Landschaftpark Duisburg-Nord, Sonntag Nachmittag, der dritte und letzte Tag. Es ist recht heiß, die Menschen sind langsam, in einer Stunde beginnt das Konzertprogramm. Facharbeiter-Familien essen in ihren Reihenhäusern Erdbeer-Torteletten. Dieweil im stillgelegten Meidericher Hüttenwerk: Balearisch anmutender TripHop verdunstet leise aus den Boxen in die Sonne. Im Publikum dominieren Sommerkleider, Bermuda-Kombis und Fahrräder neben den blauweißen RWE- und WDR-Bannern. Biere, Säfte, Colas. Live-Kritik macht man, wenn eine Steckdose vorhanden ist und man gerne was zu tun hat zwischendurch. Denn Festival bedeutet hier an verschiedenen Orten kurz aufeinander folgende Konzerte. An der Knipse mit Stativ: Baronski Ralle. An der Kiste mit Akku: Baronski Jens. Am Notizbuch auf Heimspiel: Baronski Tom. Und weit und breit keine Jusos, die nicht tanzen können. Anyway – diese Traumzeit heißt Bewußtwerdung: Das heißt also Stress oder mal was auslassen. Erste Idee: Mal nebenan in der Jugendherberge und bei den Veranstaltern fragen, wieviel Prozent der Gäste eigentlich drei Tage lang in dieser Atmosphäre das ganze Programm mitmachen.
Nun, der Portier der Jugendherberge Duisburg-Meiderich (direkt auf dem Festivalgelände) erzählt, dass dort sowohl Teile der Crew sowie auf speziellen Wunsch der Stadtverwaltung wohl noch zwei Beamte auf den letzten Drücker untergekommen sind. Ansonsten sei ja auch "Tour de Ruhr" und eh schon länger ausgebucht. Die nächste Unterkunftsmöglichkeit sei mehr als 5 km entfernt, ein Motel in Oberhausen. Tim Isfort (Foto: Helmut Berns), künstlerischer Leiter von Traumzeit, erbittet noch drei, vier Jahre Zeit, bis an einen Zeltplatz oder ähnliches zu denken sei. Man bewege sich mit einem kleinen Künstlerdorf schon in diese Richtung, mehr scheint aber schwierig zu sein. Dies bestätigen die eher kunstgesonnenen Festivalmacher, einige wilde Camper waren übers weite Geläuf verteilt.
Das Problem wäre, so erzählt Stadtmarketing-Mann Uwe Gerste (CDU) uns, das mit den Klos und Duschen, die natürlich erstmal zu refinanzieren wären.
Schauen wir mal, ob die sterbende Eisenhüttenstadt im Ruhrdelta zum Jahr der Kulturhauptstadt 2010 geneigt ist, die Chance auf ein kleines Jugend-der-Welt-Dorf an Pfennigen scheitern zu lassen.
Tata. Tata. Tata.
Dann Musik und ein schöner Übergang (vom Schreiben weg): Christian Zehnder-Kraah arbeitet nämlich als Vokalist kaum mit Sprache, sondern hauptsächlich mit einer Art grammatik-freiem Bergvolk-Esperanto. Jodeln, Keuchen, asiatisch anmutender Singsang, begleitet von Kontrabass und Percussion. Das ist jazzy, teils durchaus "archaisch" (lt. Programmheft), irgendwie aber auch recht schweizerisch und vor allem hervorragend in Szene gesetzt.
Ist aber der vokalisierende Krähenmann ein Epigone Phil Mintons, des wahnwitzigen Shouters, welcher schon auf dem Moers-Festival verschiedentlich baren Fußes, aber mit Mac vom Fleck weg das Publikum becircte?
In der Meidericher Kraftzentrale fällt vor allem die hervorragende Licht- und Klang-Ästhetik auf: Kein Brei, Kein Geschrei. Minimal, auf den Punkt, im Dienste der Bühne und Musik.
Umsonst und Draußen derweil der No-Budget-Teil der Veranstaltung: Wochenendtouristen, von denen sich einige zur offenen Bühne hin trauen, wo auch unschwere Imbisse und bunte Getränke zu haben sind. Die Musiker dort werden es aber schwer haben, sich gegen die noch folgenden Künstler behaupten zu können, u.a. Oberlinger & Hahne. Und Kronos Quartet natürlich. Irgendwas is‘ ja immer: Die übliche blendende Brillianz. Die diesen Jungs keiner nachmacht. Wohlfeil, at it’s best!
Schön: Da wo wir Autoren, wieder mal zufällig und unabhängig voneinander, beim letzten Mal vor Ort bei Schlingensiefs "Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir" Zuschauer waren, wird diesmal Hildegard von Bingen durch den Neue Musik-Fleischwolf gedreht. Und das sehr virtuos halb-elektronisch, halb-akustisch von Dorothée Hahne und Dorothee Oberlinger (Foto: Traumzeit). Geloopte Flöten, leichter Jazz-Appeal und etwas, das mal Dekonstruktion genannt wurde.
Dann Pressekonferenz: Zufriedenheit der Veranstalter vor allem mit den ersten beiden Tagen, wen wundert’s, Duisburg Marketing lobt die Öffnung hin zu neuen Konzerthallen, etwas Pop und Party. Die Kritiken an den zeitlichen Überschneidungen im Programm werden ernst genommen, Tim Isfort bezeichnet E-Mails, die ob dessen von "Betrug" sprechen als "grotesk". Das Programm wolle mehr als Menü verstanden werden, mit Traumzeit als Ort in dem Verschiedenes passiert und das Publikum selbst auswählt. Dass noch mehr Festivalatmosphäre im Sinne eines permanenten Festivalwochenendes gewünscht ist und man ebenso permanent auch zusätzlich noch jugendlicher wird, das steht ebenfalls außer Frage.
Soweit, so trocken. Meiser notiert gähnend, Wasselowski trinkt Wasser gelangweilt, Kobler hört erstmal auf zu tippen, hat längst alles online gestellt, Herr über die Lage.
Wo liegt die Chance der neuen Traumzeit?
Wo liegt die Chance jenseits des legendären Moers-Festivals, abseits von völlig überschätzten Kinderferien-Angangs-Faßbrausen-Events wie Bochum Total, jenseits von aus Wurzeln der katholischen Gemeinde ins Giganomanische wie ein Papstbesuch gesteigerten Ex-Geheimtipps wie das Haldernfestival –
wie würde die Chance realisiert, die Traumzeit nach 15 Jahren Spielzeit zum respektablen, zum überregional bedeutenden Periodikum zu machen?
Fragen wir doch mal Valentin Allgayer, einen Querflötisten aus Sindelfingen im Süddeutschen, den wir seit Jahren aus Moers als zuverlässigen Nachtsession-Beisteuerer kennen.
Qualitativ und finanziell attraktiv wäre die Duisburger Traumzeit, er ist extra für die drei Tage von unten angereist, in Stuttgart kostete ein Reigen derartig hochwertiger Konzerte mehr als das dreifache mindestens.
Und nicht nur die Sets, es ist auch das Setting:
Stellen wir uns das ehemalige Meidericher Hüttenwerk vor als eine verlassene Liebe, die deswegen neu aufblüht (Fotos vom Tage: Ralf Wasselowski).
Begeben wir uns am Freitag abend in dessen Gießhalle, einer Open-Air-Bühne mit Deckel drauf, die in die alte Hütte reinragt.
Minuten vorher flaute die Frequenz der Notrufe infolge des härtesten Gewitterregens seit dem Krieg bei der Duisburger Rettungsleitstelle einigermaßen ab. Jetzt betritt Lampchop mit Kurt Wagner die Bühne, dann und wann zimmern Blitze von hinten Helligkeit in den dunkeln Raum des Auditoriums, indem sich Lampchops Mucke unten verspielt.
Ihr kennt Lambchop? I see, you know – das ist Kurt Wagners Stimme und Tennessee-Tackle, das ist der beginnende Herbst im September, und trotzdem klampft man auf dem Lande nach Aufbruch, weil die Ernte im Scheuer ist.
Die Ernte – im Gewitter eingebracht, das ist auch ein Sinnbild für die neue Traumzeit, die jenseits von ehedem Sonntagskleidungsträgern, die John Mc Laughlin und den Buena Vista Social Club hören wollten, sich heuer deutlich riskioreicher und interessanter darstellt.
Sie haben viele Bühnen, sie haben die große Kraftzentrale für die Abräumer, die Gießhalle für die Mitgehcombos, die Gebläsehalle für das eher Kammermusikalische eingerichtet.
Und eine Agora, in der Mitte von allem, wo die Mucke für die Zaungäste spielt. Und wo man fressen und saufen kann.
Mit dem Konzept kann man viel Publikum kletten – 12000 zahlende Gäste waren es heuer nach Angaben der Veranstalter.
Vieleicht müßte ich auch mal meinen alten Schulfreund Andre darüber befragen, wir haben in der Sexta gemeinsam unsere Fallerbahnen aufgebaut, auf der Traumzeit machte der Andre bei irgendeiner Auftragskomposition mit, er selbst komponiert auch für das ernsthafte Fach.
Und im Brotberuf geht er Möbel packen.
Soweit alles zu: "Keine Kompromisse."
Mit anderen Worten: Man kann die Traumzeit 2010 als eine der wenigen relevanten Veranstaltungen in der Kulturhauptstadt einschätzen.
Auf der Duisburger Traumzeit war die Welt zu sehen – Video: Manfred Ganswindt