Bildhafte Musik, affektive Charaktere, eine dramatische Handlung: Die oratorischen Passionen von Johann Sebastian Bach sind meisterhaft, theatralisch, bezwingend, die Geschichte ihrer Aufführung fällt mit der Aufklärung zusammen, sind Bachs Passionen antisemitisch? Keinesfalls, letztlich doch: Wer seine Aversionen aufhübschen will, findet sich in ihnen zurecht. Nach dem 7. Oktober, dem Hochfest des Hasses, müsste der Klassik-Betrieb dringend reagieren, er tut es oder tut es nicht.
„Kunst darf nicht nur, sie MUSS FREI sein!“ N.N. ist ein Kulturbürger, der sich selber künstlerisch betätigt, seine Briefe unterzeichnet er mit vollem Künstlernamen, sein Nomen Nominandum ist diesem Blog bekannt, für N.N. bedeutet „MUSS“, dem eigenen Hass die Zügel frei zu geben: „Die Netanjahu-Regierung hat die Juden einmal mehr zu Tätern werden lassen, da sollten wir uns nicht dafür entschuldigen müssen, dass auch der Evangelist Johannes sie in seinem Passionsbericht als Täter darstellt (und uns nicht davon blenden lassen, dass sie sich immer wieder erfolgreich als Opfer inszenieren – LÄCHERLICH!!!).“
Klammer zu, Punkt, er ist sorgsam geschrieben, der Brief. Mit ihm reagiert N.N. auf die Ankündigung einer Johannes-Passion, die ihn – der Text ist vom Autor dieses Beitrags – vor eine Frage stellt: Ob es sich nach dem 7. Oktober noch singen lasse, dieses „Die Jüden aber schrieen: Weg, weg mit dem, kreuzige ihn! Und wenn, wenn sich dies singen ließe in Zeiten, in denen der Hass auf die Juden weltweit überbordet, wie ließe es sich singen?“ Man kann einer Kreuzigung beiwohnen in ästhetischer Distanz und – so ein in Dortmund beteiligter Musiker – geschmackssicher feststellen, „der schönste Moment ist der Tod Jesu“, der Tod eines Juden. Derselbe Blick aufs Kreuz könnte aber auch zu ungläubigem Entsetzen führen über das, was Hamas angerichtet hat, die tausendfache Kreuzigung von Juden.
Kurz ein Blick auf das, was gesungen wird: Bachs Passionen halten sich eng an den Text der Evangelien, vor allem das Johannes-Evangelium wird gern – wie N.N. es tut – als Protoform des Judenhasses gelesen. Was Humbug ist, Ende des 1. Jahrhunderts nC verfasst, verhandelt es eine grausam aktuelle Frage: Wie lässt sich jüdisches Leben nach der Katastrophe denken? Die Katastrophe damals: das Jahr 70, die römische Allmacht hatte die Grenzanlagen Jerusalems überrannt, die Stadt verwüstet, den Tempel zerstört, hatte Juden hingeschlachtet oder vertrieben, jüdische Souveränität schien wie ausradiert. Zwei Strategien, sich diesem Terror zu widersetzen, haben Wirkmacht entfaltet, zum einen war es die von Juden, die erklärten, dass einer, der Jahrzehnte zuvor als „König der Juden“ ans Kreuz genagelt worden war, deshalb noch lange nicht tot sei, sondern zurückkommen werde, um die römische Macht zu brechen; bis es soweit sei, müsse man als kleine, übel verfolgte Minderheit einen Modus Vivendi finden für das Zusammenleben von Juden und Nichtjuden; aus dieser Idee ist einmal das Christentum entstanden.
Die Antwort einer anderen jüdischen Gruppe: Man müsse sich, anstatt den Nichtjuden und deren Mysterienkulten nachzulaufen, auf sich selber besinnen. „Verwandle Jerusalem in eine Idee. Verwandle den Tempel in ein Buch, das so groß, so heilig und so komplex ist wie die Stadt selbst“, so hat Nicole Krauss, US-amerikanische Schriftstellerin, diese Strategie in „Das große Haus“ (2011) umschrieben. Mit „Buch“ ist die Thora gemeint, heilig und komplex wird sie durch ihre andauernde Diskussion, die Idee entstammt der Denkschule der Pharisäer, aus ihr ist das heutige, das rabbinische Judentum entstanden.
Die Wegscheidung zwischen diesen beiden Strategien spiegelt sich im Johannes- und im Matthäus-Evangelium wider, sie wird dort um eine Lebensspanne zurückprojiziert in die Geschichte vom Leben und Sterben Jesu hinein. Das Drama, das die beiden Evangelien inszenieren, spielt von Anfang bis Ende auf zwei Bühnen, zwei Zeitebenen, wer hier auftritt, tritt immer in zwei Rollen gleichzeitig auf, Beispiel: Im Johannes-Evangelium heißt es, Jesus habe zu „den Juden“ gesagt, „ihr habt den Teufel zum Vater“, der Satz liest sich, als beweise er frühchristlichen Judenhass, tatsächlich macht der Kontext klar, dass Jesus dies zu Juden sagt, „die an ihn glaubten“, es geht um Selbstkritik innerhalb der johanneischen Gemeinde, die Jesus in den Mund gelegt wird. Oder, anderes Beispiel: Im Johannes-Evangelium wird Jesus durchweg als Rabbi, als Lehrer vorgestellt, mit dem Titel wurden Gelehrte der pharisäischen Schule bezeichnet, aus der nun gerade nicht die Kirche, sondern das rabbinische Judentum hervorgegangen ist …
Scheinbar Eindeutiges zerfließt umso mehr, als in den Passionen von Bach eine dritte Zeitebene hinzukommt, die des 18. Jahrhunderts, Bachs Gegenwart. Jetzt ist es ein- und derselbe Chor, der, eng am biblischen Text entlang, „die Juden“ intoniert und dann aus der Erzählzeit immer wieder hinauswechselt in die eigene Zeit, in der er von den „Stricken meiner Sünden“ singt. Eben noch werden „die Juden“ angeklagt, jetzt „Ich, ich und meine Sünden“. Diese Selbstanklagen im pietistischen Stil sind durchaus frühaufklärerisch, ihnen vorausgesetzt die Bereitschaft, sich selber in „den Juden“ zu erkennen.
Die Geschichte aber hebeln Bachs Passionen so nicht aus, die Wirkungsgeschichte der Passionserzählungen ist fatal: eine tyrannische Staatsmacht, die Juden wie Christen verfolgt und Christen wie Juden, wird wundersam verklärt, an ihrer Statt werden „die Juden“ als Mörder präsentiert, als Gottesmörder, und vollends unsingbar ist, was Matthäus zu erzählen scheint: dass sich „die Juden“ selber verflucht hätten für alle Zeit. Die Szene: Pilatus, ein übler Schlächter, hier gezeichnet als ein sensibler Philosoph, wäscht seine Hände und erklärt, dass er unschuldig sei „am Blut dieses Mannes“, da ruft „das ganze Volk“, das jüdische, „sein Blut komme über uns und unsere Kinder!“
Auch diese Szene lässt sich, liest man sie mit judenchristlichem Blick, völlig anders verstehen als sie wirkt – „Blut“ ist im Matthäus-Evangelium als erlösende Kraft gedacht – , nur macht dies nichts ungeschehen, der „Blutruf“ hat Pogrome legitimiert, Entrechtung, Vertreibung, Vernichtung. Auf der Textebene, in der erzählten Zeit, erscheinen „die Juden“ ein ums andere Mal als „Repräsentanten für etwas Negatives“, so der Bochumer Theologe Klaus Wengst, „und dieses Negative schlägt auf die konkret existierenden Juden durch.“
So wie N.N. es durchschlagen lässt, der eingangs zitierte Kulturbürger. In seinem Leserbrief – „ich habe viele Jahre bei amnesty international mitgewirkt, außerdem bin ich Kriegsdienstverweigerer und evangelischer Christ“ – nimmt er Hamas von jeder Verantwortung aus, als seien auch diese Schlächter so edel wie Pilatus, stattdessen ruft er „das Blut“ auf, das eines von „Frauen und Minderjährigen“ sei, unschuldig wie das von Jesus, jetzt vergieße es der „jüdische Staat“, das Ausmaß dessen würde – kein Judenhass ohne NS-Vergleich – „den Hamburger Feuersturm (Juli 1943) und die Bombardierung Dresdens (Februar 1945) bei Weitem übersteigen!!!“ N.N.s Einsicht, die er ungestört bestätigt hören will: „Jesus steht für Versöhnungsbereitschaft und Feindesliebe, die jüdische Netanjahu-Regierung für Hass und Völkermord!!“
Derzeit rollen die Bach-Passionen durchs Land, dass sie antisemitische Vorstellungen wie die des N.N. stärken, kräftigen und gründen, derlei Bedenken lassen sich, klickt man sich durch die Texte ihrer Ankündigungen, nirgends explizit finden. Hier und da wird es sicherlich eine Triggerwarnung geben im Abendprogramm, die behauptet, dass – es ist falsch, aber seit ´68 gängig – mit „die Juden“ gar nicht „die“ Juden gemeint seien, sondern „die Mächtigen“, die „jüdische Oberschicht“, eine Deutung, die antisemitische Phantasien nicht ausbremst, sondern befeuert: Oberschicht gleich Ostküste, soviel kapiert jeder. Vor einigen Jahren hat die Kirchenmusikerin Christa Kirschbaum gefordert, die Reflexion von dem, was gesungen wird und gespielt, erst gar nicht ins Begleitheft auszulagern, sondern „direkt in die Musik einzugreifen“ und beispielsweise die Mitglieder des Chors bei jenen Passagen, die irritierend sind zu singen, nach je eigenem Empfinden improvisieren zu lassen, so dass der Klang für einen Moment „zu einem großen Cluster verschwimmt“. Ein Verfremdungseffekt, der eine vierte Zeitebene einschieben würde, die Jetztzeit. In der Theaterbranche ist solche Arbeit mit dem Material eine conditio sine qua non, im Konzertbetrieb gilt sie weithin als Frevel am heiligen Werk. Eben so, mit diesem Werk-Begriff, wird eine fatale Wirkungsgeschichte fortgeschrieben, sie setzt auch fort, was Juden nach dem 7. Oktober widerfährt: das betretene Schweigen der bestallten Kultur, ein unerklärliches Ungerührtsein, eine schwer fassbare Scheu davor, sich mit Juden zu identifizieren, wie Bach es tat, es ist 300 Jahre her. Hamas will nicht einen, sondern „die Juden“ vernichten, die Frage drängt sich auf, die Bach seinem Chor in der Matthäuspassion stellt: „Herr, bin ich’s?“ Sind nicht die Geiseln gemeint in den Tunneln der Hamas, wenn sich der Chor der Johannespassion danach sehnt, „macht mir den Himmel auf und schließt die Hölle zu“? Und welches Kollektiv soll es sein, vom Chor addressiert, das imstande sei, diese Hölle zuzuschließen?
Die Ukraine wird von Russland überfallen, eine Reihe Orchester in diesem Land haben die ukrainische Hymne zum Intro ihrer Konzerte gemacht. Israel wird von Hamas überfallen, jetzt die Hatikwa zu spielen, die israelische Hymne, würde einen Zuweg öffnen in Bachs Passionen hinein, die eine Katastrophe reflektieren, die Israel erlitten hat. Die israelische Hymne ist ungewöhnlich schön, sie vorweg zu spielen, könnte auch Kulturbürger N.N. Gelegenheit bieten zu tun, was er angekündigt hat zu tun, nämlich „die Aufführung empfindlich zu stören, ja unmöglich zu machen!“
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Transparenz-Hinweis: Der Autor verantwortet Konzept und Programm der Christuskirche Bochum, an sie hat Kulturbürger N.N. seinen Brief gerichtet.