„Die Reaktionen in Deutschland auf die Massaker der Hamas waren eine große Enttäuschung“

Leonid Chraga Foto: Privat


Leonid Chraga ist Geschäftsführer der Jüdischen Gemeinde in Dortmund und Sozialdemokrat. Der  7. Oktober 2023 war auch für ihn eine Zäsur. Protokoll: Stefan Laurin

„Ich habe von den Massakern der Hamas erfahren, als ich am 7. Oktober mit meinen Kindern auf dem Spielplatz war. Auf einmal bekam ich immer mehr Nachrichten von Freunden auf mein Smartphone, darunter viele Bilder und Videos. Als ich sah, wie Terroristen aus weißen Toyotas ausstiegen und auf Menschen schossen, wurde mir klar, dass sie nach Israel eingedrungen waren. Das Ausmaß wurde mir erst nach und nach klar. Es hatte etwas Surreales. So etwas hatte es in dieser Dimension noch nie gegeben. Die Morde in den Kibbuzim, die Vergewaltigungen der Frauen, es war wie in einem Horrorfilm. Ich war, wie alle Juden, die ich kenne, tief schockiert. Unabhängig davon, welche Beziehung man zu Israel hat, es war für uns alle immer eine Lebensversicherung. Israel stand für „Nie wieder“, es stand dafür, dass Juden nach der Schoah nie wieder Opfer sein würden. Und das garantierte für uns alle Israel durch seine Stärke und Wehrhaftigkeit. Fast alle Juden haben zahlreiche Freunde oder Verwandte in Israel. Verwandte von mir leben im Süden, in Aschdod und Tel Aviv,  Städten, die häufig mit Raketen beschossen werden. Ich habe mir große Sorgen um sie gemacht und auch um einen Cousin von mir, der damals beim Militär war, und eine Cousine, die für Magen David Adom, das israelische Gegenstück des Roten Kreuzes, arbeitet.

Die Reaktionen in Deutschland auf die Massaker der Hamas waren eine große Enttäuschung. Als ich sah, dass in Berlin-Neukölln die Pogrome der Hamas gefeiert und Süßigkeiten verteilt wurden, hat das in mir Wut und Ekel hervorgerufen. Das war nichts anderes als eine unglaubliche Verherrlichung von Terror und Vergewaltigungen. Es war pervers. Alle, die vor einem Jahr feierten, wussten genau, was passiert war. Die Hamas hat ihre Verbrechen ja gestreamt.

Enttäuscht hat mich, dass die meisten in Deutschland die Verbrechen der Hamas einfach so hingenommen haben. Nur wenige meiner Freunde und Kollegen aus der Politik haben empathisch und mit Mitgefühl reagiert.

Als Russland die Ukraine überfallen hat, gab es eine große Welle der Solidarität mit den Ukrainern, viele protestierten gegen Russland. Im Winter gingen dann Millionen gegen die AfD auf die Straße und demonstrierten gegen Rechtsradikalismus. Diese Demonstrationen waren alle gut und gerechtfertigt. Aber die Proteste gegen den Überfall der Hamas auf Israel fielen im Vergleich dazu fast überall lächerlich klein aus. 300 Dortmunder demonstrierten am 10. Oktober vergangenen Jahres gegen die Judenmorde in Israel. Als es ein paar Monate später gegen die AfD ging, waren es 30.000. Im Aufruf zu der Demonstration gegen die AfD kam das Wort Antisemitismus nicht einmal vor. Einige der Redner, aber längst nicht alle, gingen dann doch noch darauf ein.

Wir haben alle gespürt, wie egal wir, wie egal die Juden, den meisten Menschen in diesem Land sind. Nicht einmal, wenn Frauen und Kinder massakriert werden, stellt man sich an unsere Seite. Die Sympathien in diesem Land sind klar verteilt. Die Solidarität mit den Juden und Israel nimmt seit Jahren ab und seit dem 7. Oktober haben sich die Verhältnisse aus jüdischer Sicht weiter verschlechtert. Die Hamas hat den medialen Krieg gewonnen und nutzt dafür die zivilen Opfer, die sie allein aus propagandistischen Gründen nicht nur in Kauf nimmt, sondern dringend benötigt. Sie will die zivilen Opfer, sonst würde sie ja nicht Raketenstellungen in Wohngebieten und Schulen einrichten. Die Welt fällt auf diese Taktik herein.

Als ich älteren Gemeindemitgliedern von meiner Enttäuschung erzählte, sagten sie mir, ich wäre jetzt da angekommen, wo sie schon lange wären. Sie hatten nichts anderes erwartet. Viele Juden, die Mehrheit, hat daraus die Konsequenz gezogen, sich aus der Gesellschaft zurückzuziehen. Damit meine ich nicht, dass sie keine Kippa oder keinen Davidstern mehr tragen, das war schon lange vor dem 7. Oktober gefährlich. Sie verlassen Vereine, löschen ihre Social-Media-Profile, aus Sorge, als Juden erkannt zu werden, hören auf, sich in Parteien zu engagieren. Eine Minderheit geht einen anderen Weg und engagiert sich jetzt mehr als früher und legt auch Wert darauf, als Juden erkannt zu werden und etwas in der Gesellschaft verändern zu wollen.

So schlimm die Lage auch in Deutschland ist, wir sind immer noch weit von Verhältnissen wie in Frankreich entfernt, das viele Juden in den vergangenen Jahren verlassen haben, und es ist auch nicht so wie im schwedischen Malmö, wo sich Juden kaum noch auf die Straße trauen. Trotz der ausbleibenden Solidarität ist die Lage für Juden in Deutschland vergleichsweise gut, wenn man sie mit anderen Staaten vergleicht. Und auch Berlin, wo es ja viel schlimmer ist als in Dortmund und im Ruhrgebiet, ist nach wie vor bei Juden und Israelis beliebt. Es gibt dort einen massiven Judenhass, aber es wurde kürzlich auch eine neue Tora in einer Synagoge eingeweiht.

Auch in Dortmund sind wir nicht völlig hoffnungslos. Keiner will und wird die Stadt freiwillig verlassen, wir haben hier unsere Kinder zur Welt gebracht, unsere Häuser gebaut und uns freiwillig für Dortmund als unser zu Hause und unsere neue Wahlheimat entschieden. Zusammen mit der Stadt wird bald eine jüdische Grundschule eröffnet. trotz Sorgen um die Sicherheit haben wir jetzt schon viele Anmeldungen für die Schule. Für mich ist aufgeben und verstecken keine Lösung, keine hinnehmbare Option. Wenn es mühsam ist, müssen wir jeden Tag dafür einstehen, dass “nie wieder” nicht zu noch einer inflationären, wertlosen Floskel verkommt.“

 

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