Es ist die Visitenkarte der Aufklärung: dass sie für alle Menschen aller Zeiten gültig sei, Albert Memmi hat diese Idee als „Luxus“ bezeichnet: Luxus für Juden, die in Gesellschaften leben, in denen sie erst akzeptiert werden, wenn sie keine Juden mehr sind. Israelis schon mal gar nicht. Teil 2 der Natan-Sznaider-Lese.
Zu der Bilanz von Albert Memmis Jahrhundertleben – 1920 in Tunis geboren, 2020 in Paris gestorben – zählt Sznaider die Einsicht, dass es politischer Irrsinn sei zu glauben, „Marxismus und Sozialismus ließen sich als universal gültige Modelle beliebig exportieren“. In der Tat ist dieser Ideen-Export nur mäßig erfolgreich gewesen, heute wird eher in Gegenrichtung gedacht: Ob Kolonialismus nicht nach Europa importiert worden sei, der eigentliche Weg also gar nicht von Paris nach Tunis, sondern von Windhuk nach Auschwitz geführt habe? Und ob es daher nicht der Rassismus sei, der den Antisemitismus hervorbringe, der universale Hass den partikularen?
In einer globalen Welt, schreibt Natan Sznaider, will eine globale Elite so etwas gerne glauben. Dass die koloniale Erfahrung eine universale sei, ist jedenfalls zentrales Thema von Achille Mbembe, der promovierte Historiker spricht von der „Universalität der Negerkondition in der modernen Welt“. Etwas weniger universal die These, dass erst die koloniale Erfahrung das „kulturelle Reservoir“ (Jürgen Zimmerer) geschaffen habe, einen mentalen Erfahrungsbestand, aus dem sich Holocaust und Vernichtungskrieg hätten speisen können.
Als vornehmste Zeugin für diese Ursprungsthese – die sich auf allenfalls dünnes Quellenmaterial stützen kann – wird immer wieder Hannah Arendt angeführt. So etwa von Michael Rothberg, der US-amerikanische Literaturwissenschaftler hat sein Konzept einer „multidirektionalen Erinnerung“ auf Passagen aus Arendts „Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft“ aufgebaut, er behauptet, in der kolonialen Herrschaft über Afrika habe Arendt die „Grundlage“ für Auschwitz erkannt, habe aber zugleich den rassistischen Blick auf die Kolonisierten übernommen und mehr als das, sie habe diesen Blick „bestätigt“.
Arendt soll den rassistischen Blick = Grundlage für Auschwitz = bestätigt haben? Natan Sznaider ist ein ausgewiesener Arendt-Experte (und sein Buch ein insgeheimer Anti-Rothberg), er stellt fest: „Nirgends eine klare kausale Kette“, Arendt schreibe über den britischen Kolonialismus und nicht den deutschen, sie schildere „den europäischen Blick auf Afrika“ und nicht ihren eigenen, sie trage die rassistische Wahrnehmung nicht vor, sondern erzähle sie nach. Und tue dies nicht, weil sie das kolonialistische System erklären wolle, sondern etwas, das jenseits aller kolonialen Vorstellungen liege: Auschwitz. Kein Menschheitsverbrechen, kein white on white crime, sondern die Ermordung von Juden.
Es ist „der jüdische Blick Arendts“, den Sznaider hier (wie schon in Teil l) rehabilitiert. Und sich fragt, was eigentlich passiere, wenn ausgerechnet Arendt aus ihrer Bindung an das jüdisch Partikulare herausgelöst und ins Geschirr eines universalen, des postkolonialen Denkens eingespannt wird:
„Verstehen wir die Judenvernichtung besser, wenn wir den Blick auf Afrika richten? Oder wenn wir den Vernichtungsfeldzug der Deutschen im Osten Europas als kolonialistisch bewerten? Und was heißt es für das Verständnis des Holocaust, wenn wir ‚beweisen‘ können, dass Arendt ihn entweder über den Kolonialismus verstand oder auch nicht? Haben solche Erkenntnisse wissenschaftliche oder politische Konsequenzen?“.
„Frei schwebende Intelligenz“
Mit dieser Frage kommt wieder Karl Mannheim ins Spiel, der Wissenssoziologe, mit dem Sznaider sein Buch eröffnet hat: Als Voraussetzung für die Idee einer „freischwebenden Intelligenz“, die so verführerisch wirkt auf Intellektuelle, habe Mannheim die Fähigkeit benannt, „zwischen wissenschaftlichen und politischen Argumenten zu unterscheiden“. Politik ist parteilich, Wissenschaft ist es nicht – die Einsicht ist simpel, nur derzeit verschüttet, Sznaiders Urteil über die deutsche Debatte darum höflich, aber hart:
„In einer globalen Welt will eine globale Elite ihre Erinnerungspolitik transnational verstehen“, schreibt er, sie will frei über die nationalen Erinnerungslandschaften hinweg schweben. Gerade in der deutschen Debatte formuliere sich der „Denkstil eines sich fortschrittlich wähnenden intellektuellen Milieus, das sich aus der Partikularität der deutsch-jüdischen Beziehungen befreien will“. Zwar sei dies, so Sznaider mit sanftem Spott, „ein ambitioniertes Anliegen, wenn sich eine Kulturelite zu Beginn des 21. Jahrhunderts den Habitus der Transnationalität aneignen will“. Der Blick allerdings, den diese weltoffene Elite auf die national organisierte Welt werfe, sei so „in sich ruhend“, dass er – die Bemerkung entstammt einem unterhaltsamen taz-Talk, den Jan Feddersen mit Sznaider geführt hat – daran erinnere, „wie früher Aristokraten auf Bauern geschaut haben“.
Nun ist es ja so, alle können wir – um Sznaider zu interpretieren – ein bäuerliches Leben mögen oder ein aristokratisches, können ein meta-nationales Kulturmilieu bewundern oder bewitzeln, können dessen politisches Interesse begrüßen oder bekämpfen, der Punkt in Sznaiders Argumention ist, dass sich das politische Interesse dieses Milieus entlang der „jüdischen Frage“ formuliert. Wieder ist es das jüdische Volk, dem gegenüber sich – auch die Nazis waren ja nun eine trans-nationale Bewegung – ein gemeinsamer politischer Wille erfühlen, erahnen, erdenken lassen soll. Und in eben diesem Erfühlen, Erahnen, Erdenken gewinnt die BDS-Kampagne ihre dezidiert politische Funktion, sie schafft die emotionalen Anlässe, die es erlauben, das jüdische Kollektiv wieder und wieder durch die postkoloniale Drehtür zu schieben. Erster Schritt:
Auschwitz wird universalisiert. So etwas komme „häufiger“ vor (Jürgen Zimmerer), sei „überall“ (Achille Mbembe), sei ein „verbreitetes Muster“ (Dirk Moses) oder – die hier beliebte Variante – Auschwitz wird sehr wohl als singulär gesehen, dann aber zum „Menschheitsverbrechen“ universalisiert. So oder so wird der Holocaust abgelöst von denen, die ihm zum Opfer gefallen sind – und damit abgelöst auch von denen, die gemordet haben, aber um die Deutschen geht es hier einmal nicht – , Sznaider spricht von einer „radikalen Vereinnahmung der jüdischen Katastrophe“.
Es ist eine Vereinnahmung durch Identifikation, dies der zweite Schritt: Die universalisierten Erinnerungen gleichen sich an, „der Begriff des Traumas spielt hier eine große Rolle“, so Sznaider, im Trauma-Talk werden Erinnerungen in alle Richtungen austauschbar. Darauf basiert, um bei dem Beispiel zu bleiben, das Michael Rothberg-Konzept (hier die ruhrbarone-Besprechung von Rothbergs Buch), es setzt voraus, dass sich traumatische Erinnerungen – „ob wir nun eine unglückliche Kindheit erlitten oder die Erfahrung eines Konzentrationslagers hinter uns haben“, wie Sznaider schreibt – wechselseitig verstehen, vertiefen und bestärken würden. Was nun allerdings „kein empirisches Konzept“ sei, sondern ein normatives, wie Sznaider im taz-Talk feststellt: „Rothberg sagt ja nicht, dass Erinnerungen multidirektional sind, sondern dass Erinnerungen multidirektional sein sollen.“
Und was, wenn sie es nicht sein wollen? Dann, dritter Schritt, kenne das multidirektionale Gespräch nur noch Freund und Feind. Wer sich der Gleichmacherei widersetze und darauf beharre, dass es Juden waren, die ermordet wurden und keine Menschen, Jüdinnen und keine Weißen, der verweigere sich der Solidarität mit den Unterdrückten dieser Erde, letztlich gehe es ihm – so haben es Zimmerer und Rothberg im März 2021 in DIE ZEIT behauptet – um „,die Sicherung einer weißen hegemonialen Position im Innern und die dominierende Stellung des ‚Westens‘ nach außen“.
Die Drehtür dreht. Eingangs ein sehr konkretes Verbrechen an den Juden Europas. Ausgangs ein sehr weißer Hegemon, gestrichelt wie ein Ausmalbild, das Antisemiten aller Couleur füllen können. Zwischendurch eine „Gruppentherapie“, wie Sznaider spöttelt, in der historische Ereignisse so austauchbar werden wie individuelle Traumata, die auf sie reagieren.
Edward Said, ein „jüdischer Palästinenser“
Solcher Nicht-Politik, wie Rothberg sie entwirft, stellt Sznaider sein Konzept entgegen: kein therapeutisches, in dem sich Erfahrung verflacht, aber auch kein frontales Gegenüber, was er herausarbeiten will, sind „parallele Linien der Erfahrung“.
So sein Blick auf das Werk von Edward Said, den Literaturwissenschaftler, 1935 in Jerusalem in eine wohlhabende, christlich-palästinensische Familie hinein geboren, US-amerikanische Eliteschule, dann Princeton und Harvard, dann Professor an der Columbia University, New York: Said sei zum „Inbegriff des palästinensischen Intellektuellen“ geworden, „der im Westen lebt und von dort aus (…) ‚zurückschreibt‘“: Sozial völlig anders gestellt als Frantz Fanon und mit Optionen gesegnet, die Fanon nie hatte, sei Said dennoch in der Lage gewesen, Fanon fortzuschreiben.
In seinem „Orientalismus“, einem „Schlüsselwerk des postkolonialen Diskurses“, 1978 erschienen, kontere Said so ziemlich alle Parameter, die als westlich gelten können: das Gegenüber von „West und Ost, Moderne und Tradition, Aufklärung und Rückschritt, Säkularisierung und Religiosität“. Alle diese Dichotomien – selbst noch die Unterscheidung von Wissenschaft und Politik – würden bei Said zum Bauteil einer Unterdrückungsapparatur, die vom Westen ausgehe. Wenig erstaunlich also, dass auch das Wort von einer „de facto apartheid“ auf ihn zurückgehe, wobei er sich gar nicht für Großtheorien interessiert habe, der weltgewandte Said habe durchweg von einem dezidiert partikularen, einem palästinensischen Standpunkt aus argumentiert – er habe zurückgeschrieben wie Fanon es tat, wie Arendt, wie Memmi, wie Lanzmann.
Und habe sich dabei ganz selbstverständlich auf die universalen Ideen des eben noch verteufelten Westens berufen, auf das Selbstbestimmungsrecht des Menschen, um das konkrete Recht konkreter Palästinenser auf einen konkreten Staat zu begründen.
Während er das konkrete Recht der Juden auf einen konkreten jüdischen Staat verneint habe. Der Widerspruch ist evident, mit diesem Widerspruch habe Said nun allerdings eine innerjüdische Debatte gespiegelt. Auch im jüdischen Denken der Diaspora seien ja nun immense Vorbehalte gegen die Idee jüdisch-nationaler Souveränität aufgekommen, Said habe diese Vorbehalte aufgenommen, sie in eine „ethische Macht“ verwandelt und auf diese Weise jüdisches Denken gegen Israel ausgespielt, genauer: ein universell-jüdisches Denken gegen den partikular-jüdischen Staat. Im Sommer 2000 habe Said sich denn auch mit weiser Ironie zum „‘letzten jüdischen Intellektuellen‘“ erklärt, einem „‘jüdischen Palästinenser‘“.
Es ist ein respektvoller Blick, den Sznaider auf Said wirft und auf dessen „strategischen Universalismus“, der es ihm ermöglicht habe, westliches Denken zu übernehmen und zu verwerfen, nationales Selbstbestimmungsrecht zu erteilen und zu entziehen, staatliche Souveränität in Grund und Boden zu kritisieren und diese Kritik dann ausschließlich gegen jüdische Souveränität zu richten. Wie Sznaider dies schildert, erinnert an das, was Christopher Hitchens geschrieben hat, der legendäre britische Journalist war lange Jahre mit Said befreundet, nach Saids Tod sprach er von einer „doppelten Buchführung“, die er gelernt habe zu führen, sobald er mit seinem Freund über Politik einerseits und palästinensische Politik andererseits diskutiert habe.
„Am Ende seines Lebens“ – Said hat zusammen mit Daniel Barenboim, jüdisch-israelischer Dirigent, das israelisch-arabische West-Eastern-Divan-Orchestra gegründet – „am Ende seines Lebens war der politische Kampf ein ästhetischer …“
Sowohl drinnen als draußen
Was Sznaider hier herausarbeitet: dass es sich – bei Lanzmann und Fanon, Memmi und Said et al – um „parallele Beschreibungen aus bestimmten Perspektiven“ handele, die nah beieinander verlaufen wie Schienen, sich aber nicht berühren. Sich nicht berühren können, aber eben auch nicht berühren müssen. Fluchtlinien der Erinnerung, die fortgeschrieben werden. Politik findet zwischen solchen Fluchtlinien statt, im Gleisbett sozusagen, dort, wo sich die Argumentationen der jeweils anderen Seite entschlüsseln lassen. Wenn aber, gehe es nicht mehr um Kausalitäten – „Kausalitäten können hier nur deklariert, aber sicher nicht bewiesen werden“ – und auch nicht um „historische Wahrheit“, Sznaider stellt eine unaufgeregte Frage:
Was bewirken und worauf zielen Aussagen, die ein großes Ganzes anrufen, sei es „Kolonialismus“ oder „Imperialismus“ oder „Apartheid“, sei es – diese Post geht an Adressen, die in der Straße liegen, in der man selber denkt – sei es „Antisemitismus“? Geht es, werden solche Begriffe eingeführt, um Erkenntnis oder Politik? Um Moral oder ein ästhetisches Urteil?
„Was nützt es“, fragt Sznaider, „den Zionismus entweder als kolonialistisch oder emanzipatorisch zu beschreiben?“
Er will raus aus der Drehtür, raus aus den Dichotomien, mit denen der Postkolonialismus die Welt zerteile „in Kolonisierende und Kolonisierte, in Weiße und Nichtweiße, in diejenigen, die orientalisiert werden und die, die orientalisieren, in Täter und Opfer, in moralisch Unterlegene, die politisch überlegen sind, gegenüber moralisch Überlegenen“. Jüdische Erfahrungen erzählen eine andere Geschichte, schreibt Sznaider, „die Geschichte des ‚Sowohl-als-auch‘“.
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Morgen folgt Teil (III): „Schade um die Documenta“.
Hier Teil (I) „Die postkoloniale Drehtür: Natan Sznaider über eine deutsche Debatte“
[…] Die postkoloniale Drehtür (II): Natan Sznaider über den jüdischen Blick von Hannah Arendt und Edw… von Thomas Wessel in Kultur, Politik, Wissen […]
[…] meint jenes Kulturmilieu, das sich selber – siehe hier – als transnational versteht und dringend ablösen will von der örtlichen Gebundenheit an […]
[…] befreien will, diskutieren schon mal gar nicht mit. Zur Eröffnung der Talkreihe soll stattdessen Edward Said eingespielt werden, das Video ist 25 Jahre alt, Said seit 19 Jahren tot, BDS seit 17 Jahren aktiv: Offenbar hat […]
[…] befreien will, diskutieren schon mal gar nicht mit. Zur Eröffnung der Talkreihe soll stattdessen Edward Said eingespielt werden, das Video ist 25 Jahre alt, Said seit 19 Jahren tot, BDS seit 17 Jahren aktiv: Offenbar hat […]