Letzten Samstag, am 27.10.2018 fand die „Ritournelle“ im Schauspielhaus Bochum statt. Ab 19 Uhr konnten sich interessierte Liebhaber der avancierten elektronischen Pop-Musik dieser hingeben und bis zum letzten Act um 3 Uhr nachts durchtanzen, wegen der Zeitumstellung sogar eigentlich eine Stunde länger.
Unter der Intendanz von Johan Simons fand die Ritournelle die letzten drei Jahre als Bestandteil der Ruhrtriennale statt. In dieser Zeit wurden die Besucher zu Fans, denn nicht nur die Musik hat immer Spaß gemacht, sondern auch die künstlerischen Installationen, die rund um die Jahrhunderthalle aufgebaut wurden. Man setzte sich zum Beispiel in einen Enddarm und während man aus dem dazugehörigen Poloch schaute, pustete man die verteilten Merchandise-Seifenblasen aus ebensolchem hinaus. Welch Freude das verbreitete und welch absurde Fotos es entstehen ließ! Da die Intendanz der Ruhrtriennale zu diesem Jahr wechselte, war nicht nur ich traurig, dass die Ritournelle 2017 ihrem Ende entgegenblickte. Überraschenderweise hat Herr Simons aber mit der Spielzeiteröffnung des Schauspielhauses seine Veranstaltung als Begrüßungsgeschenk als dortiger neuer Intendant nochmals mitgebracht und 800 Fans eine weitere tolle Nacht elektronischer Pop-Musik beschert. Nachdem das Schauspielhaus anfing die Karten zu verkaufen waren diese sehr schnell ausverkauft, was kein Wunder war, denn auch in diesem Jahr wurden wieder vielversprechende Acts der avantgardistischen Elektro-Szene einladen. Dazu weiter unten mehr.
Vor Mitternacht
Zu Beginn der Veranstaltung kam tatsächlich zunächst der Gedanke auf, wo denn all die Menschen sind, denn von einer „Ausverkauft-Atmosphäre“ war nichts zu spüren. Im großen Haus des Schauspielhauses, wo gerade Mount Kimbie ein DJ-Set auflegte, war es relativ leer und es kam nicht so richtig Stimmung auf. Zu diesem Zeitpunkt des Abends warf man sich eher noch zweifelnde Blicke zu und wusste nicht so recht, wie man sich zur Musik bewegen sollte. Generell wurde darüber gesprochen, bzw. im Vorhinein darüber gemunkelt, wie man denn eine so große Veranstaltung der Jahrhunderthalle mit mehreren Hallen und einem riesigem Außengelände in ein so kleines Haus mit nur einem „Floor“ verlegen könne.
Die Vermutung des Misslingens schien sich zunächst zu bestätigen, bis James Holden & The Animal Spirits auf die Bühne kamen. Menschen fingen an sich zu bewegen und die manuell erzeugten Klänge der vielen Musiker on stage zu feiern. Es begann ab 23.45 Uhr wirklich Spaß zu machen und eigentlich war ab diesem Zeitpunkt auch kein Halten mehr, denn was jetzt mit Rhythmus und dem „Endlich die Musik fühlen“ eingeläutet wurde, hörte zumindest nicht mehr auf spannend zu bleiben.
Nach Mitternacht
Als nächstes kamen FAKA auf die Bühne, eine queere Kombo, die an diesem Tag nur zu zweit anreiste, aber deswegen nicht weniger gute Laune machte. Nackt, exzentrisch, rhythmisch, beeindruckend schnell, erotisch, so abseits der europäischen Norm Musik zu machen: da haben die beiden echt verstanden, was Spaß und Leidenschaft bedeutet und mir echt etwas gezeigt, was ich in der Form vorher noch nie gesehen hatte. Schade war, dass der tanzende Part des Duos nach einiger Zeit von der Bühne verschwand und nur noch der musizierende Mensch verblieb. Schade war das nicht, weil er keine Musik machen konnte, sondern weil der singende und tanzende Part Party gemacht hat und die ausrastende Menge mitreißen konnte. Die hatten es drauf.
Als nächstes kam die gebürtige Französin Coucou Chloe auf die Bühne und präsentierte irgendwie eine Mischung aus jazzigen Beats, Techno und Rap. Das war echt eine seltsame Kombination für mich, aber sie, mit Cappi, fast inkognito auf der Bühne, hat Bock gemacht und wurde genauso gefeiert, wie die Künstler zuvor.
Mein persönliches Highlight kam dann im Anschluss: Arca aus Venezuela. Ich habe mit völliger Verstörung gerechnet, aber ich hatte es unterschätzt. Die Projektionen an einer Leinwand zu seinen Songs machten es mühevoll immer zur Bühne zu schauen. Gefühle von Ekel, Überraschung, eben diese erwähnte Verstörung, Begeisterung und Belustigung wechselten sich so schnell ab, dass man sich danach entgeistert anschaute und sich tatsächlich fragte, was man da gerade gesehen hat. Das Spiel mit rohen, unverarbeiteten Gefühlen, Geschehnissen, wie Geburt, Ausscheidung oder Sexualität hat er gewonnen und in Perfektion vorgeführt. Das war krass.
Was mir tatsächlich fehlte: die Kunst, die sonst noch auf dem Gelände der Jahrhunderthalle verteilt war, die Stationen, die man spaßeshalber ansteuern konnte, um sich kaputt zu lachen, mehr Auswahl an Getränken und essen und vielleicht noch weitere kleine Orte für musikalische Experimente. Ich habe die Festival-Stimmung vermisst.
Meine Essenz: Underground lohnt sich und ich möchte nicht, dass es das wirkliche, letzte Mal war.