Die Oktoberrevolution im Irak

Wandbild im Irak Foto: Privat


Unser Gastautor  Karam Hassawy lebt in Mossul

Sechzehn Jahre nach dem Sturz Saddam Husseins ist nichts von dem eingetreten, was sich die Iraker erhofft haben. Seit 35 Jahren erleiden die Menschen nun Unterdrückung und Tyrannei. Als nach Saddam die neuen Parteien an die Macht gekommen sind, haben sie die Verfassung erneuert. Die Verteilung der Positionen im Ministerium basierte auf Rassismus, auf ethnischen und religiösen Unterschieden. Dies hat 2006 den Bürgerkrieg hervorgebracht. 8000 unschuldige Menschen sind gestorben. Die Parteien haben sich diesen Krieg dann zu Nutze gemacht und Hunderttausende unschuldige junge Leute ohne Haftbefehl festgenommen, weil sie keiner Partei angehörten. Sie sitzen noch heute im Gefängnis.

2014 kam der IS nach Mossul. Die Terroristen haben die ganze Stadt unter ihre Kontrolle gebracht. Danach sind sie Schritt für Schritt in den Westen des Irak gekrochen. So haben sie Dreiviertel des Landes eingenommen. Viele Iraker sind geflüchtet, zahlreiche wurden getötet. Zuvor hatte die Regierung die irakische Armee und die Sicherheitsdienste abgezogen, die damals für die Sicherheit von Mossul zuständig waren.

Die Oktober-Demonstrationen begannen in Bagdad, der Hauptstadt des Irak. Die Iraker strömten zum Tahrir-Platz, um ihr Recht einzufordern: Ihr Recht auf Freiheit, Bildung, Arbeit, Gesundheit, Unterkunft, sauberes Wasser, Strom, Sicherheit, Umweltschutz und medizinische Versorgung. Der eigentliche Funke sprang am 26.9.2019 über. Zunächst versammelten sich die Intellektuellen vor dem Sitz des Premierministers Adel Abd ElMehdi. Sie wurden sofort brutal zusammen geschlagen und mit heißem Wasser übergossen. Darüber empörte sich die breite Masse. Nachdem Videos und Fotos herumgingen, die die gewaltsame Abwehr dokumentierten, schlug die Regierung noch härter zurück. Dann ging alles blitzschnell. Seit Anfang Oktober vermehren sich die Demonstranten Tag für Tag. 90 Prozent der Bagdader Bevölkerung ist jetzt auf der Straße. Je härter die Regierung zurückschlägt, desto beharrlicher das Volk. Die Regierung verhaftet die Demonstranten, setzt Tränengasgranaten ein, treibt die Menschenmengen auseinander. Viele sind getötet und verletzt worden.

Das Ziel der Demonstranten ist, den irakischen Premierminister zum Rücktritt zu bewegen. Das ganze Parlament soll zurücktreten und eine Übergangsregierung soll eingesetzt werden. Das Volk will vorgezogene Wahlen, ausgerichtet von der UN.

Allein am ersten Tag erschossen die Bereitschaftspolizei und irantreue Milizionäre 40 Menschen auf einen Schlag. 1700 wurden verletzt. Danach strömten noch mehr Menschen auf die Straßen. Am Tahrir-Platz im Zentrum von Bagdad wurde bis zum Morgen gekämpft. Am dritten Tag 74 Tote und mehr als 4000 verletzte Demonstranten und Sicherheitsleute. Erstaunlicherweise schwieg die irakische Regierung dazu.

Einige irakische Generale erklärten, dass sie keine Waffen gegen die Demonstranten benutzen würden. Die Täter sind andere, die mit dem Iran sehr eng verbunden ist. Es gibt verschiedene Gruppierungen, die ein Interesse haben, die Revolution zu stoppen: Zum einen ist die Bereitschaftspolizei der offiziellen irakischen Regierung auf den Schutz der Grünen Zone spezialisiert und wird vom Premierminister kontrolliert. Dann gibt es die verschiedenen irantreuen Milizen, die den Sturz der Regierung verhindern wollen: Zum einen Asa’ib Ahl al-Haq (AAH), bekannt als al-Khazali-Terrornetzwerk. Dies ist eine paramilitärisch geführte, schiitische Extremistenmiliz aus dem Irak. Der Chef ist Qais Hadi Sayed Hasan al-Khazali, der seit 2018 auf der Terror-Liste der USA steht. Weiterhin die neuere Miliz Saraya al-Khorasani, die Khorasani-Brigade, die besonders eng mit dem Iran verbunden agiert. Auch die Kata’ib Sayyid al-Shuhada ist eine irakische schiitische Miliz, die direkt von einem iranischen Generalmajor unterstützt wird und Spezialeinsätze außerhalb des Iran durchführt.

Die Angriffe auf die Demonstranten gingen weiter. Schläge, Schüsse, Tränengasgranaten, die ganze Zeit. Dann gingen die Menschen in sechs anderen irakischen Städten auf die Straße. In Bagdad und in diesen Städten herrscht ist seitdem Ausgangssperre. Jeden Tag neue Tote und Verletzte. Viele Menschenrechtler wurden verhaftet, weil sie die Demonstranten im ganzen Irak unterstützen. Sie sammeln Geld und schicken es nach Bagdad, damit Lebensmittel und Medikamente gekauft werden können.

Seit zwei Wochen sind Männer, Frauen, Kinder, Alte auf der Straße, sie schlafen kaum. Leute bringen Teppiche und Decken. Studenten, Schüler und Beamte streiken. Einige laufen mit Sammelbüchsen herum, damit Masken gegen das Tränengas gekauft werden können. Andere sprühen Graffitis auf Wände. Es ist eine Schar aus Künstlern, Ärzten, Studenten und Schülern, einfachen Leuten. Menschen reisen auch aus andern Städten an und bringen Geld, das sie zuhause gesammelt haben. Sie tragen Banner, auf denen „Iran raus! Freiheit für Bagdad!“ steht und „Das Volk wird die Regierung stürzen!“ Und all das passiert unter Beschuss.

Hussein Mansour, ein Demonstrant aus Medina AlSader:

„Zum ersten Mal habe ich das Gefühl Iraker zu sein, weil ich auf die Straße gegangen bin und laut meine Rechte eingefordert habe. Trotz der Gegenwehr und der Gewalt, die wir in der letzten Zeit erfahren haben, bin ich sehr glücklich, dass ich zum Tahrir-Platz gekommen bin. Denn dieser Ort ist der Platz der Befreiung. Und in den letzten Wochen ist der Platz zu einem kleinen irakischen Land geworden, das aus Schiiten, Sunniten, Kurden, Jesiden, Christen, Sabiern besteht –  ohne Diskriminierung und Unterschiede. Wir sind alle zusammen und wir wollen etwas verändern.“

Ein aktueller Bericht von Amnesty International besagt, dass die irakische Regierung die Demonstranten nicht mit Tränengas attackiert, um sie loszuwerden, sondern um sie zu töten. Obduktionen haben bestätigt, dass die Granaten durch die Schädel gegangen sind. Im Irak werden also aktuell erstmals auf der Welt Tränengasgranaten als Mordwaffe benutzt und nicht nur zur Abschreckung.

Seit einigen Tagen geht die Miliz mit Giftgas gegen die Demonstranten vor. Wahrscheinlich wird es noch mehr Tote geben. Mehr Verletzte und mehr Verhaftungen. Denn die iranische Führung wird alles tun, um ihre Position zu verteidigen.

Übersetzung aus dem Arabischen von Mowafaq Abdulmuati

Der Journalist Karam Hassawy lebt in Mossul. Er studierte an der Universität von Mossul Journalismus und arbeitet als freier Journalist und Fotograf für irakische Tageszeitungen und Magazine. Der Artikel erschien in ähnlicher Form bereits auf peopleandspomeniks.  

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Thomas Weigle
5 Jahre zuvor

Saddam lebt!!! Die Hinrichtung war ein Fake.

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