Die mysteriöse Hamburger Schule

Bernd Begemann Foto: Promo

Bernd Begemann gilt als einer der Begründer der Hamburger Schule und kritisiert im Gespräch mit den Ruhrbaronen die Dokumentation von Natascha Geier.

Was war oder ist denn die Hamburger Schule?

Bernd Begemann: Der Begriff “Hamburger Schule” ruft bis heute zwei verschiedene Reaktionen hervor: Erstens löst er bis heute eine Faszination unter Musikfans aus. Zweitens hat er gleichzeitig eine Art Geschmäckle. Es gibt eine innere Distanz durch Begriffe wie “Diskursrock”.

Mir ist aufgefallen, dass ich mich bemühe, das zu definieren. Es gibt immer einen prägenden Augenblick einer Zeit und ich würde sagen, dass dieser eine Augenblick Rostock Lichtenhagen war.

Die Angriffe auf das Asylbewerberheim in Rostock Lichtenhagen waren nicht direkt verantwortlich waren für das, was von uns produziert wurde. Aber es war ein historischer Augenblick. Es war etwas wie die Kennedy-Ermordung. Es prägte uns und unsere Geschichte.
Von 1989, als „Heile Heile Boches“ von Kolossale Jugend erschien, bis 1993 kamen alle signifikanten Debütalben raus.

Ich bin mir nicht mal sicher, wer zuerst den Begriff “Hamburger Schule” benutzt hat oder ob es ihn zu der Zeit der prägenden Alben schon gab. Vielen war bewusst, dass da irgendwas Neues entstanden ist. Sie mussten es also irgendwie benennen. Man muss bei der Hamburger Schule auch zwischen Leuten unterscheiden, die ästhetisch an diesem Projekt gearbeitet haben und Menschen, die einfach nur in der Stadt und in der Szene waren, mit denen man getrunken hat. Was uns bei allen Unterschieden verbunden hat, war der Versuch, die Innenwelt und die Außenwelt in Popsongs zusammenzubringen. Das ist die beste Definition, die ich bis jetzt habe.

Vorher waren Lieder eher so: „Oh, hier ist mein Lied. Hier sind meine Töne. Hier ist mein Gefühl. Ich fühle mich so und so.“ Oder du hattest politische Lieder.  Dort ging es dann um die Bonzen, das System oder den Vietnamkrieg. Was viele damals artikuliert und zusammen gedacht haben, war: „Ich bin in dieser historischen Situation. Ich bin in dieser Nachbarschaft.  Ich habe diese Biografie. Mir ist diese Position bewusst und das Lied ist meine Reaktion auf das alles.“

Der wahre Reichtum dieser Szene war, dass sie von Musikfans getragen wurde. Niemand dachte wirklich an eine große Karriere. Wir wollten nicht in die Hitparade, die es ja damals noch gab. Wir wollten unsere Freunde beeindrucken. Und ja: Man wollte es auch den Studenten von der Spex zeigen. Die Gemengelage war eben, dass in Hamburg die Ostwestfalen auf einen Ruhrgebietler wie Tilman Rossmy trafen, der in der Lage ist, mit fünf Sätzen, also wirklich im Haiku-Stil, zu texten. Auf der anderen Seite gab es die Wortkaskaden von Captain Kirk. Das waren die Pole für mich, aber es begann wahrscheinlich mit Kristof Schreuf von Kolossale Jugend.

Die Spex hat anfangs überhaupt nicht besonders sympathisierend über die Hamburger Szene berichtet. Die fanden es immer toll, Musik aus der Entfernung oder irgendein Phänomen aus den New Yorker Ghettos zu analysieren. Darüber konnte man herrlich schreiben als deutscher Journalist, der so etwas wie Kulturgeschichte studiert hatte. Was wir machten, war ihnen irgendwie lästig. Sie wollten sich nicht mit ihrem Hinterhof beschäftigen.

Das ist ein Versäumnis der Dokumentation von Natascha Geier über die Hamburger Schule. Sie wirft keinen differenzierten Blick auf die damalige Gemengelage in der Stadt, auf die historische Situation, auf die verschiedenen Leute, die da kulminierten und sich in den Clubs trafen. Im Sorgenbrecher liefen Sly and The Family Stone und direkt danach Manfred Krug. Ich glaube, dass so etwas für die Musik der Sterne und ihre Vorgehensweise wichtig war, dass sie diese Lässigkeit von Manfred Krug und den Funk von Sly and The Family Stone zusammenbrachten. Es trafen Dinge aufeinander, die eigentlich nicht zusammengehören. Ästhetisch gesehen ist das immer etwas Gutes.

In der Dokumentation wird nicht thematisiert, dass Hamburg damals eine Stadt vor der Gentrifizierung war. 20 Jahre vorher, als in New York Punk entstand, gab es Clubs und Galerien, die man für wenig Geld mieten konnte.

Begemann:  Um etwas Explosives zu tun, musst du Leute real treffen. Es gibt diese Orte bestimmt immer noch. Wahrscheinlich gibt es neue Orte dieser Art. Vielleicht liegen sie heute in den Randgebieten der Stadt, wo sich brillante junge Menschen treffen, um irgendwas auszuhecken. Ich bin so gespannt auf das, was da noch kommen wird.

Ich habe zwölf Jahre lang in einer Sozialwohnung in Hamburg-Rothenburgsort gewohnt. Die Wohnung kostete damals 120 Mark. Zwei kleine Zimmer, aber ein extra Bad, eine Toilette am Eingang und eine große Küche.

Du konntest in Hamburg als Musiker arbeiten und brauchtest nicht viel Geld. Es gibt eine Szene in dem Film “Citizen Kane”. Orson Welles macht seine Zeitung. Der Buchhalter kommt zu ihm und sagt: „Wir machen so viele Verluste. Die Zeitung ist nicht profitabel.“ Orson Welles setzt das breiteste Grinsen der Filmgeschichte auf. Er fragt, wie viel Geld noch auf der Bank liegt. Der Buchhalter antwortet. Welles denkt kurz nach und sagt: „Ok, dann können wir ja noch 30 Jahre lang weitermachen.“ Ich hatte damals einen Wohnberechtigungsschein und konnte mich um Sozialwohnungen bewerben. Den deutschen Sozialstaat würde ich immer verteidigen.

Du kommst aus Bad Salzuflen in Ostwestfalen und hast da schon zusammen mit Frank Spilker, Jochen Distelmeyer und Bernadette La Hengst Musik gemacht. Warum seid ihr damals nach Hamburg gegangen und nicht nach Berlin oder Köln? Vielleicht hätte euch die Spex ja etwas schneller lieb gehabt, wenn ihr nach Köln gegangen wärt. Denn dort saß ja damals auch deren Redaktion.

Begemann: Das glaube ich nicht. Es gingen auch nicht alle nach Hamburg. Einer von uns, Achim Knorr „Der Fremde“, ist nach Köln gegangen und hat dort Sport studiert. Er ist jetzt ein wirklich  guter Stand-up-Comedian. Michael Gierke ging nach Berlin. Er hat ein paar Alben veröffentlicht, ist Schriftsteller und Kulturreferent. Aber Berlin war beschissen für ihn. Dann ging er wieder zurück nach Ostwestfalen.

Zu dieser Zeit war Provinz wirklich Provinz. Du warst ganz hinten. Alles kam mit fünf Jahren Verspätung an. Heute gibt es keine Provinz mehr im eigentlichen Sinn. Man bekommt, alles sofort überall mit. Aber damals war klar, dass ich weg aus Ostwestfalen musste.

Ich war kurz mit meiner damaligen Freundin in Aachen. Aber da ging gar nichts. Ich wollte mit einer Band Musik machen. Das konnte man damals nur in einer Großstadt. Ich bin sehr methodisch vorgegangen und habe mit meinem Interrailticket und meinem Jugendherbergsausweis Deutschland mit der Bahn bereist. Ich bin in den Jugendherbergen abgestiegen und habe mir zu Fuß oder mit Bus und Bahn Städte angeschaut. Ich war zwei Tage in München.  Dann war ich einen halben Tag in Frankfurt. In Berlin und in Köln war ich auch zwei Tage. Aber in Hamburg war ich vier Tage. Hamburg ist so schön, dass es für mich bis heute ein Privileg ist, in dieser Stadt leben zu dürfen. Die physische Schönheit der Stadt hat mich angezogen. Und ich war vom Norden und seinem Konzept der Klarheit angezogen.

Der zweite Grund war, dass ich dachte: „Du hast so viele Ideen, aber du bist einfach nicht gut genug. Du kannst nicht so gut singen, du kannst nicht so gut spielen, ich brauche eine Stadt, die mich gut macht.“ Da schwang auch der Beatles-Mythos mit: Die Beatles waren eine beschissene Band. Dann fuhren sie nach Hamburg. Hier haben sie drei Monate jeden Tag acht Stunden gespielt. Danach waren sie super.

München und Berlin kamen für mich nicht in Frage. München ist keine musikerfreundliche Stadt. Freddy Mercury hat sofort den roten Teppich ausgerollt bekommen. Aber das war ich ja nicht. Es war teuer. Die Türsteher waren unangenehm. Mit dem Bussi-Bussi-Gehabe konnte ich nichts anfangen. Man darf auch nicht vergessen, dass die Schwabinger Krawalle…

…die als Ausgangspunkt der 68er gelten…

… begonnen haben, weil Polizisten Musiker verhaften wollten.

Begemann: Berlin hat mir auch nicht gefallen. Ich habe ein apollonisches Temperament. Berlin ist dionysisch. Da siehst du in einem Video, wie Blixa Bargeld von den Einstürzenden Neubauten sich buchstäblich im Schlamm wälzt und ruft: „Seht mich in Schmerzen!“ Mein erster Gedanke ist: „Nein, das schaue ich mir natürlich nicht an. Wasch dich, geh zum Arzt!“ Ich lehne diese Art Kunstverständnis komplett ab. Das ist mir zuwider.

Du warst einer ihrer wichtigsten Protagonisten der Hamburger Schule. Ohne dich hätte es sie vielleicht gar nicht gegeben. Natascha Geier hat für ihre Dokumentation nicht mit dir gesprochen. Man sieht nur einen kurzen Videoausschnitt aus einer Sendung mit Tocotronic, die in deiner Küche in Hamburg-Rothenburgsort aufgenommen wurde. Wurdest du nicht gefragt, ob du mitmachen willst?

Begemann: Ein Kameramann, von dem ich weiß, dass er für den NDR arbeitet, war bei mir, interviewte mich und sagte, mir, dass dieses Interview gefilmt wird. Es sei für ein Buch…

 … “Der Text ist meine Party” von Jonas Engelmann…

Begemann: …würde aber auch genutzt für eine Dokumentation. Ich dachte: „Gut, das ist eine NDR-Doku. Es ist eigentlich nur geschickt, das so zu machen“. Aber Natascha Geier sagte, diese Kameramann wäre nicht von ihr geschickt worden. Nein, ich wurde nicht von ihr gefragt. Als Filmemacherin hast du das Recht, mit den Leuten zu reden, mit denen du reden willst. Aber die Auswahl zeigt eine Agenda.

Du hast kritisiert, dass die Regierung nicht vorkommt, mit deren Sänger Tilman Rossmy Geier wohl mal zusammen war. Du hast in einem Post auf Facebook geschrieben, dass Natascha Geier die Macht gehabt hätte. Du deutest an, dass sie mit dieser Macht nicht gerade verantwortungsvoll umgegangen ist.

Begemann: Sie hatte in der Dokumentation mehr einen persönlichen als einen journalistischen Blick. Das ist okay. Aber dann muss man eine solche Sendung anders nennen. Dann sollte sie nicht „Die Hamburger Schule – Musikszene zwischen Pop und Politik“ heißen, sondern „Meine wilden 90er und die Leute, mit denen ich damals getrunken habe“.

Natascha Geier stellt die These auf, dass die Hamburger Schule an ihren eigenen Ansprüchen gescheitert sei. Sie präsentiert aber 95 Prozent der Dinge, die passiert sind, und 95 Prozent der möglichen Ansprüche, die artikuliert wurden, überhaupt nicht. Das ist nicht in Ordnung. Geier stellt sich als superfeministisch dar. Aber Julia Lübke, Elena Lange oder Ebba Durstewitz erwähnt sie nicht.

Wieso präsentiert sie Leute, mit denen sie echt gut kann und mit denen sie offensichtlich gut befreundet ist und die niemand jemals auch nur ansatzweise mit der Hamburger Schule in Verbindung gebracht hat? Diese Doku erhebt Anspruch darauf, eine Chronik zu sein und eine Einordnung vorzunehmen. Aber du kannst keine Einordnung vornehmen, wenn du dich nicht im Ansatz um das Gesamtbild kümmerst.

Blumfeld mit Jochen Distelmeyer war eine der bekanntesten Bands der Hamburger Schule. Wurde Distelmeyer nicht gefragt, oder wollte er bei der Doku nicht mitmachen?

Jochen sagt nie bei so etwas zu. Er hat etwas einem weisen, abwesenden Obi-Wan Kenobi aus Star Wars. In der Doku kam er trotzdem vor. Aber Jochen Distelmeyer wurde als Trottel dargestellt. Man sieht einen Ausschnitt aus dem Musikvideo zu dem Stück „Verstärker“.

Dann kommen Kommentarschnipsel von Leuten, die sagen, Jochen hätte eh alles geklaut und die Band, ihre Alben und Videos seien nur merkwürdig gewesen. Ich weiß, dass ein paar der Menschen, die in der Doku aufgetreten sind, sich im Nachhinein nicht wohl fühlen. Sie sagen, dass ihre positiven Aussagen über Blumfeld und Distelmeyer rausgeschnitten worden seien.

Bei meinen Platten liegt noch die Single „Der Tag, als Thomas Anders starb“ von den Goldenen Zitronen. Die habe ich Mitte der 80er Jahre im Plop-Record-Store in Gelsenkirchen gekauft, ich ging damals noch zur Schule. Für mich waren „Die Goldenen Zitronen“ nie eine Band, die zur Hamburger Schule gehörte.

Begemann: Hier kommen wir zu dem Grund, weswegen die Hamburger Schule einen üblen Beigeschmack hat. Jetzt, im Jahr 2024, muss ich feststellen, dass alles, was an der Hamburger Schule beschissen war, von den Goldenen Zitronen kommt. Früher haben sie immer behauptet, sie hätten mit den Ärzten Funpunk erfunden und später Politrock und Agitprop zurückgebracht. Aber als sie sahen, dass in Hamburg irgendwas passierte, haben sie sich eingeklinkt und diese harmlos vor sich hin experimentierende Szene gekapert. Sie haben den Laden übernommen, weil sie mehr Erfahrung in ihren diversen Politszenen gesammelt hatten als alle anderen. Sie haben alles eingeführt, was Leute komisch finden an der Hamburger Schule: Sektierertum, Abgrenzung, Arroganz, den Ausschluss von Menschen. Wo vorher ein paar Jahre lang jeder mitmachen konnte, war das nach den Goldenen Zitronen nicht mehr möglich. Ihr Einfluss also bestand darin, dass sie die Hamburger Schule beendet haben. Kaum waren sie die Könige des Hühnerhofs, ging es nicht mehr darum, was du versucht und gemacht hast, sondern es ging darum, ob du die letzte Parole schon gehört hast und was deine wahre Gesinnung ist. Das erinnerte mich an das Vorgehen von K-Gruppen.

 

 

 

 

 

 

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[…] ist vor allem noch auf das Interview, das Stefan Laurin von den „Ruhrbaronen“ mit Bernd Begemann führte, darin dieser noch einmal im Detail seine Kritik an der Dokumentation von Natascha Geier äußert. […]

groovecity
groovecity
6 Monate zuvor

Ein derart unkritischer Artikel passt nicht zu Euch. Die „Hamburger Schule“ war eine Folge der deutschen Wiedervereinigung. Anbei ein aktueller Kommentar aus der Mailing List von Günther Jacob, der damals ein bekannter Kritiker (Spx, Konkret, Jungle World) des „Deutschpop“ war:

Betreff: NDR Doku zur „Hamburger Schule“
 Gleich drei Freunde machten mich in den letzten Tagen auf diese schreckliche lokalpatriotische Doku zur „Hamburger Schule“ aufmerksam.
Ein Freund hängte noch einen Facebook-Kommentar von Bernd Begemann mit.

 
Begemann ist etwas beleidigt weil er als „Zeitzeuge“ (!) nur am Rande erwähnt wird.
 
Seine Sicht ist trotzdem interessant, denn Begemann hatte damals die Rolle als anti-intellektueller und anti-politischer Bänkelsänger, was den anderen die Möglichkeit gab, sich als „politisch“ darzustellen. Ganz nach der Bourdieu‘schen Feldtheorie, nach der Revolution im Pop immer nur eine Poprevolution sein kann. 
 
Diese Sorte Distinktion aufzudecken stand damals im Mittelpunkt meiner Texte gegen die „Hamburger Schule“. Die Auseinandersetzung mit Begemann fand 1992 auf der Salzburger Konferenz „Musik Macht Politik“ statt. 
 
Die dieses Spiel besonders gerne spielten, waren in der Tat die Goldenen Zitronen. Deshalb ist Bernd auf ihre Prominenz in dieser Doku besonders sauer.
 (Die „radikalen“ Zitronen sangen damals: „Wir wollen die Regierung stürzen“. Als wir sie darauf hinwiesen, dass das jede Opposition will, stellte sich heraus, dass sie den Unterschied zwischen Regierung und Staat nicht kannten). 
 
In seiner bräsigen Unbedarftheit entging Bernd schon damals die ideologische Raffinesse der anderen. 
 
Während er plump sagte: „Ich singe Deutsch, damit das Publikum mich versteht“, reagierten die anderen unter dem Druck der antideutschen Linken, beweglicher: Sie profitierten von der massiven Unterstützung des schwarzrotgoldenen Feuilletons direkt nach der Wiedervereinigung für ihren „Deutschpop“, indem sie sich gleichzeitig als „antinational“ präsentierten:
 
 „Wir machen zwar Deutschpop, aber nicht damit man uns besser versteht – Texte verstehen spielt im Pop ohnehin nur eine Nebenrolle – sondern weil wir die Erwartungen der Leute, die auf Eindeutigkeit fixiert sind und Sprache für eine transparente Sache halten, verwirren und zum Nachdenken bringen wollen“.
 
Bei diesem Distinktionsspiel, zu dem die Absage von Tocotronic bei der Preisverleihung für „Jung, Deutsch und Erfolgreich“ gehörte (so einflussreich waren damals die Zeitschriften 17 Grad Celsius und Bahamas) konnte Bernd Begemann nicht mithalten.
 
Während die Musik der Hamburger Schule zum Soundtrack der aufstrebenden Jungtürken der Berliner Republik wurde und in den großdeutschen Feuilletons Jochen Distelmeyer als der Goethe des Pop gefeiert wurde, pflegte man einen antinationalen Duktus und kokettierte mit Antifa-Issues.
 
Angefangen hatte alles 1990. Die Musiker waren sehr jung. Schon zur Punk-Zeit hatte sich ein kulturlinkes Milieu gebildet, zu dem nicht wenige Leute gehörten, die aus den gerade untergehenden K-Gruppen kamen, die Ökos ablehnten, vom Klassenkampf in England schwärmten (Bergarbeiterstreik 1984/1985, Arthur Scargill gegen Maggie Thatcher) und anfingen Adorno, Wolfgang Pohrt und die Flugschriften der Marxistischen Gruppe zu lesen.
 
Als dann mit der völkischen Wiedervereinigung die alte Linke (alle Fraktionen) über Nacht blamiert da stand, sich aber innerhalb von Wochen entschloss, mit den alten Themen als großdeutsche Linke weiter zu machen (wie Kolonialisten gingen viele sofort in die okkupierten „neuen Länder“ und nach Ostberlin), sammelte sich der klägliche Rest unter dem Label Antideutsche und bildete plötzlich den radikalsten Teil der Linken. 
 
In Verbindung mit dem Schock der Anschläge von Hoyerswerda und Solingen, hatte der Slogan „Nie wieder Deutschland“ auf junge Leute, die es in „die Kultur“ zog kurzzeitig eine ähnliche Anziehungskraft wie die RAF, deren Symbol sie als Schüler mit Filzstift auf die Rückenlehnen im Schulbus malten – als eine Art romantischer Protest gegen das brave Schülerdasein.
 
Diese Phase war sehr kurz. Das neue Deutschland bot viele neue Möglichkeiten. Besonders für einen Nachwuchs, der es verstand das neue deutsche Selbstbewusstsein mit einem „nationalismuskritischen“ Habitus zu verbinden. 
 
Denn das Land, das sich plötzlich verdoppelt hatte, während anderswo die Nationen zerbrachen, musste die Ängste in der Welt vor der neuen deutschen Supermacht noch zerstreuen, wofür man gerade die Kulturszenen brauchte. 
 
So kam es, dass unter anderem mit der Hamburger Schule ein Milieu entstand, das den „Deutschpop“ gegen die angloamerikanische Dominanz durchsetzte und gleichzeitig „weltoffen“ gegen „jeden Nationalismus“ war.
 
Gleich nach 1990 war diese Entwicklung noch nicht abzusehen, aber bis Mitte der Neunziger war sie schon auf dem Höhepunkt. Bis 1995 waren wirkliche alle Akteure der Hamburger Schule schon mit dem Goethe Institut im ehemaligen Leningrad oder in „Breslau“. Zu den staatlichen Zuwendungen kamen die Plattenverkäufe. Deutschland war stolz auf diesen Nachwuchs und umgekehrt.
 
Bemerkenswert ist, dass diese Doku die Geschichte der Hamburger Schule nur ohne ihre wirkliche Geschichte erzählen kann – mit „Zeitzeugen“ wie dem Israelhasser Twickel und lauter sichtbar verbürgerlichten Altmännertypen, die sich ohne ein Gefühl der Peinlichkeit bei lebendigem Leib selbst historisieren und dabei wirken wie ihre Vorfahren, wenn sie vom Krieg erzählten.
 
Ihre beste Zeit ist um, sie leben gut und zufrieden im „besten Deutschland das es je gab“ und können gerade deshalb ihre eigene Rolle in dieser Zeit nicht reflektieren. 
 
Ihre Sprachlosigkeit verstecken sie hinter eitlen Beteuerungen, sie seien irgendwie immer Außenseiter gewesen und ihr Hauptziel sei es gewesen, sich nicht kaufen zu lassen.
 
Um dann am Ende stolz zu berichten, man habe es mit Pop in die Hochkultur (Theater, Malerei, Buchhandel) gebracht. 
 
Selbst die peinliche „Popliteratur“ wird gefeiert und rechte Preußenfans wie Stuckrad-Barre (er hat damals in der Taz gegen den „antideutschen Popjournalisten“ GJ angeschrieben) werden der Hamburger Schule zugerechnet.
 
Von all dem abgesehen ist die Doku auch sonst falsch. Die überwiegend miserable Musik der Hamburger Schule wird überhaupt nicht mittels Musikkritik bewertet. Über die Musik wird überhaupt nicht gesprochen! Es ist ja meistens ganz normaler Indie-Rock, musikalisch anspruchslos, ohne Blues & Soul. Es sind doch die immergleichen Lieder, die schon zehn Jahre vorher im Indierock-Kontext gespielt wurden. Es sind Coverversionen einer vergangenen Zeit mit neokonservativen Texten über das Leiden des Autors.
 
Ausgerechnet die teutonische Kapelle Tocotronic steht im Mittelpunkt mit selbstgefälligen, aber inhaltsleeren Historisierungen. Alte Platten werden aus Kisten geholt wie Urlaubsfotos von der Familienreise nach Italien.
 
Vor allem wird die Hamburger Schule nicht nur von ihren gesellschaftlichen Voraussetzungen getrennt, sondern auch von ihrer musikalischen Umgebung. Die bestand wesentlich aus Black Music und Dancefloor Jazz, also aus DJ-Music, die viel prägender war. Davon sieht man bei Minute 4 nur für Sekunden ein Plakat von Daniel Richter für die DJ-Gruppe „Rulin‘ Sound“, die im Molotow und im Tempelhof auflegte. 
 
Was auch fehlt ist der „Deutschrap“ der nach 1990 aus dem selben Geist geboren wurde wie der „Deutschpop“ und – wie im Fall Buback Records – auch bei den selben Plattenlabels erschien.
 
Diese Kritik ist kein Verbesserungsvorschlag: Eine bessere Sendung als diese lässt sich über die Hamburger Schule überhaupt nicht machen. Wenn man die GANZE Geschichte erzählen könnte, würde daraus eine Doku über die kulturellen Anfänge das Staates, den wir damals als Viertes Reich bezeichneten. 
 
Eine Einschätzung die heute triumphierend als Fehlurteil bezeichnet wird – auch von einigen Leuten die damals dabei waren. Aber diese Entschuldigung beruht auf einem Irrtum: Mit Vierten Reich war nicht eine Neuauflage des Dritten Reiches gemeint, sondern eine Weltmacht wie „Deutschland“ 2024.
GJ, 2. Juni 2024

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