Die Zeit der grünen Hegemonie ist vorbei. Neuer Optimismus statt der alten Angst sind nun angesagt.
Liest man den Artikel von Bernd Ulrich, dem stellvertretenden Chefredakteur der Zeit, der am Mittwoch veröffentlicht wurde, hat man das Gefühl, als ob hier jemand stellvertretend für ein ganzes Milieu, dessen Zentralorgan das Hamburger Wochenblatt ist, die weiße Fahne hisst: Ulrich rät den Grünen, die Ampel zu verlassen: „Finanzpolitisch wäre mit dem Ende der Ampel viel gewonnen, klimapolitisch wenig bis nichts verloren, personalpolitisch gäbe es Fortschritte und die für dieses Land nicht unwichtigen Grünen könnten auf neue Weise zu sich kommen und Wege aus der Zumutungslosigkeitsideologie ausprobieren.“ Was Ulrich den Grünen und Bundeskanzler Olaf Scholz vorwirft, ist, dass die Grünen nie ehrlich waren, wenn es darum ging, den Bürgern zu sagen, welche Opfer die ökologische Transformation erfordert, und dass Scholz immer dagegen gewesen sei, sie den Menschen zuzumuten: „Die Ideologie der Zumutungslosigkeit wird von den Menschen gerade in der Ökologie nicht geglaubt, weswegen die Grünen, denen das Thema wirklich wichtig ist, mehr als alle anderen stets im Verdacht stehen, den Menschen mehr abverlangen zu wollen, als sie öffentlich zugeben. Obendrein stimmt das auch noch.“
Was Ulrich verkennt: Ohne die Legende des ökologischen Umbaus der Gesellschaft ohne Opfer wäre nicht nur der Aufstieg der Grünen als Partei, sondern auch der des grünen Denkens, das fast alle Parteien übernahmen, zur hegemonialen Ideologie der Bundesrepublik undenkbar gewesen. Es war das Gebäudeenergiegesetz (GEG), erdacht von Habecks damaligem Staatssekretär Patrick Graichen, das diese Illusion zerstörte. Die Menschen rechneten nach und stellten mit Erschrecken fest, wie teuer der Umbau der Heizungssysteme für sie wird, egal ob Hausbesitzer oder Mieter. Und ihnen wurde auch klar, dass die Umsetzung des GEG nicht nur am Mangel an Monteuren und Wärmepumpen scheitern würde, sondern dass es reine Ideologie war, bei dem das Klima nur eine Nebenrolle spielte: Der Weiterbetrieb der im Frühjahr abgeschalteten drei Reaktoren hätte beim aktuellen Strommix mit 450 Gramm CO2 je Kilowattstunde 12,8 Millionen Tonnen CO2 im Jahr eingespart. Die Wärmewende mit ihrer Bevorzugung der Wärmepumpen sollte dagegen bis 2030 nur 10,5 Millionen Tonnen CO2 einsparen.
Dass auch die Verkehrswende vor allem Nachteile bringen würde, war schon vorher jedem klar, der einmal nachrechnete, wie lange der Weg zur Arbeit dauern würde, wenn er statt auf das Auto auf die Bahn nimmt – falls er überhaupt in der Nähe einer Bahnverbindung wohnt. Ulrichs Text zeigt, dass die Grünen Politik vor allem für die Ulrichs des Landes machten: Gutverdienende Akademiker in den besseren Vierteln der großen Städte, für die Verzicht keine Frage des Müssens, sondern eine des Lebensstils ist.
Noch vor einem Jahr erklärten Grüne in Gesprächen selbstsicher, dass die Hegemonie ihrer Politik und Kultur nicht nur den Erfolg der eigenen Partei beflügeln würde, sondern alle demokratischen Parteien zum Ergrünen bringen würde. Dafür gab es sogar ein historisches Beispiel: Nach der Gründung der Bundesrepublik wurden auch CDU und FDP mehr oder weniger sozialdemokratisch und zu Varianten der SPD. Nach einer kurzen, in ihrer Bedeutung für Deutschland überschätzten Phase des „Neoliberalismus“, die ab Mitte der 90er Jahre gut zehn Jahre anhielt, wurden dann die Grünen für alle anderen zu Role Models. Alles, wofür die Grünen eintraten, war nicht nur en vogue, sie schienen den einzigen gangbaren Weg in die Zukunft zu kennen: Erneuerbare Energien statt Kohle, Gas und Atom, eine offene multikulturelle Gesellschaft, in der Minderheiten endlich gehört werden, dazu natürlich ein Umbau der Landwirtschaft, der Ernährung, vieler Verhaltensweisen und der Arbeit.
Den neuen Menschen, der da geschaffen werden sollte, beschrieb der Soziologe Andreas Reckwitz in seinem Buch „Die Gesellschaft der Singularitäten“: Menschen, die nicht einfach nach Wohlstand streben, sondern nach einem besseren Leben, für die Konsum eine Möglichkeit ist, das eigene Verantwortungsbewusstsein mit dem Wunsch nach Abgrenzung zu verbinden: Manufactum statt Ikea, der teure Wein von dem Winzer, den man regelmäßig besucht, statt der Kiste Bier aus dem Getränkemarkt, und eine Arbeit, bei der es vor allem um Sinn gehen soll und das Geld, dessen Vorhandensein in mehr als ausreichende Menge vorausgesetzt wurde, keine entscheidende Rolle spielen sollte: Am besten etwas mit Kultur, Medien oder Wissenschaft und idealerweise weltweit vernetzt.
Man fühlte sich den Anywheres zugehörig, die angeblich überall auf der Welt Zuhause waren, nicht den Somewheres, die beruflich und privat an einen Ort gebunden waren. Natürlich war das alles eine Illusion, wie es überhaupt erschreckend war, dass Reckwitz seine Ausführungen ernst und nicht ironisch meinte: Für kaum jemanden aus dieser Schicht gab es tatsächlich die Möglichkeit, auch im Ausland zu arbeiten. Auf jemanden, der Teil der Kulturverwaltung in Neuss, Berlin oder Jena ist, warteten keine spannenden Aufgaben in New York, Tokio oder Rio de Janeiro, sondern höchstens die Fahrt mit dem Lastenfahrrad zum nächsten Biosupermarkt.
Besonders groß war die Arroganz dieses Milieus gegenüber der Arbeiterklasse. Der Zeit-Literaturchef Adam Soboczynski schrieb 2018: „Es gibt sie natürlich nach wie vor, aber sie sind unsichtbar. Keine satisfaktionsfähige Serie zeigt ihren Alltag (eher kommt eine krasse 4-Blocks-Unterschicht ins Bild), kein Werbespot würde sie zum Handlungsträger machen, niemand in meiner Akademikerschicht sieht sie noch als über die Dienstleistung hinausgehenden Bezugspunkt oder gar als Vorbild, nach dem man sein Leben ausrichtet. Sie sind nicht arm, sie sind nur unbedeutend und out.“ Das neue, grüne Zeitalter war natürlich postindustriell. Wohlstand war kein Thema mehr, erklärte Reckwitz 2017 in der Zeit: „Das Politische in der Spätmoderne kreist nicht mehr um Verteilungsfragen, sondern stark um kulturelle Fragen.“
„Das war natürlich Unsinn: Der Luxus, sich über Kulturfragen Gedanken machen zu können, wurde in Deutschland damals von einer seinerzeit noch boomenden Exportindustrie und ihren Beschäftigten erwirtschaftet. Niedrige Energiepreise sorgten dafür, dass die Wohnung warm und die Fahrt zur Arbeit oder der Wochenendausflug bezahlbar war. Die ideologisch grüne Transformationspolitik, die ja schon von Bundeskanzlerin Angela Merkel spätestens seit dem Doppelausstieg aus Kohle und Kernkraft betrieben wurde, sorgte durch steigende Energiepreise dafür, dass diese Basis des Wohlstandes zunehmend zerstört wurde. Der Überfall Russlands auf die Ukraine sorgte dann in der Folge für eine weitere, rasante Preissteigerung. So etwas kann ein Land durchstehen, wenn klar ist, dass es sich um eine Phase handelt, die vorübergeht. Krisen kommen vor. Aber mit dem GEG wurde den Menschen klar, dass die Zeiten nicht wieder besser werden, egal wie sich der Krieg entwickelt. Wäre den Menschen bewusst, wie sich die längst beschlossenen CO2-Steigerungen auswirken werden, würde das die Stimmung noch einmal deutlich drücken.
Ulrich hat Recht, Grüne Politik bedeutet ein Mehr an Zumutungen. Und das nicht nur im wirtschaftlichen Bereich: Durch die Politik der offenen Grenzen werden vor allem preiswerte Wohnungen knapp. Und es werden auch keine neuen günstigen Wohnungen mehr entstehen, denn Bauen wird auch durch die gestiegenen Energiepreise nie mehr günstig sein. Die vergangenen Wochen, in denen es in zahlreichen Städten zu antisemitischen Hassdemonstrationen kam, die vor allem von Zuwanderern mit arabischem Hintergrund ausgingen, dürften vielen die Illusion eines friedlichen und freundschaftlichen Zusammenlebens genommen haben. Der Soziologe Aladin El-Mafaalani sieht sogar das Ende des gesellschaftlichen Zusammenhalts: „Wenn man sich damit beschäftigt, was früher den gesellschaftlichen Zusammenhalt erzeugt hat, den Kitt der Gesellschaft, dann waren das im Schwerpunkt keine Werte.“ In der Entstehungszeit der liberalen Demokratien sei klar gewesen, dass die Bevölkerung eine gemeinsame Geschichte hatte, oft auch eine gemeinsame ethnische Herkunft, kulturelle oder nationale Traditionen, die sie verbanden, oder auch ähnliche religiöse Bekenntnisse, eine gewisse Ordnung, was Männer oder Frauen machen, und was die richtige Sexualität sei. Nicht auf alle Staaten hätten alle Punkte zugetroffen, aber doch immer mehrere von ihnen. „Das alles haben die Menschen weitgehend geteilt, auch wenn es immer schon emanzipatorische Bewegungen gab, Menschen, die dagegen waren, aber man hatte eine ganz große gemeinsame Basis.“ Die habe gesellschaftlichen Zusammenhalt erzeugt und viele verschiedene Konfliktfelder beruhigt. „Alles, was ich beschrieben habe“, sagt El-Mafaalani mit Blick auf die modernen westlichen Gesellschaften, „trägt heute nicht mehr. Wir können nicht mehr sagen, dass wir eine gemeinsame ethnische Herkunft, ein gemeinsames religiöses Bekenntnis oder auch nur tragfähige kulturelle oder nationale Traditionen oder ein klares Geschlechterverhältnis haben.“ Alles, was er aufgezählt hat, sei heute weitgehend durch emanzipatorische Bewegungen bekämpft worden: „Das, was einen Großteil des gesellschaftlichen Zusammenhalts erzeugt hat, wurde durch Liberalisierung und Emanzipation abgeschwächt.“ Dazu muss man wohl, was El-Mafaalani nicht sagt, auch die Offenheit für Zuwanderung zählen. Und auch der letzte Kitt bröckelt.
Das Versprechen früher wäre gewesen: „Wir sind eine Wachstumsgesellschaft und am Wachstum werden alle teilhaben.“ Das war ein Zukunftsversprechen, das zurzeit immer weniger gelten würde. Für die Gesellschaft sei das ein Problem: „Wir haben kaum noch vergangenheits- und zukunftsorientierte Bindekräfte.“ Nach den langen Jahren der Hegemonie grünen Denkens, der in seinem Gefolge sich ausbreitenden postmodernen Theorien, die den Westen und die Aufklärung denunzierten und zu einem Kulturrelativismus führten, für den das Individuum, die Menschenrechte und die Naturwissenschaften nichts anderes mehr waren als Konstrukte einer bösartigen Bande Weißer, geschaffen, um die Welt auszubeuten und zu unterdrücken, muss nun die Frage beantwortet werden, wie die Trümmer dieser Ära beseitigt werden. Der erste Schritt wird in einer Selbstvergewisserung bestehen müssen: Die europäische Kultur, geprägt durch Christentum und Aufklärung mit Wurzeln in der griechischen und römischen Antike und Impulsen aus dem Judentum, ist nicht der Paria auf dieser Welt. Sie hat fast alle bedeutenden Erfindungen hervorgebracht, dazu den Rechtsstaat, die moderne Medizin, die Demokratie und den Kapitalismus. Bewegungen wie den Nationalsozialismus hat sie unter großen Opfern und der allzu oft vergessenen Hilfe von Menschen aus den damaligen Kolonien erfolgreich niederbekämpft. Es gibt viele Gründe für den Westen, sich mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen. Gründe zu glauben, er sei strukturell bösartiger und grausamer als andere Gesellschaften gibt es nicht.
Dann muss sich unsere Gesellschaft fragen, wie sie leben will. Die Antwort darauf ist, folgt man den Umfragen, einfach: frei, sicher und im Wohlstand in einer Umwelt, die nicht vom Untergang bedroht ist. Folgt man dem Soziologen Steffen Mau, einem der Autoren des Buches „Triggerpunkte“, ist die Gesellschaft in Deutschland nicht polarisiert; die meisten Menschen sind gegenüber Minderheiten tolerant und aufgeschlossen und leugnen nicht den Klimawandel. „Die Einstellungen zu Armut und Reichtum, zu sexueller Diversität, zur Migrations- und zur Klimafrage driften nicht auseinander“, sagte Mau im Gespräch mit dem Spiegel. Allerdings würden sich bei allem ökologischen Umbau die Menschen vor allem mit einem geringen Einkommen fragen: „Kann ich mir das leisten?“ Bis zum Urteil des Verfassungsgerichts zur Finanzierung des „Klima- und Transformationsfonds“ wollte die Ampel diese Frage mit Schulden beantworten. Künftige Generationen hätten dann für die Bewahrung des sozialen Friedens gezahlt. Dieser Weg ist nun zum Glück versperrt.
Pragmatismus ist gefragt, nicht das ideologische Denken, für das die Grünen und ihre Anhänger stehen, die zu Andersdenkenden, wie die Zeit berichtete, weniger Kontakte haben als muslimische Zuwanderer. Ulrich hat es gut erkannt: Die Zeit der Seinigen ist vorbei. Bei der Energiegewinnung wird das Land auf Technik und nicht auf Verzicht und den Wunderglauben an ausreichenden günstigen Strom aus Wind und Sonnenkraft setzen. Es wird eine Renaissance der Kernenergie geben; es muss mehr naturwissenschaftliche Forschung geben, auch in Bereichen wie Kern- und Gentechnik. Und es muss ein Konsens hergestellt und durchgesetzt werden, was das Zusammenleben mit Zuwanderern betrifft: Mit wem will man zusammenleben, und welche Anpassungen erwartet man? Die Frage ist nicht ethnisch zu beantworten, sondern politisch und kulturell: Wer vom Kalifat träumt, Jagd auf Juden macht und diese Gesellschaft und ihre Regeln verabscheut, wer von Freiheit, Demokratie und Aufklärung nichts hält, hat in diesem Land nichts zu suchen. Warum sollte man zu den schon vorhandenen radikalen Idioten, die Deutschland traditionell in großer Zahl hervorgebracht hat, noch zusätzliche importieren?
Globale Probleme wie der Klimawandel müssen global und mit modernen Technologien gelöst werden. Die Menschen des globalen Südens sind, was ihre Erwartungen an das Leben betrifft, nicht anders als die des Westens: Wohlstand, Sicherheit, eine gute Zukunft für die Kinder, eine schöne Wohnung, iPhone und ein Auto – die Wunschzettel unterscheiden sich nicht großartig. Das Ziel muss sein, die Wünsche wahr werden zu lassen. In den vergangenen 200 Jahren wurden durch den politischen, technischen und wirtschaftlichen Fortschritt die Wünsche von Milliarden Menschen wahr. Nie war die Armut geringer als heute. Die grüne Ideologie war eine Ideologie der Angst. Die grünen Fesseln lösen sich. Es ist Zeit für Zukunftsglauben, Optimismus und Tatendrang. Legen wir los.
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