Im Jahr 2023 kommt es zu einem europaweiten Ausbruch antisemitischer Kundgebungen und Proteste. Die Gründe dafür sind vielfältiger Natur. Die identitätspolitische Linke muss dies als herausragenden Erfolg verbuchen, da sie in völliger Naivität und maßloser Blindheit über Jahrzehnte die Grundlage hierfür mitgeschaffen hat. Weitreichend medial mächtig und kulturell fest verankert äußert sie sich seit drei Wochen vielsagend schweigend.
Angesichts der endlosen Vielzahl an Beispielen muss man regelrecht von Vorsatz sprechen. Einige persönliche Episoden dessen sollen hier beschrieben werden. Der nachfolgende Text beinhaltet viele subjektive Eindrücke und Erfahrungen eines Jungen aus dem Ruhrgebiet. Ich bin in Kamen aufgewachsen und in Unna zur Schule gegangen, studiert habe ich in Dortmund. Genau genommen an der TU, in Dorstfeld, dazu später mehr.
Zur Schulzeit gehörte es zum guten Ton, dass man links war. Gefühlt waren alle links, da rechts qua Definition böse war. Anfreunden konnte ich mich damit nie. Ich empfand linke Ideen als genauso utopisch und weltfremd, wie rechtes Gedankengut. Eine Trennschärfe zwischen rechts, konservativ und rechtsextrem gab es in der Schulwelt der frühen 2000er Jahre nicht, auch nicht am Gymnasium. Rechts, das waren die Nazis und wer gegen Nazis aktiv war, war in der Antifa aktiv (verkürzt formuliert, da die Antifa keine geschlossene Organisation ist). Ich war häufig genug bei Treffen von Antifa-Mitgliedern, ein enger Schulfreund stand später mehrfach vor Gericht. Er hatte es mit der Linksradikalität etwas übertrieben.
Ich bezeichne mich seit jeher als Antifaschist. Ich finde den Gedanken des Faschismus abstoßend, Kollektivismus empfinde ich als bedrohlich. Aber in der öffentlichen Lesart und im Selbstverständnis war klar, dass Antifaschismus links ist. Historisch ist das völliger Unsinn. Mehr noch zählten in den 1920iger Jahren beispielsweise Liberale zu den ersten Opfern der Faschisten. Es ist aber auch der Grund, weshalb ich mich mit „der Antifa“ nie anfreunden konnte. Mir fiel früh auf, dass es gute und schlechte Nazis gab und der im Brustton der Überzeugung getragene Antifaschismus eigentlich nur ein Vehikel war, um linksextreme Politik gesellschaftsfähig zu machen und vor allem: Deutschland zu zerstören. Deutschland war das zweitliebste Feindbild, das ultimative Böse, vertreten durch das Lieblingsfeindbild, „die Nazis“. Dahinter stand auch eine gesellschaftliche Utopie, die solidarische, gleiche Gesellschaft, die bunte Welt, in der alle supertolerant und progressiv sind. Schnell wurde mir klar, dass die Gruppierung keine Überzeugung teilte, sondern politische Ziele verfolgt und kollektiv klare Vorstellungen davon hatte, welcher Ideologie die eigenen Mitstreiter treu ergeben sein müssen. Politisch Andersdenkende konnten schon per Definition keine Antifaschisten sein.
Diese Eingrenzung war und ist zwingend notwendig, da man sonst selbst zum Ziel des eigenen Engagements werden müsste.
Guter Nazi, schlechter Nazi
Ich kann nicht sagen, wann ich das erste Mal mit antisemitischen Verschwörungstheorien in Kontakt gekommen bin. Sehr wohl aber ist mir eine Situation bis heute präsent. Ich war bei meinem damaligen Lieblingsdönermann in Kamen, ein gesprächiger Kerl, etwa 50 Jahre alt. Wir unterhielten uns über alles, Sport, Politik und dann kam die zweite Intifada im Herbst 2000. Ich war gerade 13. Er überlege in den Nahen Osten zu gehen, um dabei zu helfen die Juden auszulöschen, die alle Muslime umbringen wollten. Es folgten lange und ausführliche Erklärungen, welche Machtstrukturen die Juden hätten und welche boshaften Ziele sie verfolgten. Vieles davon sollte ich in späteren Jahren erneut hören. Die City of London, der Weltzionismus, die Weisen von Zion, das ganze Programm.
Ich unterhielt mich am Abend mit meinen Eltern darüber. Meine Eltern hatten diesbezüglich einen klaren Kompass: Das sind Lügen. Den genauen Wortlaut habe ich nicht mehr im Kopf, wohl aber, dass sie nicht erfreut über das waren, was man ihrem Sohn da erzählt hatte. Ähnlich verhielt es sich bei meinen Großeltern. Mein Großvater war Ingenieur, ich kannte ihn immer nur als ruhigen, reflektierten Mann, der nie zu viel und vor allem nie unangebracht sprach. Ging es um die NS-Zeit oder Antisemitismus, dann wurde er, das fiel mir mit zunehmendem Alter immer mehr auf, scharf und kompromisslos. Er war sehr deutlich: Der Nationalsozialismus ist das Böseste, was jemals aus Deutschland kam.
Das Internet gab es noch nicht in der Form, entsprechend konnte ich nur die Mosaiksteine aus Erzählungen meiner Eltern, Großeltern und der Schule zusammensetzen. Mein Eindruck war: Das gleicht doch in der Logik und Konsequenz dem, was die Nationalsozialisten über die Juden erzählt haben. Kann es etwa sein, dass es nicht-deutsche Nazis gibt? In die Utopie einer schwarz-weißen Welt, in der „das Deutsche“ maximal böse ist und alles andere bunt und positiv passte das nicht.
Es sind Episoden wie diese, die sich über die nachfolgenden Jahre stetig mehren und wiederholen sollten. Beim Fußball, an der Universität, im Berufsleben.
Und noch eine Sache wiederholte sich: Sprich es bloß nicht an. Auch hier erinnere ich mich an eine Episode aus der Schulzeit. Wir diskutierten über Nazistrukturen in Dortmund, insbesondere in Dorstfeld und ich erwähnte, dass man auch muslimische Nazistrukturen im Blick haben müsse. Eiseskälte: „Daniel – verrennst du dich da gerade? Das ist rechtsextremes Gedankengut.“ O-Ton. Dass die RAF mit Antisemiten und Faschisten paktiert hat, die DDR Nazis finanzierte und zahlreiche „große linke Vorkämpfer“ glühende Antisemiten waren, völlig egal. Für den deutschen Antifaschisten war es damals en vogue, mit einem Palästinenserhalstuch rumzurennen. Die Hamas war da seit über 10 Jahren prägende Kraft in den palästinensischen Autonomiegebieten. Die Avantgarde des Multikulturalismus, ausgestattet mit dem Halstuch einer Partei, deren Leitwerk es in Rhetorik und Duktus spielend mit „Mein Kampf“ aufnehmen kann. Bunt.
Nazis sind aber eben Deutsche, haben Glatze, sind im Schnitt wirklich nicht besonders von der Natur mit Intelligenz gesegnet und wer etwas anderes behauptet, ist tendenziell auch ein Nazi. Ich hatte mich nicht verrannt. Es waren Nazis, wie es heute auch Nazis sind. Es waren nur die falschen Nazis. Die richtigen Nazis, das sind die aus Dorstfeld. Es ist subjektiv. Ich habe in meinem Leben antisemitischen Müll auch von Deutschen gehört, Plattitüden, Stammtischblödsinn und auch genügend Aussagen, die sicherlich strafrechtlich relevant gewesen wären. Das absolute Gros aber kam von Menschen aus dem muslimischen Kulturkreis. Und es war in der Regel deutlich intellektuellerer, strukturell weitreichender in Verschwörungstheorien eingebundener und gefestigterer Antisemitismus. Es waren keine Plattitüden, sondern inhärent logische und begründete Zusammenhänge – sofern man eben die zugrundeliegende Ideologie anerkennt und glaubt.
Ähnliche Reaktionen folgten immer wieder, wenn man beispielswiese darauf verwies, dass in Deutschland eine regelrechte Generation von Antisemiten heranwächst. In Stadtteilen mit bereits heute mehrheitlich muslimischer Bevölkerung führt dies erkennbar und zunehmend zu Parallelgesellschaften, die alles sind, aber nicht demokratisch und multikulturell, bunt, solidarisch oder inklusiv. Eine rechtsextreme Verschwörungstheorie, nachfolgende Generationen würden das multikulturelle westliche Weltbild in jedem Fall übernehmen. Geburten-Dschihad wurde 2018 sogar als Unwort des Jahres vorgeschlagen, um zu unterstreichen, wie absurd der Gedanke sei.
Zeitensprung. 2023, bei einer Anti-Israeldemo in Düsseldorf droht ein Redner dem Oberbürgermeister: Ändern Sie Ihren Kurs, sonst kommen wir jede Woche. 30 % der Kinder in Düsseldorf sein bereits Muslime. Klare Ansage: Die Zeit spielt gegen das judenfreundliche Deutschland. In Großbritannien kommt es seit 2014 wiederkehrend zu öffentlichen Diskussionen, dass Islamisten Schulen unterwandern und qua Masse Einfluss auf das Curriculum nehmen. Juden, Homosexuelle, die Evolutionstheorie. Es sind nur die ersten Opfer eines Gedankengutes, in dessen Fokus nicht weniger steht, als der Kampf gegen die Aufklärung selbst.
Was mir damals noch nicht klar war: Genau dieser Ansatz sollte die Basis für identitätslinke Ideen und Pfade werden, die zum heutigen, katastrophalen Ergebnis mitbeigetragen haben. Die Linke benötigt ein Feindbild, das Feindbild ist „der Nazi“. Während es Anfang der 2000er Jahre insbesondere im Ruhrgebiet und fokussiert in Dortmund tatsächlich noch echte Nazis gab, ich habe SS-Siggi noch selbst völlig ungestört durch die Straßen schlendern sehen, dünnte und starb die Nazi-Szene immer weiter aus. Auch Drohungen habe ich seit geraumer Zeit nicht mehr gehört. Drohungen von Nazis habe ich mehrfach bekommen, insbesondere mit geschmacklosen Witzen über Nazis und offenkundig abfälligen Äußerungen machte man sich im Ruhrgebiet der frühen 2000er nicht überall beliebt. Über deutschnationale Gefühle kann man heute nach Belieben Witze reißen. Aufpassen muss man hingegen bei religiösen Gefühlen. Unsichtbare Freunde, das ist kritisch.
Im Osten der Republik mag die Situation eine gänzlich andere sein, im Westen sind „die Nazis“ eigentlich nur noch eine unbedeutende Randnotiz. Das macht das Engagement gegen deutsche Faschos nicht falsch, im Gegenteil. Der Kampf gegen Glatzen ist und war sehr löblich und ich teile diesen Kampf aus tiefster Überzeugung. Es ist aber auch seit jeher Leitbild der Identitätslinken, wirklich jeden in die eigenen Reihen zu integrieren, der irgendwie „gegen das Establishment“ ist. Verbrüderung, der Feind meines Feindes, wird schon irgendwie passen, man vertritt irgendeine gemeinsame Linie. In den vergangenen Wochen konnte man die Früchte dieses völlig naiven und unreflektierten Umgangs sehen. Black Lives Matter, Fridays for Future, die Kooperation zwischen Jusos und Fatah-Jugend. Antisemitisches Engagement, medial hochpräsent, in der Mitte der „progressiven Linken“. Die Absurdität zeigt sich auch darin, dass regelmäßig im Zeichen des Multikulturalismus und der Vielfalt als Verteidiger von Gruppen aufgetreten wird, die ihrerseits Vielfalt und Freiheit verteufeln. Gerade die politische Linke trat beispielsweise über Jahrzehnte bevorzugt als Verteidiger von Schwulen- und Lesbenrechten auf. Erst Ende Mai 2023 stellte der Verfassungsschutz (erneut) fest: Es gibt eine erhebliche Zunahme islamistischer Propaganda gegen queere Lebenseinstellungen. Kurzum: Wer schwul ist und muslimisch hat ein erhebliches Problem.
Neue Nazis mussten her. Je mehr, desto besser für das eigene Selbstwertgefühl. Anstatt nun aber den folgerichtigen Schritt zu gehen und islamistische, faschistoide Strukturen anzugreifen, ging man den bequemen Weg. CDUler, FDPler, jeden, der nicht die absolute Klimaapokalyse an die Wand malt und natürlich alle, die Zweifel daran hatten, dass es eine gute Idee ist, Menschen mit offenkundig antisemitischen Einstellungen im großen Stil nach Europa zu lassen. Die Lichtgeschwindigkeit ist nicht mehr die maximal mögliche Geschwindigkeit. Übertroffen wird sie von der Zuweisungszeit in „die rechte Ecke“. Bequem war das, da aus der „großen rechten Ecke“ zwar schnell zu verlachender Widerspruch zu erwarten war, aber keine Gewalt. Und insbesondere keine soziale Isolation. Dass mit diesem Vorgehen ein erheblicher Teil an Demokraten, die aus tiefster Überzeugung für Pluralismus in der Gesellschaft eintreten, politisch diffamiert wird, war völlige Nebensache oder sogar gewünschter Nebeneffekt.
Nächste Episode. Wir sitzen in der Kantine, Mittagspause. Es ist kurz vor den Sommerferien, ein Kollege berichtet von seinen Urlaubsplänen. Jerusalem, wollte er immer mal sehen, danach mit der Familie ans Meer. Am Nachbartisch dreht sich wutentbrannt jemand um: „Israel ist ein Geschwür, das gehört entfernt!“. Am Mittagstisch. Aus dem Nichts heraus.
Zwei Personen im Raum haben widersprochen. Der Rest hat sich beschämt weggedreht. Das Thema wurde danach totgeschwiegen. Ich frage mich, ob das auch geschehen wäre, wenn Glatze Herbert den Spruch gebracht hätte. Es ist aber eben ein beliebtes Spiel. Äußert man Kritik am antisemitischen und davon ab auch häufig genug antidemokratischen Gedankengut in islamischen Kreisen, dann ist das Thema eigentlich längst abmoderiert, da man zunächst den großen und rhetorisch schwierig zu meisternden Exegese-Kanon bedienen muss, um nicht am Ende der xenophobe, tendenziell rechte und vermutlich irgendwie ausländerfeindliche Spinner in der „rechten Ecke“ zu sein. Einzelfälle. Es ist gesellschaftlicher Konsens, wegzuschauen, weil nicht sein darf, was eben nicht sein darf.
Es ist eine Errungenschaft der deutschen Demokratie, dass ein Immunsystem entstanden ist, welches Widerspruch übt, wenn der Verdacht besteht, dass Menschen aus Gründen der Religion oder Herkunft angegriffen werden. Aus dem Immunsystem ist aber längst eine Autoimmunerkrankung geworden. Deutschland, dessen Strukturen, Grundgesetz und die Gewaltenteilung Religions- und Meinungsfreiheit in einem ungekannten Maße erst erlaubt haben, beherbergt heute, davon ist auszugehen, so viele Antisemiten, wie seit Ende der Entnazifizierung nicht mehr. Tendenz steigend. Die Festnahme zuletzt in Duisburg, die Gewalt gegen Polizisten und die offenkundige Respektlosigkeit gegenüber dem deutschen Staat und die billigende Verherrlichung von Gewalt kommuniziert den Grund, weshalb die zuvor genannten Vorfälle totgeschwiegen wurden. Hier droht Gewalt. Der Kampf gegen diesen Faschismus ist gefährlich.
Die aktuelle Situation ist eine hervorragende Gelegenheit, um herauszufinden, wer „nie wieder“ und den Kampf gegen Faschismus ernst meint und für wen es nur eine willkommene Gelegenheit war, um im Gewand der moralisch überlegenen Sache Politik zu machen. Und es ist hoffentlich das Ende einer völlig realitätsblinden Ideologie, die seit Jahrzehnten in sträflicher Naivität die Grundfeste unseres demokratischen, antifaschistischen, freiheitlichen Staates untergräbt.
[…] verpasst? Die letzten zehn Sendungen gibt’s hier.]Talken Sie mit zu folgenden Themen:֍ 01 – Wohlfühl-„Antifa“ ֍ 02 – ֍ 03 – ֍ 04 – Aus dem Pausenmix: ֍ 05 – […]
[…] den Straßen Europas aktuell ungeschützt schlechte Karten. „Nie wieder!“, so hieß es jahrelang. Naja, oder jetzt halt […]