„Wir hatten ja nichts“. Vielleicht werde ich diesen Satz noch brauchen, um späteren Generationen zu erklären, warum meine Heimatstadt Witten es ständig mit irgendeinem Blödsinn in die Medien schafft.
Irgendetwas stimmt hier nicht. Und ich glaube, ich weiß auch, was. Witten an der Ruhr hat einen Minderwertigkeitskomplex. Das heißt, sofern Städte einen solchen überhaupt kriegen können. Wer hier wohnt, mag das schmucke Städtchen in der Regel gerne. Wer zugezogen ist, etwa aus Schwabenland, um sich in unserer bildungsbürgerlichen Kaderschmiede namens Uni Witten/Herdecke zur Chefärztin ausbilden zu lassen, hat für „uns“ in der Regel wenig übrig.
Es gab vor vielen Jahren mal die urban legend, dass Witten im bundesweiten Vergleich der Drogenkriminalität in Städten den dritten Platz belegt hat – prozentual gesehen. Das war das erste Mal für mich, dass ich von Witten in einem überregionalen Kontext gehört habe. Wer nix hat, hat nix zu verlieren und nimmt, was er kriegt. Wir haben zwar dank der Hip-Hop-Crew Creutzfeldt&Jakob einen beachtlichen Ruf in der Hip-Hop-Szene plus die wohl lässigste Städtehymne die es gibt – aber das bleibt eben ein Szeneding. Womit wir beim Thema wären. Bei uns scheint man nach jedem Strohhalm zu greifen, um von Restdeutschland beachtet zu werden. (An dieser Stelle vergessen wir mal, dass der Historiker Ernst Nolte, der den sogenannten Historikerstreit ausgelöst hat, in Witten geboren ist. Denn das ist uns zu Recht sehr peinlich.)
Unrühmliche Wikipediaseiten
Die Sache mit der Drogenkriminalität ließ sich nie einwandfrei belegen, verbreitete sich dieses Gerücht doch zu einer Zeit, wo eben nicht jeder sofort auf seinem Smartphone den Faktencheck machen konnte. Was als nächste große Nummer schnell die Runde machte, war der Satansmord von Witten. Diesen unrühmlichen Begriff verdanken wir, wie wohl auch die eigene Wikipedia-Seite dazu, der Bildzeitung. 2001 tötete das junge Satanistenpaar Daniel und Manuela Ruda einen Bekannten in ihrer Wohnung in Witten Innenstadt. Sie verpassten ihm 66 Messerstiche, schlugen mit dem Hammer zu und zerstückelten die Leiche mit einer Machete. Die Medien halfen kräftig mit bei der Selbstinszenierung der Rudas. In der Folge wurde das Wohnhaus des Paares Pilgerstätte für Satanistenfreaks.
2007 wurde eine Frau aus Witten-Annen „Frauentauschmama“. 2009 kamen „Die Küchenchefs“ (VOX) ebenfalls in den Stadtteil: Im Restaurant „Osella“ wollten sie dem Besitzer unter die Arme greifen. Dumm nur: Der ist ein Nazi. Der Sender sah im Nachhinein von der Ausstrahlung der Folge ab. Fail. Die nächste war Mandy Bork. Die Tochter der Besitzer der „Tanzschule Bork“ in Witten, die ich mal kennengelernt habe, als sie noch ein Kind und ich im Break-Dance-Kurs bei Bork’s war, hat es doch tatsächlich fast geschafft. 2011 wurde sie Zweite bei Heidi Klums „Germanys Next Topmodel“. Doch anstatt mit stolz geschwellter Brust unser Stadtwappen in aller Welt vor sich herzutragen, sagte sie in der Lokalpresse, in Witten gäbe es eh nur Dönerläden. Das gab natürlich Haue, und prompt erschien im Konkurrenz-Blatt ein Interview, indem sich Mandy als „großer Döner-Fan“ inszenierte. So geht PR.
Im gleichen Jahr machte sich ein weiterer „Promi“ über Witten lustig. Joey Kelly, der hier sonst ständig an der Uni rumlungert, erzählte bei Markus Lanz über die Anfänge der Kelly Family. Doch ups: „Wir spielten damals noch auf der Straße, es war in Witten. Eine schreckliche Stadt, ein schwarzes Loch, furchtbar.“ Kam nicht so gut an hier.
Sinnloser Lokalpatriotismus
2010 kam die CDU auf die Schnapsidee, die Kampagne „Ich will WIT“ loszutreten. Der Ennepe-Ruhr-Kreis hat die alten Kennzeichen für Witten wieder zugelassen. Wer WIT will, soll WIT haben. Die Union, allen voran ein Simon Nowack, wollte den sinnlosen Lokalpatriotismus politisch ausschlachten. Den Oldtimer-Besitzern, die bis dahin als einzige noch mit WIT und nicht mit EN rumgurken durften, hing natürlich die Fleppe. Seit einiger Zeit zieht WIT wie eine Heuschreckenplage durch die Stadt.
Und dann kam Cederic. „Pro Sieben-‚Nerd‘ Cedric aus Witten möchte ins RTL-Dschungelcamp einziehen“. So viele fiese Wörter in einem Satz. Der bedauernswerte Mensch hatte bei „Beauty and the Nerd“ den dritten Platz belegt „und ist jetzt trotzdem ein Promi“, wie sich die Lokalpresse tapfer einredet. Und als waschechter „Promi“ gehört man natürlich ins Dschungelcamp. „Im Mai möchte er aber erstmal einen Weltrekord brechen – im Dauerfernsehen. 86 Stunden müsste er dafür in die Glotze starren, ohne eine Mütze Schlaf“, wie die WAZ weiß.
Ja, hier ist ganz schön viel los. Mir ist das alles immer sehr peinlich. Ein wenig Mitleid habe ich auch mit meinen Mitstädtern, wie sie immer wieder verzweifelt versuchen, doch noch ein großes Licht zu werden am hellen Himmel der Trash-Welt. Das heißt nicht, dass es nicht auch gute Seiten gibt: Wir haben eine ziemlich gut funktionierende Kulturszene in Witten. Hier gibt es viele kreative Menschen und Projekte, nur kommt man damit weder in die Bild, noch ins Trash-TV. „Wir haben zwar nix, aber dafür sind wa‘ wer“ funktioniert auf Dauer nicht. Vielleicht würde dem Gros der Wittener ein wenig mehr Gelassenheit gut tun. So scheiße sind wir auch nicht. Und wenn alle Stricke reißen, haben wir ja immer noch unsere riesigen Unterhosen, die wir aus irgendeinem Grund jedes Jahr in die Fußgängerzone hängen.
Was ich hier vermisse: war der KSV Witten nicht mehrfacher Deutscher Meister in der Ringer-Bundesliga? Waren da nicht berühmte Olympiasieger dabei? Außerdem haben früher, als diese Ruine, die da heute steht, noch ein Hauptbahnhof war, sogar D-Züge in Witten gehalten.
Und gibts immer noch die Straßenbahn nach Bochum?
Wenigstens habt ihr ’nen Kaufhof in der Innenstadt.
Gruß aus Bochum.
Die Straßenbahn gibts, wird demnächst aber von Witten über Langendreer nach Bochum rollen, die Fahrzeit verlängert sich also. Es fehlt allerdings weiterhin die U35 zur Bochumer Uni – wurde die nicht damals von der Lokalpolitik verhindert in der naiven Hoffnung, einen Kaufkraftabfluss zu verhindern (s. Minderwertigkeitskomplex)?
Wittener Tage für neue Kammermusik, jemand zuhause?
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https://www.wittenertage.de
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https://de.wikipedia.org/wiki/Wittener_Tage_f%C3%BCr_neue_Kammermusik
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https://www.nmz.de/online/streichkonzert-wie-die-wittener-tage-fuer-neue-kammermusik-noch-einmal-am-gau-vorbeikommen
Der Text passt so wahnsinnig gut zu dieser Stadt. Wenn die Mittelmäßigkeit beabsichtigt war, kann man nur gratulieren.
Der Text ist einfach nur hervorragend. Mit Witz geschrieben und viel wahres drin. Als gebürtiger Wittener kann ich diese Stadt nur hasslieben. Kann nix, ist nix, will aber und wird es nie. Zum Glück gibt´s dennoch ein paar kleine Nischen, wo Mensch sich mit gleichgesinnten wohl fühlen kann. Weit abseits von dem, was die Welt und die Oberen dieser Stadt interessiert. Und irgendwie ist das auch gut so.
Ich find den kranken Ruf unserer Stadt irgendwie geil ! Wenn man die Verachtung von Joey Kelly auf sich zieht, läuft der Laden wie geschmiert ! Aber schade, dass diese ganzen Studenten-Yuppies „uns“ noch nicht abstoßend genug finden. Bitte mehr negative Präsenz in den Medien !!
(das bezieht sich nicht auf diesen Artikel, den ich übrigens sehr Gut finde !)
Aber hallo, wie könnt Ihr nur Brigite Lorenz unterschlagen? Allemal origineller und näher am Ruhrpott-Flair als manch einer der im Artikel erwähnten Protagonisten der Ruhpott Republic lower east side.
https://www.the-voice-of-germany.de/teams/nena/brigitte-lorenz/
@ Martin Böttker
Ringen ist zum Randsport verkommen. Es gibt kaum noch ein öffentliches Interesse, weshalb diese Sportart wohl auch aus dem olympischen Programm genommen wurde. Weisst Du vielleicht auch, wer z.B. im Prelball oder Motoball Deutscher Meister wurde? 😉
Ähm, Schweinehirte, Kohleentdeckung/ Muttental
Franz K
Ich fahre immer mal wieder in die Wittener Werkstadt um dort Tango zu tanzen. Ganz in der Nähe gibt es sogar eine kleine Tangoschule, https://www.tangostudio-ruhr.de/, mit wöchentlicher Milonga (So heißen die Locations in denen Tango Argentino getanzt wird).Also Kopf hoch, Leute. Ich muss allerdings gestehen, dass ich nie genau weiß wo Bochum aufgehört hat und Witten angefangen ist, weil ich nicht auf die entsprechenden Schilder achte. 🙂
Wer es in Witten schafft, schafft es überall….
Wer hier bleibt muss tapfer sein, sehr sehr tapfer!
Und zum Artikel mein Lieblingsspruch:
„Nix Scheiße danke Karma“ und der Hinweis, dass in Witten das erste buddhistische Zentrum gegründet wurde und das der 16.Karmapa im Wittener Saalbau eine Zeremonie abgehalten hat und dabei sagte, das in Witten einige Yogis leben werden….
Ich sach nur: Tapfer bleiben!
Witten ist klasse.
Es gibt zwei Waldorfschulen, ein Waldorf-Lehrer-Seminar und eine Uni mit vielen Waldorfschülern. Daher reichlich kreatives Jungvolk.
In den 70ern hatte die Wittener Folk-szene ein bundesweit hohes Ansehen (Folkfestival, Hildegard Doebner, zur alten Zeit).
Wo gibts das sonst, im Dorf wohnen aber gleich vier Großstadtzentren in 30 Minuten erreichbar?
Wenn jetzt die Uni noch ein „universitäres“ Umfeld bekommt, wirds noch besser.
Witten, was will man mehr?
Stefan, wann kommt was über Gladbeck?
@Martin: Mach Du… 🙂
Sportlich müsste man noch den PV Witten erwähnen… immerhin ist Triathlon hip und olympisch… und da sind die Jungs und Mädels aus Witten traditionell immer ziemlich erfolgreich gewesen…
14 Jahre im Stadtgebiet gelebt und handgestoppte zwei mal in der Innenstadt gewesen… schon ironischer, die Zugverbindung zwischen den süd westlichen Vororten Dortmunds und Bochum über Witten ist schneller und bequemer als der direkte Weg… Witten kennt man irgendwie nur als Station auf der Durchreise, sogar auf dem Rad ist das so.
Kleine Anekdote aus dem Abiello…
Enkelin, um die 20… „Unverschämtheit…“
Oma: „Hm?“
Enkelin: „Na… Preisstufe B, 5.10 Euro nach Bochum…“
Oma: „Hmm?“
E: „Na… ist doch eine Stadt…“
O: „Hmmm?“
E: „Na… das gehört doch zusammen…“
O: „Hmmmm?“
E: „… heisst doch ‚Bochum-Witten’…“
O: sprachlos…
@Chicky: Das behauptet auch Mühlheim, Essen, Herne-West etc…. ist eine Sage.
@All: – Unischnösel sind auch nicht von Bankazubis zu unterscheiden.
Bringen ziemliche Kaufkraft in die Stadt und wirken dem chronischen Leerstand entgegen. Sind übrigens auch einige Pottkinder da… genannte Chefärztin studiert meines Erachtens nicht Medizin sondern Zahn(medizin) ;)…
– Kultur: Hapa Haole macht den Musikbetrieb dicht. Der Chef hat keinen Bock mehr auf die Wittener Nachbarn. Sauber. Da gabs endlich mal wieder was, was dem Bhf Langendreer in früheren Tagen geähnelt hat (Lokale Künstler, gute Musik, nette Leute, keine Sonnenbankpeople) – aber nööö, zuviel Müll, zuviel Lärm, zuviel Autos… also genau so, wies Sonntagsmorgens aufm Rathausplatz (oder eigentlich überall wo Junge Menschen wohnen – sterben aus, ich weiß).
Na, geb ich mein Geld halt in Bochum aus.
@nik: Ich finde es klasse, dass Du Hildegard als für Witten und sein Leben bedeutsam anführst.
Das ehrt meine Großmutter sehr.
Bester Gruß
Sebastian Doebner
Also…ich bin berufsbedingt schon gut rumgekommen in NRW und sage ehrlich und voller Stolz: Ich bin gerne Wittener und finde Witten und die ländliche Umgebung um einiges schöner als Dortmund, Bochum, Herne, Remscheid, Wuppertal, Haan, Hilden etc. !
Joey Kelly ist eh ne Witzfigur sorry. Lebten seit Jahren und vor allem in ihren Anfängen, auf die er sich ja bezieht, wie die Hottentotten in ihrem Hausboot, wuschen sich vielleicht 2x im Monat und quatscht dann so einen gequirlten Schwachsinn 🙂 Keine Referenzmeinung also.
Sehr netter Text und ich glaube Witten hat es sogar 2 mal zum Frauentausch geschafft, aber wen interessierts. Was ich schlimm finde, wie viele Bekannte und Freunde bei diesen scheiß HarzIV sendungenm, wie „Mitten im Leben“ und „Verklag mich doch“, mit machen. Ich hab erlich angst, wenn es eine Statistik über sowas gibt das wir es dann mal wieder in die Presse schaffen.
Unter dem Kultur Link versteckt sich die WERK°STADT, aber dank dem Stellwerk bzw. Knut´s ist unser Kultur angebot um einiges größer geworden.
Alle Nerds sollten wissen, dass Jan Hegenberg auch aus unsere tollen Stadt kommt und hätte Witten Gelder für Marketingmittel über, hätten wir auch eine „Zeltfestival WITTEN“, doch nein es heißt „Zeltfestival Bochum“.
Wenn man unsere drei echt coolen Jugendcafés (Treff° in der Innenstadt, Freez in Heven und Famous in Annen) betrachtet, sind wir wahrscheinlich besser ausgestellt, als jede andere Stadt Deutschlands!
Wir haben ein echt schönes Wiadukt über dem schönen Fluss, neben dem sogar ein Wasserkraftwerk steht. Zu dem kommt auch noch die beiden Schiffe „Schwalbe“ und die „Kemnade“, welche uns ermöglichen über unsere Gewesser zu schippern und nicht zu vergessen die kleine Fähre, die uns vom Fährhaus zur Burgruine Hardenstein bringen kann.
Wir haben noch das Witten-Annener Urgestein „Ostermann“, dessen Gründer mein Großvater noch aus Kindertagen kennt, der damals seine Produkte vom Bollerwagen verkaufte.
Ich könnt bestimmt noch Stunden weiter schreiben, darüber was hier noch toll ist und was wir noch haben, aber wir wissen doch, dass wir toll sind. Was wir wollen ist das ALLE wissen wie toll wir sind.
PS: Was ich sehr traurig finde ist, dass der dortmunder „Geierabend“ dem Ersten, der nachweißlich nach Witten zieht, ein Leben lang freien Eintritt.
Doch so weit ich weiß, hat sich bislang noch niemand gemeldet! 😉
So ihr Lieben,
hatte grade 1live im Haus und wir sind gerade und morgenfrüh auf Sendung, mit dem coolen Nachtrödel 😀
So gibts dann auch mal gute Presse aus dem schönen Witten 😉
lg Giaco
Ich bin im Jahr 2000 nach 30 Jahren aus Witten fortgezogen und nie mehr dagewesen. War eine der besten Entscheidungen meines Lebens!