Die Realität heißt weiter Erdogan

Macit Karaahmetoğlu Foto: Stella von Saldern Lizenz: Copyright


Trotz Wirtschaftskrise und Zerfall des Rechtsstaats bleibt Recep Tayyip Erdogan Präsident der Türkei. Auch wenn die Wahlen nie fair waren, gilt es für Deutschland und Europa, schnell die neue alte Realität anzunehmen und eine Brücke zur Türkei zu bauen. Denn für eine Verschlechterung der Beziehungen steht für alle Akteure zu viel auf dem Spiel. Unser Gastautor Macit Karaahmetoglu ist Mitglied der SPD-Bundestagsfraktion.

Recep Tayyip Erdogan bleibt Präsident der Türkei. Er hat wieder einmal gewonnen, wird nach zwei Jahrzehnten für weitere fünf Jahre das Schicksal der Türkei bestimmen. Die offenkundigen Gründe für seinen Sieg: Kontrolle fast aller Medien und ihrer Inhalte, Kontrolle der Justiz und damit die Möglichkeit politische Gegner zu unterdrücken und – hier wird beides verbunden – die Skrupellosigkeit seinem Gegenkandidaten mit Lügen und Fake News eine Nähe zur Terrororganisation PKK zu unterstellen.

Wer sich einer solchen Strategie nicht zu schade ist und die Möglichkeiten besitzt, diese Falschbehauptungen auf Dauerschleife unter die Menschen zu bringen, der gewinnt eben auch die aussichtslosesten Wahlen – trotz desaströser Wirtschaftslage und immer stärker abgebauter Rechtsstaatlichkeit. Unter wirklich fairen Bedingungen hätte Erdogan wohl kaum mehr als 25% der Stimmen erhalten. Auch die knappe Wiederwahl mit rund 52% ist ein Misserfolg für ihn, hatte er doch einen klaren Sieg mit an die 60% für die Stichwahl angepeilt. Wahre Legitimation sieht anders aus.

Aber was bedeutet dieses Ergebnis nun?

Die Opposition wird diesen Kraftakt der vergangenen Jahre und den Moment des Misserfolgs erst einmal abschütteln müssen. Ich halte es für wahrscheinlich, dass das Bündnis in dieser Konstellation weiter Bestand haben kann. Die Beteiligten werden in Kürze die Tatsache anerkennen, dass bereits die Stichwahl ein großer Erfolg und die Stimmverluste für Erdogans Lager immens gewesen sind. Es wird eine Türkei nach Präsident Erdogan geben, die Wechselstimmung in knapp der Hälfte der Bevölkerung wird im Zweifel nur weiter anwachsen können.

Die große Botschaft Kilicdaroglus lag darin, das Land vereinen zu wollen. Diese Botschaft ist, mit Blick auf das sehr gespaltene Wahlergebnis, weiter so wichtig wie nie zuvor.

Und das führt mich nach Deutschland. Wie sollte unsere Bundesregierung mit dem Wahlsieg von Erdogan umgehen?

Ja, es ist unbestreitbar, dass das Spektrum der demokratischen Parteien in unserem Land geschlossen auf eine Abwahl des schwächelnden Machthabers gehofft hat. Und doch werden wir gut daran tun, uns dieser neuen alten Realität möglichst schnell zu stellen, den Wahlsieger anzuerkennen und den Gesprächsfaden nicht abreißen zu lassen. Es ist zu begrüßen, dass Bundeskanzler Olaf Scholz Erdogan umgehend nach Berlin eingeladen hat, um die Gespräche zu gemeinsamen Anliegen schnell wieder aufzunehmen. Ein Blick auf die Weltkarte genügt, um zu erkennen, welche geostrategische Bedeutung die Türkei hat. Deutschland und Europa sind auf die Türkei als Partnerland angewiesen. Die Türkei ist aber auch auf Deutschland und Europa angewiesen. Und deshalb sollte unsere Regierung in den anstehenden Gesprächen auch sehr deutlich die Hoffnung und Erwartung Deutschlands klarmachen, dass Erdogan die Zeichen der Zeit anerkennt. Die wirtschaftliche Lage seines Landes ist desaströs, der Rechtsstaat kaum noch existent. Insbesondere die junge Bevölkerung sieht im aktuellen Zustand des Landes kaum noch Perspektiven für sich. Das wird Präsident Erdogan in der neuen Amtszeit nicht weiter ignorieren können.

Die einstige Hoffnung vor der Wahl, auch in Teilen der deutsch-türkischen Community, war, dass die Türkei sich nach einem Oppositionserfolg Europa wieder annähern könnte. Dass es Visumsfreiheit geben oder die Zollunion gestärkt werden könnte. All dies nun über den Haufen zu werfen, wäre das völlig falsche Signal – Erdogan hin oder her. Denn die Türkei ist nicht Recep Tayyip Erdogan. Die Türkei ist ein Land mit über 60 Millionen Stimmberechtigten, von denen knapp die Hälfte eben nicht den zerstörerischen Kurs des amtierenden Machthabers unterstützt.

Deutschland sollte ungeachtet dieses ohne jeden Zweifel enttäuschenden Wahlergebnisses eine Brücke bauen – für die Menschen der Türkei und für die Zukunft dieses Landes, auch wenn diese noch für einige Jahre hinter dunklen Wolken auf sich warte lässt.

 

Zur Person: Macit Karaahmetoğlu wurde 1968 in Rize (Türkei) geboren und kam mit 11 Jahren nach Deutschland. Der Fachanwalt für Urheber- und Medienrecht führt seit 1997 eine eigene Kanzlei und ist seit 2021 Mitglied der SPD-Bundestagsfraktion für den Wahlkreis Ludwigsburg.

Er ist stellvertretender Vorsitzender der Deutsch-Türkischen Parlamentariergruppe und Präsident der Deutsch-Türkischen Gesellschaft (DTG e.V.).

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Wolfram Obermanns
Wolfram Obermanns
1 Jahr zuvor

„Die große Botschaft Kilicdaroglus lag darin, das Land vereinen zu wollen.“
Bei den Wählern ist aber auch angekommen, daß ein Tattergreis mit nationalistischen Parolen auf Stimmenfang ging.
Ganz abgesehen davon, das nicht geringe Teile der türkischen Bevölkerung der Opposition noch weniger zutraut als der AKP.
Wer gegen die Erdogan-Partei gewinnen will, muss gerade zu der letzten Herausforderung in einem feindlich gesinnten medialen Umfeld eine Lösung finden.

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