Wann Bundeskanzler Olaf Scholz die Vertrauensfrage stellen wird, ist ebenso unklar wie der Termin der nächsten Bundestagswahl. Klar ist nur, dass sie die erste Bundestagswahl nach dem Ende der grünen Hegemonie sein wird, die mit dem Aufschwung nach dem Ende der Finanzkrise 2008 begann.
Ab den 10er Jahren bestimmte nicht die Grünen als Partei, sondern ihr Denken die Politik. Angela Merkel hatte zwar ein CDU-Parteibuch, doch die CDU war für sie nur die Partei, „der ich nahe stehe“, wie sie es selbst 2021 bei ihrem letzten Auftritt vor der Bundespressekonferenz sagte. Merkel, das beschreibt der FAZ-Redakteur Eckart Lohse in seinem Buch „Die Täuschung – Angela Merkel und die Deutschen“, war eine pragmatische Machtpolitikerin, die sich in ihrer Regierungszeit Konflikte mied und sich vor allem an Umfragen und Stimmungen orientierte. Sie folgte dem Zeitgeist, und der war während ihrer Regierungszeit grün geprägt.
Das konnte sich das Land auch leisten: Ihr Vorgänger Gerhard Schröder hatte die Sozialsysteme reformiert, nach dem Beitritt Chinas in die Welthandelsorganisation boomte die deutsche Wirtschaft, dem Land ging es gut. Grüne Politik muss man sich leisten können. Deutschland glaubte, sich das dank eines stabilen Wachstums erlauben zu können, grüne Themen in den Vordergrund zu stellen. Man ging den Doppelausstieg aus Kohle- und Kernkraft an und setzte dabei auf russisches Gas. Dass die Bundesrepublik dabei war, technologisch den Anschluss zu verlieren und die Steuer- und Abgabenlast immer weiter stieg, interessierte lange niemanden. Postwachstumsfantasien wurden populär, ein sicheres Zeichen von Dekadenz.
Die Ampel machte weiter, wo Merkel mit ihren liberalen und sozialdemokratischen Koalitionspartnern aufhörte: Die SPD baute mit dem Bürgergeld den Sozialstaat massiv aus, die Grünen machten sich daran, mit dem Demokratiefördergeld ihre politische und kulturelle Hegemonie unter dem Flankenschutz immer zahlreicher werdender Minderheitenbeauftragter abzusichern. SPD, Grüne und FDP verkündeten beglückt, dass Transfrauen Frauen sind, und beschlossen das Selbstbestimmungsgesetz. Dass Patrick Graichen, Wirtschaftsminister Habecks wichtigste Staatssekretär, wegen des Vorwurfs der Vetternwirtschaft zurücktreten musste und nicht, weil er faktisch erklärte, die Energiewende werde 500.000 Industriearbeitsplätze kosten, passte in diese Zeit.
Und die ist vorbei: Die grüne Hegemonie ist zu Ende, der Peak-Woke überschritten. Schon vor über einem Jahr sagte der Dortmunder Soziologe Aladin El-Mafaalani: „Die emanzipatorischen Bewegungen haben alles bekämpft, was gesellschaftlichen Zusammenhalt erzeugt hat.“ Immer deutlicher wurde, dass die Reste dieses Zusammenhalts nur aufrechterhalten werden können, wenn die Bundesrepublik ihr Wohlstandsversprechen einlösen kann. Und das gelingt ihr von Tag zu Tag weniger. Fast täglich bauen Industrieunternehmen gut bezahlte Arbeitsplätze ab und deutsche Unternehmen verlieren international Marktanteile. Der Wohlstand geht zurück, das Land hat sich geändert: Medikamente sind immer häufiger nicht mehr lieferbar, Brücken bröseln, jede Bahnfahrt wird zu einem Abenteuer, es herrscht Wohnungsnot, die Energiewende zerstört Wohlstand und Wettbewerbsfähigkeit, die Schulen sind überlastet und bilden die Kinder immer schlechter aus. Die Zeiten, in denen sich Facharbeiter den Traum vom eigenen Haus leisten konnten, liegen lange zurück.
Die Ukraine und Israel kämpfen um ihr Überleben. Russland ist längst wieder der militärische und politische Feind des Westens. Der Iran und China sind seine Verbündeten. Wandel durch Handel, die Idee der Annäherung durch immer engere Kooperation, war über Jahrzehnte die Maxime deutscher Außenpolitik. Sie wurde von der Wirklichkeit ebenso überrollt wie der Glaube an eine gesicherte westliche Dominanz. Die Wahl von Trump zum US-Präsidenten könnte, zurückhaltend formuliert, zu unabsehbaren weiteren Herausforderungen führen.
Die Zeiten, in denen die multikulturelle Gesellschaft als Ideal galt, sind zu Ende, seitdem sie als postmigrantische Gesellschaft zur Wirklichkeit wurde. Dass die Probleme größer werden, wenn viele Menschen in diesem Land leben, die die westliche Gesellschaft und ihre Lebensart als Feinde sehen, wurde spätestens nach den antisemitischen Demonstrationen der letzten Monate klar. Zeitgleich ist es nicht gelungen, Deutschland für qualifizierte Einwanderer attraktiv zu machen, die das Land dringend braucht.
Über all diese Fragen wird in den kommenden Wochen und Monaten diskutiert werden. Die Grünen als Partei werden dabei eine wichtige Rolle spielen, aber die Zeit der grünen, der woken Hegemonie, deren Profiteur die Grünen waren, ohne ihr Initiator zu sein und die auch für die Union und SPD bestimmend war, ist vorbei.
Mit AfD und dem Bündnis Sahra Wagenknecht sitzen Feinde der Republik in den Parlamenten des Landes, deren Ziel es ist, einen Keil zwischen Deutschland und der NATO und der EU zu treiben und das Land zu spalten. Sie sind nichts anderes als Hilfstruppen Russlands, Chinas und des Irans, Landesverräter und Krisenprofiteure.
Die vier demokratischen Parteien CDU, SPD, Grüne und FDP müssen nun Lösungen finden und werden dabei über ihre ideologischen Schatten springen müssen. Deutschland muss Teil des Westens bleiben, seinen Wohlstand nicht nur sichern, sondern die Lust auf Wachstum und Technologie zurückgewinnen. Es muss Maßnahmen gegen den Klimawandel ergreifen, sich gegen Rechtsradikale, Islamisten, Putin-Proxys und postkoloniale Radikale stellen, den Antisemitismus bekämpfen, Deutschland attraktiv für qualifizierte Zuwanderer machen, sich auf eine Flüchtlingswelle aus der Ukraine einstellen, falls Putin weiter vormarschiert, und dafür sorgen, dass diese Gesellschaft einen neuen Konsens findet.
Harte Themen und große Aufgaben, die realistische Antworten und keine Bullerbü-Träume erfordern. Die grün-woke Hegemonie ist zerbrochen. Die kommenden Monate werden zeigen, ob es gelingt, sie durch eine Erzählung zu ersetzen, die die Republik stärken will, weniger polarisiert und die Nöte der Menschen ebenso ernst nimmt wie die Verantwortung, die es bedeutet, ein Teil des Westens zu sein. Gelingt es nicht, werden die Landesverräter von AfD und BSW weiter wachsen. Mit dem Ende der grünen Hegemonie wäre nichts gewonnen, wenn sie nicht von liberal geprägten Vorstellungen, sondern von dumpfem Westenhass und Extremismus ersetzt werden würde.