Zum gegebenen Zeitpunkt sind in zehn europäischen Ländern Rechtspopulistinnen und Rechtspopulisten an den Regierungen beteiligt. Damit nehmen diese gleichzeitig und zwangsweise auch eine Rolle ein, die eigentlich nicht zu ihrem Selbstverständnis passt.
Am 5. Juli 2018 hielt der Politikwissenschafter Dr. Stijn van Kessel an der Universität Wien einen Vortrag mit dem Titel „Populist Parties in Europe: Supply and Demand“. Der Vortrag war für mich als „fachfremde“ Person in vielerlei Hinsicht aufschlussreich, unter anderem deshalb, da es meine erste wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Thematik sein sollte. Ein Gastbeitrag von Thomas Unger.
Dr. van Kessel definiert Populismus anhand der Ansätze von Mudde (2004) und Stanley (2008). Beide haben den gemeinsamen Nenner, dass in der Ideologie von populistischen Parteien zunächst zwei vermeintlich homogene Gruppen erkennbar sind, auf der einen Seite „das Volk“ und auf der anderen Seite „die (korrupte) Elite“. Unterstrichen wird dies noch durch die Forderung, dass Politik von der „Volonté générale“, also dem Willen des Volkes, und nicht jenem der Elite, abhängen sollte.
In Europa stellen die radikalen Rechten die dominanteste populistische Parteien-Familie dar. Abgesehen von ihrem Anti-Elite-Standpunkt, definieren sie Menschen bzw. „das Volk“ durch ihre Ethnizität. Schlüsselfaktoren sind also Nativismus oder Ethno-Nationalismus. In Westeuropa zielen diese Parteien stark auf Migration ab. MigrantInnen – und seit 9/11 besonders auch Muslime – werden nicht als Teil der „nativen“ Bevölkerung gesehen.
Rechtspopulistische Parteien landen bei Wahlen in den meisten Fällen nicht auf dem ersten Platz. Ausnahmen bilden derzeit jedoch FIDESZ in Ungarn, PiS in Polen und SVP in der Schweiz. Da sie häufig durch „Mainstream“-Parteien in Regierungen „geholt“ werden, werden sie und ihre Programme laut Dr. van Kessel öffentlich und ideologisch durch diese legitimiert.
Eine Frage, die Dr. van Kessel in seinem Vortrag in den Raum stellte, sowie auch seine eigene Antwort darauf, empfinde ich als überaus interessant: „Ist Populismus selbstlimitierend und nur episodisch?“
Kommen Populistinnen und Populisten an die Macht, geraten sie unweigerlich in eine Zwickmühle. Sie laufen Gefahr, nun selbst jene Elite und jenes Establishment zu werden. Jene Gruppen also, denen sie ja eigentlich den Kampf angesagt haben. Sie stehen vor der Herausforderung, klar zu machen, dass sie selbst nicht die Elite sind, obwohl sie de facto Teil dieser Elite werden.
Dr. van Kessel zitiert den Spruch „Populism dies in Power“, weil es PopulistInnen in Regierungen gemäß einiger ForscherInnen schwer hätten, ihre Wahlversprechen einzulösen. Er selbst glaube jedoch nicht daran. Populistische Parteien können sehr wohl im Amt „überleben“, und dabei auch noch populistisch bleiben. Wie funktioniert das, wenn sie nun offenbar selbst zur Elite gehören?
Prof. Zsolt Enyedi (2018) von der Central European University hat eine Antwort darauf: sobald PopulistInnen im Amt sind, müssen sie sich verändern, und ihre Gegner neu definieren, so dass sie selbst – also die eigene Regierung – und die Sitze im Parlament von der Definition der „Elite“ exkludiert werden. Alternative Feindbilder gibt es immerhin noch massenweise zur Auswahl: Internationale Persönlichkeiten, denen viel Macht und Einfluss auf aktuelle Entwicklungen zugeschrieben wird (man denke an Orbáns Schreckgespenst George Soros), andere Nationen, NGOs, soziale und kulturelle Eliten, Konzerne, die EU, und so weiter. Das heißt, die regierenden PopulistInnen müssen neue „Eliten“ finden, die sie angeblich davon abhalten wollen, den „Willen des Volkes“ durchzusetzen. Dabei wird auch gerne mal auf Verschwörungstheorien, die sich um geheime Pläne drehen (Bevölkerungsaustausch, beabsichtigte Destabilisierung durch Einwanderungswellen, oder subtiler Antisemitismus in Form des Vorwurfs, reiche JüdInnen wie Soros würden das Weltgeschehen massiv beeinflussen), zurückgegriffen. So lange die PopulistInnen das mit Erfolg tun, bleiben sie „Populists in Power“, so Enyedi.
Ob und welche derzeit regierenden populistischen Parteien überleben bzw. an der Macht bleiben werden, wird sich bei den nächsten Wahlen zeigen. Spätestens.
Quellen:
Enyedi, Zsolt (2018): Understanding the Rise of the Populist Establishment. http://blogs.lse.ac.uk/europpblog/2018/07/04/understanding-the-rise-of-the-populist-establishment/
Mudde, Cas (2004): The Populist Zeitgeist. In: Government and Opposition, 39(4), p. 543.
Stanley, Ben (2008): The thin Ideology of Populism. In: Journal of Political Ideologies, 13(1), p. 102.
Thomas Unger ist Psychologe und Sozialarbeiter und ist in der Wiener Wohnungslosenhilfe tätig. Seit 2017 gehört er zum Team des ‚Goldenen Bretts vorm Kopf‘, dem Satirepreis für Pseudowissenschaften.