Die letzte Chance der Demokratie

Das Kanzleramt in Berlin. Foto: Robin Patzwaldt


Wenn es die nächste Bundesregierung wieder versägt, kann die AfD bei den nächsten Wahlen die stärkste Partei werden. Deshalb kommt es jetzt darauf an, in den schwarz-roten Koalitionsverhandlungen Vernunft und Augenmaß zu zeigen, damit eine handlungsfähige Bundesregierung zustande kommt, die angesichts der immensen innen- und außenpolitischen Herausforderungen beweist, dass die Demokratie die beste aller Staatsformen ist. Ruhrbarone-Gastautor Volker Eichener ist Professor an der Hochschule Düsseldorf , lehrt Politikwissenschaften und lebt in Herne.

Das Erschreckendste am Wahlergebnis ist, dass die Analyse der Wählerwanderungen zeigt, dass die AfD von allen demokratischen Parteien Stimmen abziehen konnte: 1 Million Stimmen von ehemaligen Unionswählern, 890.000 Stimmen von FDP-Wählern, 720.000 von SPD-Wählern und sogar 100.000 Stimmen von Menschen, die beim letzten Mal noch Grün gewählt hatten. Hinzu kommen 1,8 Millionen Stimmen von bisherigen Nichtwählern. Das bedeutet: Es sind längst nicht nur die überzeugten Rechtsextremen, die der AfD ihre Stimme gegeben haben. Aufgrund verschiedener Studien können wir den Anteil der AfD-Kernwähler, die ein autoritäres politisches System und eine Unterwerfung unter russische Führung wollen, auf etwa ein Drittel beziffern – das ist eine durchaus gute Nachricht. Zwei Drittel der AfD-Wähler wählen diese Partei, weil sie von den demokratischen Parteien enttäuscht sind.

Warum so viele Wähler zur AfD gewandert sind

In einem Internetforum schrieb eine Benutzerin auf die Frage, warum man AfD wählt: „Eine normale REgierung, die einfach mal gute Arbeit leistet und die Grenzen schützt“. Ein anderer User schrieb (Interpunktionsfehler nicht korrigiert): „Sollten die AfD nicht liefern kann es nicht schlimmer kommen als das was wir jetzt haben. Viele Menschen in unserem Lande werden Ihre Stimme der AfD geben, weil es so nicht weitergehen kann.“ Es sind auch User dabei, die sich vor einigen Jahren noch nicht vorstellen konnten, der AfD ihre Stimme zu geben, es jetzt aber getan haben, weil die Ampel-Regierung so kläglich versagt hat.

Tatsächlich muss man das Wahlergebnis als Klatsche für die Ampel-Koalition interpretieren. Die Koalition hat es nicht verstanden, der Bevölkerung in schwierigen Zeiten eine Botschaft der Hoffnung zu liefern, von einer Zukunftsvision ganz zu schweigen. Dabei hatte die Regierung durchaus Erfolge zu verbuchen: Sie hat mit dem Sondervermögen begonnen, die Verteidigungsfähigkeit Deutschlands zu stärken. Sie hat zusammen mit den NATO-Partnern die Ukraine gegen die russische Aggression unterstützt. Sie hat den Ausfall der russischen Erdgaslieferungen kompensieren können und einen Winter des Frierens verhindert. Sie hat auch den Ausbau der erneuerbaren Energien vorangetrieben und sie hat einige sozialpolitische Verbesserungen bewirkt, darunter die Anhebung von BAföG und Mindestlohn, den Wechsel von Hartz IV zum Bürgergeld oder die Einführung des 49-Euro-Tickets. Sie hat auch die Inflationsrate senken können.

Aber diese zum Teil beachtlichen Erfolge wurden überschattet vom krachenden Scheitern der Wohnungsbaupolitik, die ihr Versprechen bei Weitem verfehlte, von der ewigen Zögerlichkeit des Kanzlers bei den Militärhilfen für die Ukraine, von den zunehmenden Streitigkeiten zwischen den Koalitionspartnern und von der Verbotspolitik, die im Heizungsgesetz kulminierte. Und dass die Koalition am Ende platzte, hat keinem Partner geholfen. Und dann hatten genau diejenigen, die für das Scheitern verantwortlich waren, auch noch die Chuzpe, wieder als Spitzenkandidaten anzutreten. Die Wählerschaft hat ihnen dafür die Quittung gegeben.

Systemisches Versagen des Mehrparteiensystems: Klientelpolitik statt Gemeinwohl

Es hat keinen Sinn, die Schuld für das Versagen der Ampel bei einzelnen Parteien zu suchen, denn es war ein systemisches Versagen. Aufgrund des gesellschaftlichen Wandels (Stichworte: Pluralisierung und Individualisierung) hat sich das deutsche Parteiensystem von dem 2 ½-Parteiensystem der Nachkriegszeit zu einem Mehrparteiensystem gewandelt, das immer häufiger Mehrparteienkoalitionen erforderlich macht, um eine Regierungsmehrheit zustande zu bringen. In diesen Koalitionen ist jede Partei darauf bedacht, eine Politik für ihre Wählerklientel durchzusetzen. Dabei werden rote Linien definiert (z. B. Tempolimit bei der FDP), die zu Blockaden führen. Und es werden Paketlösungen verabschiedet, bei denen jeder Koalitionspartner sein Wunschprojekt durchsetzen kann (z. B. Atomabschaltung und Heizungsgesetz bei den Grünen). Das führt zu der Konsequenz, dass Maßnahmen umgesetzt werden, die jeweils nur von einer kleinen Minderheit der Wählerschaft gewollt sind, und dass die Mehrheit der Bevölkerung das Gefühl gewinnt, dass dabei das Gemeinwohl auf der Strecke bleibt. Und diese systembedingte Klientelpolitik ist eine Steilvorlage für die AfD, die dann behaupten kann, dass unsere Demokratie keine wirkliche Demokratie sei, weil die Interessen der Bevölkerungsmehrheit nicht berücksichtigt würden.

Das muss sich ändern, wenn wir ein weiteres Erstarken der AfD bei den kommenden Wahlen (es gibt auch immer wieder Landtags-, Kommunal- und Europawahlen) vermeiden wollen. Und das ist die große Aufgabe der kommenden Regierungskoalition.

Auf die SPD kommt es an

Mathematisch ist nichts anderes möglich als eine schwarz-rote Koalition, wenn die Union dabeibleibt, eine Koalition mit der AfD abzulehnen und wenn Friedrich Merz keine Minderheitsregierung bilden will, die auf eine Duldung durch die AfD hinauslaufen würde (was sich am letztlich gescheiterten Entwurf eines Migrationsgesetzes schon gezeigt hatte). Die Arithmetik verschafft der SPD somit trotz ihrer krachenden Wahlniederlage eine starke Verhandlungsposition, die über die Relation der Sitze im Bundestag (37 % zu 63 %) hinausgehen dürfte.

Damit hat die SPD gute Chancen, weiterhin Klientelpolitik zu betreiben, um sich gegenüber ihrer Wählerschaft zu profilieren. Der linke Flügel wird fordern, das historische Kernanliegen der Sozialdemokratie, die Umverteilung, zu verfolgen, um eine Abwanderung der Wähler zur Linkspartei zu verhindern. Der ökologisch-woke Flügel wird darauf pochen, grüne Themen zu besetzen, um eine Abwanderung zu den Grünen zu unterbinden. Allerdings sind nur 560.000 SPD-Wähler zu den Linken abgewandert und gerade einmal 100.000 zu den Grünen. Dagegen hat die SPD 1,8 Millionen Wähler an die Union verloren und 720.000 Wähler an die AfD. Das schlechteste Bundestagswahlergebnis ihrer Geschichte hat die SPD eingefahren, weil sie eine Politik gemacht hat, die einer überwältigen Mehrheit ihren bisherigen Wähler zu links war.

Diese Wählerwanderung kam selbstverständlich mit Ansage. Boris Pistorius, der für eine pragmatischere Politik steht, wies seit langem weitaus höhere Beliebtheitswerte auf als der Bundeskanzler. Dass die SPD dennoch wieder Olaf Scholz als Kanzlerkandidaten nominierte, kann man nur als Lust am Selbstmord interpretieren.

Die SPD steht nun vor der Frage, ob sie mit denjenigen weitermachen will, die für das Wahldebakel verantwortlich sind, oder wirklich den „Generationswechsel“ in der Führungsspitze bewerkstelligen kann, den der Vorsitzende Klingbeil am Tag nach der Wahl verkündet hat. Seine Kollegin Esken sieht sich jedenfalls nicht in der Verantwortung für die Wahlniederlage und sich selbst hat er ebenfalls von der angekündigten „tabula rasa“ ausgenommen. Der Klebstoff, der in Deutschland Versager an ihren Stühlen hält, ist außerordentlich stark – nicht nur bei Bundestrainern.

Die SPD kann nur überleben, wenn sie sich neu sortiert – personell wie inhaltlich. Die Wählerwanderungen zeigen, dass sie sich darauf konzentrieren muss, verlorengegangene Wähler von der Union und der AfD zurückzuholen und nicht von den Linken und Grünen (wo es schon rein quantitativ weniger zu holen gibt). Sie muss also stärker in die Mitte der Gesellschaft rücken. Wenn die SPD das zu erkennen gewillt ist, sind die Voraussetzungen gut, dass eine schwarz-rote Koalition eine handlungsfähige Regierung zustande bringt.

Das ist auch bitter nötig, denn noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik war eine Regierung mit derartig großen Herausforderungen konfrontiert wie die künftige.

Internationale Politik: Die Emanzipation Europas

Der US-amerikanische Präsident Donald Trump hat begonnen, die atlantische Allianz aufzukündigen. Nicht nur, dass er sich mit neoimperialistischen Bestrebungen anschickt, Kanada, Grönland, Panama und sogar den Gaza-Streifen einzuverleiben und damit das Völkerrecht vollends auf den Müllhaufen der Geschichte werfen. In bilateralen Verhandlungen mit dem Kreml hat er offenbar angeboten, die US-amerikanischen Sicherheitsgarantien für Europa zurückzunehmen, Europa aus dem atomaren Schutzschild der USA herauszunehmen und damit faktisch die NATO aufzulösen. Dies würde bedeuten, dass Russland die baltischen Staaten, Polen und danach auch Deutschland sowohl mit konventionellen Streitkräften als auch mit taktischen Atomwaffen angreifen könnte, ohne dass die USA mit einem Gegenschlag antworten würden.

Der künftige Bundeskanzler, der als langjähriger Vorsitzender der Atlantik-Brücke über hervorragende Kontakte in die USA verfügt, hat bereits angekündigt, dass Europa „nuklear unabhängiger werden müssen von den USA“ und auf das Angebot verwiesen, sich an der französischen Force de frappe zu beteiligen. Das wäre nicht nur teuer, sondern würde auch die Sozialdemokraten, deren Ratsfraktionen noch vor nicht allzu langer Zeit „atomwaffenfreie Zonen“ ausgerufen hatten, mit einer hohen Herausforderung konfrontieren. Aber es war ein sozialdemokratischer Kanzler, nämlich Helmut Schmidt, der für den „NATO-Doppelbeschluss“ eingetreten ist, der zur Stationierung einer neuen Gattung von Atomraketen auch auf deutschem Boden geführt hatte. Boris Pistorius jedenfalls nimmt die russische Bedrohung ernst.

Migrationspolitik: Den Zustrom begrenzen

Dass Zuwanderung unverzichtbar ist, um die deutsche Wirtschaft am Laufen zu halten, ist unbestreitbar. Allein das Gesundheitswesen, um einen besonders wichtigen Bereich zu nennen, würde zusammenbrechen, wenn es keine Zuwanderung von Ärzten und Pflegepersonal gäbe. Wir brauchen auch Zuwanderung, um die immer größerer werdende Facharbeiterlücke zu schließen und die sozialen Sicherungssysteme zu stabilisieren. Dafür brauchen wir aber eine gesteuerte Zuwanderung qualifizierter Kräfte und nicht eine unkontrollierte, wellenförmig ablaufende Zuwanderung von Menschen, die zwar das Grundrecht auf Asyl ausnutzen, aufgrund ihres kulturellen Hintergrunds aber selbst ein distanziertes Verhältnis zu den Menschenrechten haben, beispielsweise zum Recht auf Leben, auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, auf Gleichheit der Geschlechter oder auf Religionsfreiheit.

Als das Asylrecht im Grundgesetz verankert wurde, hatte niemand damit gerechnet, dass eines Tages Millionen von Asylsuchenden nach Deutschland strömen würden, die aus ganz anderen Kontinenten stammten. Abgesehen von den Einschränkungen, die durch die Grundgesetzänderung vorgenommen wurden (sichere Drittstaatenregelung), ist kein Grundrecht und kein Menschenrecht schrankenlos, wenn durch seine Inanspruchnahme andere Grundrechte gefährdet werden. Es kann nicht sein, dass das Asylrecht dazu führt, dass Deutschland Abermillionen Bürgerkriegsflüchtlinge und sonstige Flüchtlinge aus allen Teilen der Welt aufnimmt. Diese Auffassung wird von einer überwältigen Mehrheit der Bevölkerung geteilt.

Dass die Union das Asylrecht restriktiver interpretieren will, hat sie bereits deutlich gemacht. Die SPD hat gegen ihren Gesetzentwurf gestimmt – wobei beides auch dem Wahlkampf geschuldet war. In einer gemeinsamen Koalition sind folgende Aufgaben zu lösen:

  1. Eine bessere Steuerung der Zuwanderung, d. h. einerseits eine Begrenzung bei der Aufnahme von Flüchtlingen, andererseits die Einführung von Kriterien bzw. Quoten für qualifizierte Zuwanderer. Das Erste ist ein Anliegen der Union, beim Zweiten könnte sich die SPD profilieren. Chance für eine Paketlösung.
  2. Abbau des Behördenversagens. Die Gewalttaten von Migranten im öffentlichen Raum der letzten Monate und Jahre waren sämtlich auf Behördenversagen zurückzuführen, wobei Behörden des Bundes, der Länder und der Kommunen beteiligt waren. Die Regierungskoalition hätte zwar nur Zugriff auf Bundesbehörden und Bundesgesetze, könnte aber zur Effizienzsteigerung beitragen. Hier könnte der neue Bundeskanzler Chefqualitäten zeigen – während die SPD betonen könnte, dass auch sie die Missstände bekämpfen will.
  3. Verbesserung der Integration. Angela Merkel hatte den Fehler gemacht zu sagen „wir schaffen das“, ohne etwas zu unternehmen, um die Integration der Flüchtlinge zu befördern. Auch wenn die meisten Kompetenzen bei den Ländern und den Kommunen liegen, könnte der Bundeskanzler die Integrationsfrage mit einem „Integrationsgipfel“ zur Chefsache machen. Die SPD sollte mit Integrationsmaßnahmen keine Probleme haben.

Steigt man von der Ebene der Ideologien und Überschriften auf die pragmatische Ebene hinab, zeigen sich selbst bei diesem scheinbar so kontroversen Thema durchaus Chancen für eine konstruktive schwarz-rote Zusammenarbeit.

Wirtschaftspolitik: Den Motor wieder zum Laufen bringen

Deutschlands Wirtschaft steckt seit zwei Jahren in einer Rezession und die Projektionen der Bundesbank für 2025 und 2026 sind auch nicht allzu rosig. Während andere europäische Länder robuste Wachstumsraten aufweisen, dümpelt die deutsche Wirtschaft vor sich hin. Auch die Bundesbank diagnostiziert, dass die Schwäche der deutschen Wirtschaft nicht nur konjunkturelle, sondern auch strukturelle Ursachen hat.

Die Union ist angetreten, das Wirtschaftswachstum wieder in Gang zu bringen. Dazu wird sie einen Abbau von Bürokratie vorschlagen, namentlich der ausgeuferten Pflichten zur Nachhaltigkeitsberichterstattung, die grüne Handschrift tragen. Sie wird auch Senkungen von Unternehmenssteuern wollen.

Die SPD verstand sich stets als Arbeiterpartei und damit als natürlicher Gegenspieler der unternehmerischen Wirtschaft. Allerdings wollen sozialpolitische Wohltaten, das Kernanliegen der Sozialdemokraten, auch finanziert werden. Sozialdemokratisch geführte Regierungen in den Ländern, namentlich in Nordrhein-Westfalen, Hessen und Niedersachen, haben eine lange industriepolitische Tradition aufzuweisen, so dass sich in der Wirtschaftspolitik durchaus große Schnittmengen mit der Union finden lassen – vorausgesetzt, dass keine Umverteilung von unten nach oben stattfindet und dass sozialpolitische Abfederungen stattfinden.

Sozialpolitik: Der SPD Erfolge gönnen

Wenn die neue Koalition handlungsfähig sein will, muss auch die Union bereit sein, dem Juniorpartner Erfolge zu gönnen. In der Vergangenheit haben alle Regierungsparteien nicht mehr die Opposition als Hauptgegnerin betrachtet, sondern ihre Koalitionspartner. In der kommenden Legislaturperiode müssen die Parteien erkennen, dass die demokratiefeindlichen Parteien die Hauptgegner sind. Das heißt, die demokratischen Parteien müssen zusammenhalten, um die Stärke der Demokratie unter Beweis zu stellen.

Es gab mal schwarz-rote Koalitionen, in denen die SPD so sehr unterdrückt worden ist, dass sie sich zu weigern begann, eine neue Koalition mit der Union einzugehen – wir erinnern uns an die Bundestagswahl 2017. Jetzt muss die Union realisieren, dass sie nur regieren kann, wenn sie eine demokratische Partei als Koalitionspartner hat. Sollte es im Laufe der Legislaturperiode zu einem Bruch der Koalition kommen, wird nur die AfD davon profitieren. Im übrigen braucht die Union die SPD nicht zu fürchten: Sie wird Wähler von der AfD zurückholen, wenn sie eine vernünftigen Politik macht.

Die schwarz-rote Koalition hat nur die Chance, sich als eine Regierung zu profilieren, die, wie es ein Post formuliert hat, „gute Arbeit leistet“. Konservative und Sozialdemokraten können gemeinsam eine Regierung des Pragmatismus bilden, die die Bundesrepublik durch gewaltige Krisen steuert. Die Union steht dabei für Wirtschaftskompetenz und die SPD für den Sozialstaat.

Ein Arbeits- und Sozialminister der SPD könnte sich auf das Ziel konzentrieren, die sozialen Sicherungssysteme zu stabilisieren – was eine gute Wirtschaftsentwicklung voraussetzt. Dabei muss die SPD aber alte Konfrontationen überwinden und bereit sein, kapitalgedeckte Versicherungen aufzubauen, wenn die demographische Entwicklung die Umlagefinanzierung sprengt. Es war immerhin ein Sozialdemokrat, nämlich Walter Riester, der mit der nach ihm benannten Zusatzrente das Kapitaldeckungsverfahren wieder eingeführt hat, allerdings in einem zu begrenzten Umfang, der durch Folgeregierungen nicht wesentlich ausgebaut wurde.

Wohnungspolitik: Endlich Gas geben, und zwar richtig

Die Wohnungsnot hat sich in den Großstädten zu einem Riesenproblem entwickelt und treibt der AfD ebenfalls Wähler zu. Sie ist auch ein Feld, auf dem die Ampel kläglich versagt hat, wenn sie das sehr bescheidene Ziel von jährlich 400.000 Neubauwohnungen ausgerufen und dieses Jahr für Jahr krachend verfehlt hat. Ich wage zu behaupten: Die Demokratie ist nicht zu retten, wenn wir nicht die Wohnungsnot beseitigen.

Die SPD macht den Fehler, die Ursachen der Mietsteigerungen zu ignorieren. Die Mieten steigen, weil es zu wenige Wohnungen gibt. Deshalb ist es keine Lösung, die Mietpreisbremse zu verschärfen. Die einzige Lösung besteht darin, mehr Wohnungen zu bauen. Ein halbes Jahrhundert wusste das jeder Wohnungsbauminister, auch sozialdemokratische. Die Union will den privaten Wohnungsbau durch steuerliche Erleichterungen fördern, was auch erfolgversprechend ist. Die SPD kann dafür eine Verbesserung der Förderbedingungen im Sozialen Wohnungsbau für sich verbuchen. Beide Partner müssen sich auf Kostensenkung durch den Abbau von Überregulierungen verständigen. Steigende Zahlen von Baugenehmigungen und Fertigstellungen sind die überzeugendsten Erfolgsnachweise, die eine Regierung bieten kann.

Klimaschutzpolitik: Realistisch und sozial verträglich

Dass der Klimaschutz unerlässlich ist, ist unstrittig. Schon die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verpflichtet jede Bundesregierung, gleich welcher Couleur, zum Klimaschutz. Aber Klimaschutz muss für die Betroffenen umsetzbar sein. Verbote und Abschaltungen (die Abschaltung des Gasnetzes wird bereits angedroht) bringen Bürger in Zwangslagen, wenn keine realistischen Alternativen bereitstehen. Wir brauchen eine Klimaschutzpolitik, die nicht die zweiten Schritte vor den ersten macht und die die Bürger beim Umsteigen auf erneuerbare Energien unterstützt, anstatt sie zu drangsalieren.

Schwarz-Rot bietet die Chance, zu einer Klimapolitik zu kommen, die alle drei Dimensionen der Nachhaltigkeit zugleich erfüllt, nämlich neben der ökologischen auch die wirtschaftliche und die soziale Dimension.

Perspektiven für Schwarz-Rot

Auf der Ebene der konkreten Politikfelder gibt es durchaus Chancen für schwarz-rote Einigungen. Die Ampel-Koalition ist einst – mit einem Rockband-Foto – sehr hoffnungsvoll gestartet, um Innovation zu erreichen. Und ist dann als total zerstrittener Haufen gelandet. Die schwarz-rote Koalition kann sich einfach als „gute Regierung“ profilieren, die das Schiff durch schwere See steuert, auch wenn es von Riesenwellen bedroht wird. Dazu kann es hilfreich sein, auf manches Übersteuern zu verzichten. Auch wenn die Volksabstimmungen, die die AfD laut fordert (um die parlamentarische Demokratie zu zerstören), nach 2.500 Jahren Erfahrung aus demokratietheoretischer Sicht abzulehnen sind, kann es nicht schaden, gelegentlich auf die Stimme des Volkes zu hören, wenn man regiert. Wenn wir die Demokratie bewahren wollen, dann müssen die Bürger wieder den Eindruck gewinnen, dass im Interesse des Gemeinwohls regiert wird. Wenn das der schwarz-roten Koalition nicht gelingt, dann gnade uns Gott.

 

Volker Eichener ist Autor des Buchs „Demokratie: Porträt einer Staatsform der Freiheit und Gleichheit. Entwicklung – Merkmale – Zukunft“, erschienen 2023 im Marix-Verlag, Wiesbaden (26,00 €).

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