Gruppen aus dem BDS- oder PFLP-nahen Umfeld oder Anschläge auf Synagogen, die mehr als nur „legitime Israelkritik“ sind. Auch der Fakt, dass es in Deutschland mehr türkische Ultranationalisten als Deutsche gibt bleibt unerwähnt, denn es würde die einfache Unterscheidung von „Deutsche böse, Ausländer Opfer“ stören.
Natürlich steht es jedem Künstler frei, seine Schwerpunkte zu setzen, wie er möchte und wenn der Antisemitismus der Nationalsozialisten ihm besser ins Stück zu passen scheint, dann ist das künstlerische Freiheit. Aber so reiht sich dieses Auslassen des gegenwärtigen Antisemitismus in das postkoloniale Narrativ ein, dass Juden durch die Gründung Israels ihren Status als Marginalisierte verloren haben, weiße Kolonialherren wurden und damit nicht mehr Opfer von Rassismus sein können.
Insgesamt haftet der Inszenierung auf Textebene der schale Beigeschmack an, dass nicht wirklich Rassismus oder Ungerechtigkeit als solche dekonstruiert werden sollen, sondern dass im spalterischen Gestus gegen die Deutsche Gesellschaft gewettert wird.
Es mag jetzt überraschend klingen, aber trotz dieser inhaltlichen Unzulänglichkeiten hat das Stück dank des großartigen Bühnenbildes und der guten schauspielerischen Leistung genügend Substanz jenseits des Textes, so dass man trotzdem einen kurzweiligen Abend haben kann.