Die Ruhrbarone gratulieren Wikipedia zum Geburtstag

Was isn das überhaupt, ein Geburtstag? Auch diese Information findet sich auf Wikipedia. Screenshot: Mario Thurnes, 15. Januar 2021, 11 Uhr.

Die englische Wikipedia-Seite ging heute vor 20 Jahren online, Unsere Autoren sagen dem Online-Lexikon: Happy Birthday.

Der Fuß im kalten Wasser

Mario Thurnes: 1997 meldete sich das Internetzeitalter bei mir an. Wobei es eigentlich mehr durch meine Tür gecrasht ist. Ich war Mitglied des Bertelsmann-Buchclubs – der Werbeprämie wegen. Meine vierteljährige Pflichtbestellung erfüllte ich, indem ich mir nach und nach das 24-teilige „Das Bertelsmann Lexikon“ bestellte. Für ein Arbeiterkind aus aliterarischem Haushalt war es das Symbol seines anlaufenden Aufstiegs ins Bürgertum.

„Was willst du mit einem Lexikon? Das wird durchs Internet überflüssig werden“, zerstörte mein bester Freund Michael mein Idealbild vom Aufstieg ins Bürgertum. Damals war ich bei sechs Bänden „Bertelsmann Lexikon“ – zwölf kamen noch dazu. Dann habe ich es aufgegeben. Es war das Jahr, in dem Wikipedia das Licht der Nerd-Kinderzimmer erblickte.

Weitere 20 Jahre später ist das „Bertelsmann Lexikon“ nur noch eine absurde Anekdote. Es gab und gibt Vorbehalte gegen Wikipedia. Sowohl als Student als auch als Journalist wurde ich ermahnt, mich nicht auf Wikipedia als Quelle zu verlassen. Doch diese Mahnung ist älter als Wikipedia selbst.

Im Germanistikstudium gab es genug, die sich auf Kindlers Neues Literatur Lexikon als einzige Quelle verlassen haben. Das hat man ihren Hausarbeiten aber auch angemerkt. Im Journalismus machen ebenfalls genügend aus nur einer Quelle eine Geschichte – und auch deren Ergebnissen ist es dann anzusehen.

Wikipedia ist immer eine gute Quelle, um sich einem Thema zu nähern. Und sei es nur, um zu prüfen, wie ein Name richtig geschrieben wird. Es ist wie der große Zeh, der das kalte Wasser testet. Von dort aus lässt sich dann weitergehen – das sollten zumindest Studenten und Journalisten dann auch tun.

Wikipedia nutze ich heute gerne bei Filmen: Wenn mir eine Nebenrolle gut gefällt, schau ich, wie die Schauspielerin heißt und was sie sonst noch so gedreht hat. Und in Kneipen gilt die Plattform als Schiedsrichter, um Streitereien zu schlichten wie: Wann hat Matthäus im Pokalfinale für Gladbach den Elfer gegen Bayern verschossen oder wie viel Einwohner hat Äquatorialguinea?

Die 18 von 24 Bänden des „Bertelsmann Lexikon“ besitze ich noch immer. Sie sind eine Zierde meiner Privat-Bibliothek – auch weil sie so gut wie gar nicht verschlissen sind. Und wer sich jetzt fragt, was das „Bertelsmann Lexikon“ ist oder Kindlers Neues Literatur Lexikon, der soll halt bei Wikipedia nachschauen.

Ohne kapitalistische Anreize

Robert Friedrich von Cube: Ich habe tatsächlich eine Weile an Wikipedia mitgearbeitet. Um 2005 herum diskutierte ich, verbesserte ich Fehler in Artikeln und schrieb sogar selber welche. Mindestens einen Wikipedia-Artikel gibt es, der bis heute fast unverändert ist und aus meiner Feder stammt. Wer ihn findet, kriegt einen Preis.

Dass Menschen ihre Freizeit hergeben, wie ich es damals selbst getan habe, einfach, um etwas Nützliches und Gutes für die Allgemeinheit zu schaffen, stimmt mich positiv. Einhergehend mit der ermöglichenden Technik sind Menschen produktiv und innovativ, ganz ohne kapitalistische Anreize. Die Vorstellung, dass sich Gesellschaft nur durch die Regulation des Marktes in Gang halten ließe, ist also nicht alternativlos.

Freilich hat sich seit 2005 viel geändert. Ich glaube, so frei wie damals könnte ich mich dort gar nicht mehr einbringen. Aber näher habe ich die Entwicklung von Wikipedia ehrlich gesagt dann nicht mehr verfolgt. Ich vermute, es gibt auch einiges zu kritisieren, fast unvermeidlich bei einem Projekt dieser Größe und Tragweite.

Es ist zu einer Selbstverständlichkeit geworden, dass man alles immer einfach umsonst nachschauen kann und dass es zumindest sehr oft ziemlich zuverlässig ist. Das ist grandios. Hoffen wir, dass wir noch lange Strom und Internet haben, denn wenn die ausfallen werden die Brockhaus-Bände, die man im Antiquariat findet, nicht gerade auf dem neusten Stand sein.

Fruchtbar und faszinierend

Sebastian Bartoschek: Wikipedia wird 20. Die Kinderschuhe sind zu klein, die Flegeljahre sind vorbei, und man ist im Erwachsenenalter angekommen, oder sollte das zumindest. Wenn man klein in klein auf Wikipedia schaut, ist das noch nicht so ganz der Fall, und wird es auch nie werden: es toben Editwars, weltanschauliche Debatten werden ausgefochten, in den Diskussionsspalten findet muntere Austausch, und auch die ein oder andere Beleidigung statt. Doch all das ist vor allem dies: fruchtbar und faszinierend.

Das Projekt einer online-Enzyklopädie, in die jeder sein Wissen einpflegen kann, funktioniert. Tausende von Menschen haben das größte Nachschlagewerk der Weltgeschichte erschaffen, verbessern es immer weiter, schlagen – wortwörtlich – immer wieder neue Kapitel auf. Und das alles letztlich aus Spaß an der Freude. Wikipedia zeigt: auch immaterielle Anreize treiben den Menschen zu Höchstleistungen an, schaffen Motivation und Gemeinschaft.

Dabei gibt es in Wikipedia natürlich auch Fehler. Die gibt es in jeder Enzyklopädie, und erst Recht bei einer Enzyklopädie dieser Größe. Doch das Besondere ist, dass an diesen Fehlern immer weiter gearbeitet wird, dass alles und immer auf dem Prüfstand stehen kann.

Ich bin ein großer Freund von Wikipedia, und habe sie stets auch in meiner Lehrtätigkeit an Universitäten als Quelle akzeptiert. Daran habe ich, Stand heute, auch in den nächsten Jahren nicht vor etwas zu ändern.

„Möchte Wikipedia nicht mehr missen“

Peter Ansmann: Während meiner Schulzeit – und vor Wikipedia – war mein Standard-Nachschlagewerk der große Brockhaus, auch wenn die Ausgabe des Jahres 1968 schon damals nicht mehr ganz aktuell war. Auch die Encarta von Microsoft, ein Geburtstagsgeschenk in den 90er Jahren – änderte an meiner Nutzung des großen Brockhaus kaum etwas. Microsoft Encarta ist heute Geschichte. Ich habe keine Hardware mehr, die DVDs oder CDs lesen kann.

Der große Brockhaus steht als Staubfänger im Regal: Einmal als Plan B, falls nach einem Nuklearschlag wegen des elektromagnetischen Impulses das Internet ausfällt. Und weil es halt schön anzusehen ist und man dann auf Zoom, mit einem Nachschlagewerk im Hintergrund, einigermaßen gebildet rüberkommt.

Dass ein Online-Lexikon, bei dem jeder mitwirken kann, nicht fehlerfrei ist: Das ist klar. Um sich aber schnell grob zu irgendeinem Thema schlau zu machen, wobei ich leicht abschweife wegen der Verlinkungen, greife ich seit Jahren nur noch auf Wikipedia zurück. Oder – sehr häufig bei mir- in Kombination mit der X-Ray-Funktion bei Filmen die über Amazon-Prime laufen, wenn ich nicht genau weiß in welchem anderen Film ich einen bestimmten Darsteller schonmal gesehen habe.

„Mach dich nicht so wichtig“

Peter Hesse: Wann ist Wolfgang Overath geboren, wie viele Alben haben Creedence Clearwater Revival herausgebracht, welchen Film von Brian de Palma habe ich noch nicht gesehen oder auf welchem Friedhof liegt Else Lasker-Schüler begraben. Es gibt kaum ein Tag, wo ich nicht mal eben schnell was nachschaue. Alec Empire, der Sänger von Atari Teenage Riot, probierte einmal an seinem Eintrag ein paar biografische Notizen zu seiner Schul- und frühen Musikerzeit richtig zu stellen. Aber seine Einträge wurden nicht angenommen und immer wieder zurückgesetzt. Bei einer online-Diskussion mit wikipedia-Tutoren fragte er dann, warum das so gemacht wird. Die Tutoren entgegneten zurück, warum gerade er denn da so gut bescheid wissen würde. Alec Empire wollte nicht so auf den Putz hauen und sagte, er sei ein alter Schulfreund und kenne sich da schon gut aus – worauf ihm einer der aus der wikipedia-redaktion nur kurz und knapp entgegnete: „Ey, mach dich mal‘ nicht so wichtig!“ Alec Empire heißt übrigens mit bürgerlichem Namen Alexander Wilke-Steinhof. Das habe ich gerade nochmal bei wikipedia nachgeschaut, weil ich es nicht wusste.

Tummelfeld für Denunzianten

Jörg Metes: Wikipedia ist ein Tummelfeld für Denunzianten, dass insbesondere Personenartikel anonym bearbeitet werden dürfen, ist eine Katastrophe. Siehe Link.

„Würde auch online zahlen“

Stefan Laurin: Als Student habe ich immer davon geträumt. mir eines Tages den Brockhaus zu kaufen. Das Weltwissen im Regal, ich mochte die Idee, denn schon als Kind liebte ich Lexika. Dann kam Wikipedia. Print Enzyklopädien, die gedruckten Symbole der Aufklärung, gibt es nicht mehr. Wikipedia ist praktisch, ich nutze sie jeden Tag. Aber manchmal denke ich mir: Eine redaktionell betreute Enzyklopädie wäre eine gute Sache. Und ich würde auch online für sie zahlen.

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Marek Möhling
Marek Möhling
3 Jahre zuvor

> Ich bin ein großer Freund von Wikipedia, und habe sie stets auch in meiner Lehrtätigkeit an Universitäten als Quelle akzeptiert.

Furchtbar. Jeder regelkonforme WP-Artikel belegt Tatsachenangaben mit zitierfähigen Quellenverweisen, nach Möglichkeit verlinkt zur Überprüfung durch den Leser.* Somit besteht keine Notwendigkeit, WP selbst als Quelle anzugeben. So ein Praxis sollte im akademischen Betrieb nicht akzeptabel sein. Dass sie es ist, nicht nur in Deutschland, zeigt, wie schlimm es um den Wissenschaftsbetrieb in westlichen Ländern mittlerweile bestellt ist.

* en.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Reliable_sources
»Wikipedia articles should be based on reliable, published sources, making sure that all majority and significant minority views that have appeared in those sources are covered (see Wikipedia:Neutral point of view). If no reliable sources can be found on a topic, Wikipedia should not have an article on it. «

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