Jan Feddersen, bei der taz Redakteur für besondere Aufgaben, wohnt in Berlin-Neukölln und hat mit seinem Buch „Meine Sonnenallee. Notizen aus Neukölln“ ein Porträt einer der bekanntesten und berüchtigsten Straßen der Republik geschrieben.
Seit 1996 wohnt Jan Feddersen in Neukölln in der Nachbarschaft der Sonnenallee. Als er damals von Hamburg nach Berlin zog, suchte er nach einer preiswerten, schönen Wohnung. Nach Kreuzberg oder in den Prenzlauer Berg wollte er auf keinen Fall ziehen. Also Neukölln, damals noch kein gehypter Stadtteil, sondern ein Quartier, migrantisch geprägt, bewohnt von Menschen, die nicht viel Geld haben.
Die Sonnenallee und der Herrmannplatz machten am 7. Oktober 2023 weltweit Schlagzeilen. Noch während der Hamas mordend durch Israel zog und über 200 Menschen entführte, feierten ihre Anhänger hier den Terror und verteilten Baklava. Kurz darauf begann Feddersen auf Facebook eine Reihe von Tagesbucheinträgen, in denen er das Leben auf und an Sonnenallee beschrieb. Nun ist diese Reihe, überarbeitet und ergänzt, als Buch erschienen.
Menschliche Wärme, viel Neugier und das Erschrecken über den offen auftretenden Antisemitismus prägen das Buch. Jan Feddersen beschreibt eine Straße, deren Bewohner täglich darum kämpfen, den Kopf zumindest knapp über Wasser halten zu können. Bauarbeiter vom Balkan leben hier in überfüllten Wohnungen, arabische Flüchtlinge haben Geschäfte, oftmals kleine Restaurants oder Barbershops gegründet, Eltern träumen vom Aufstieg ihrer Kinder durch Bildung, alteingesessenen Deutschen ist vieles in ihrer Straße fremd geworden, aber es bleibt ihre Straße. Auch wenn sie sich neben all den arabischen Restaurants wenigstens eine einzige Wurstbude wünschen. Wegziehen wollen die wenigsten. Herr G. sagt ihm, warum: „Meine Heimat. So viele sind weggezogen, gestorben, die alte Frau Lehmann, die immer bei uns saß und erzählte. Wo soll ich sonst hin?“
Feddersen redet mit ihnen allen und lässt sie zu Wort kommen. Karim zum Beispiel: „Er macht sich Sorgen, erzählte er mir, er schlafe nicht mehr gut, er sei schon drei Mal zu spät in den Job gekommen. Karim arbeitet seit langem als Maurer auf Baustellen im Berliner Umland. „Ich würde so gern mehr schlafen“, sagt er. Gründe nannte er nicht. Der Familienvater zweier Töchter hat seine Frau vor neun Jahren auf einer Familienhochzeit im Libanon kennen- und lieben gelernt, aber ein Anruf auf seinem Smartphone eröffnet seinen Bericht. Seine Tochter erzählt, er möchte so gern Französisch lernen. Und Englisch sowieso. Liebt Sprachen!“ Und weil der Englischunterricht in der Schule so oft ausfällt, finanziert der Bauarbeiter ihr einen privaten Englischkurs für 300 Euro im Monat.
Viele ihrer türkischstämmigen Bewohner hat die Sonnenallee verloren. Sie sind in grünere und leisere Stadtteile gezogen. Die Sonnenallee hat sich nach 2014 gewandelt, ist nun eine arabische Straße. Auch für die Araber ist die Sonnenallee das, was sie für Feddersen ist: Eine Heimat. Aber nicht so richtig, denn viele sind im Kopf eben doch noch nicht in Deutschland angekommen. „Palästina“, ruft er ihnen zu, „wie in eurer Phantasie ist nicht mehr. ›From the river to the sea …‹: vergesst es. Kennen lang eingeborene Deutsche alles längst, die glühenden Konflikte hierzu liegen drei Jahrzehnte zurück: Schlesien ist weg, und Ostpreußen auch. Ihr könnt Rückkehr nach Palästina wünschen, aber lasst es lieber. Was viele von euch wollen, wäre ohne einen Holocaust 2.0 nicht zu haben, es käme einem Massaker in ganz Israel im Stil der Hamas gleich. Mithin: Hier ist jetzt eure Heimat, das muss es ja sein, sonst wäret ihr ja nicht gekommen, also macht was draus.“
Mehr als 3000 Demonstrationen gegen Israel habe es in einem Jahr in Deutschland gegeben, sagte Laith Arafeh, der Botschafter des Fantasiestaates Palästina in Deutschland, im Oktober im Interview mit dem Deutschlandfunk. Soviel zu der oft im Jammerton vorgetragenen Behauptung, die Stimmen der Palästinenser würden in Deutschland unterdrückt. Liest man Feddersens Buch, gewinnt man den Eindruck, ein großer Teil dieser antisemitischen Aufmärsche hätte auf der Sonnenallee stattgefunden. Oft zogen Antiimperialisten durch die Straße und skandierten Hamas-Parolen. Die meisten von ihnen Deutsche oder Expats aus westlichen Staaten, Hipster aus aller Welt, die der Ruf Neuköllns als „Place to be“ angezogen hat. Viel Ahnung vom Nahen Osten oder auch nur von der deutschen Politik haben sie nicht: „Unnötig zu sagen, dass sie in ihrem Rucksack ein Palästinensertuch heraushängen hatte, aber das um den Hals zu tragen, war in diesem Café unnötig, erstens schien draußen die Sonne, zweitens war ohnehin mollig geheizt. Sie antwortete: Ist alles übel, oder? – Was meinst Du damit? Die einen sagen so, die anderen so … – Sagt sie: Dass der Weltgerichtshof beschlossen hat, Israel des Genocide anzuklagen … – Aber das hat dieses Gericht doch gar nicht, so las ich es. Es hat lediglich darum gebeten, mit der palästinensischen Zivilbevölkerung so umzugehen, dass sie nicht besonders in Mitleidenschaft gezogen wird. Sie stutzt und erwidert, mir immer noch zugetan: Aber das ist doch alles ein „Genocide“. Sie sprach das Wort englisch aus, es klang wie „Dschännoßeit“. Und überhaupt, fuhr sie fort: Man kann ja nichts mehr sagen, es gebe keine Meinungsfreiheit mehr, überall herrsche „McCarthyismus“, dies wiederum korrekt aussprechend. Nun, meinte ich, was dürfe denn nicht gesagt werden? – Die Demos werden ständig verboten … – Irrte ich mich? Waren die politischen Umzüge auf der Sonnenallee etwa doch nicht propalästinensisch, wie die Fahnen anzeigten? – Diese junge Frau, die da neben mir saß, deren Name keine Rolle spielen soll, fügte nun an: Die Bullen kontrollierten alles … – Was … alles? Denn wahr sei doch auch, dass die Hamas eine Terrororganisation ist und Demonstrationen nicht legal sind. Nun sagte sie: Aber die Hamas, die sind doch für das palästinensische Volk … – Es war fruchtlos. Und so fragte ich, etwas süßlich: Sag mal, was ist eigentlich ›McCarthyismus‹? – Und erntete ein Gewitter an eher stotternden Äh’s: Ja, so einer vom amerikanischen Geheimdienst, der während des Vietnamkriegs … – So so: Vietnamkrieg.“
Neukölln ist Hipster-Gebiet, für viele von ihnen eine Episode in ihrem Leben. Sie legen hier einen Zwischenstopp ein, häufig finanziert von den gut situierten Eltern, bevor sie mit ihren Karrieren oder Karriereversuchen durchstarten. Oft irgendwas mit Kultur oder Medien. Die Mieten sind durch sie gestiegen, aber das gastronomische Angebot hat sich vergrößert. Es gibt jetzt Cafés, in denen es den Kaffee auch mit Hafermilch gibt. Mehr Restaurants und ab und an einen Galerieversuch.
Doch die Hipster erobern nicht die Herzen der Araber: Queers for Palestine-Fahnen sind zum Beispiel auf ihren Demonstrationen unerwünscht. Und die gibt es. Im Gespräch mit einer Frau, die Ärger mit der Polizei bekommen hat, wird es für Feddersen gefährlich: „Die Angeklagte bestreitet insofern alles, als sie beteuert haben soll, nicht genau genug gesehen zu haben, was sie da weiterleitet. Ihr Mann spricht, sie habe nur flüchtig geguckt, alles nicht so gemeint. Neukölln soll brennen? Meinte sie das ernst? Ist doch nur so’n Spruch, bekomme ich erwidert. Wenn du das anders denkst, verpiss dich, alle Freundlichkeit ist weg, verschwinde, du Schwein, bist wohl für Israel und für die Unterdrückung. Wer unterdrückt hier wen? Sind Sie mit Ihrer Familie nicht in ein Land des Asyls gekommen, ehrlich gesagt, jetzt selbst ein wenig die Fassung verlierend, ein Land, das euch willkommen geheißen hat, sozialstaatliche Unterpolsterung inklusive. Schwein, Schwein, Unterdrückersau, ruft mir eine zu, geh aus dem Weg. Ihr Begleiter droht mir: Willst ’n paar auf die Schnauze?“ Palästinafahnen, Kufiyas, die bekannten Arafat-Tücher sieht man überall. Und auch Geld wird gesammelt. Angeblich für die Kinder in Gaza. Doch ein Freund verrät Jan Feddersen, dass dies direkt in die Kriegskasse der Hamas fließen wird.
Nie arrogant, neugierig, nie von oben herab, mitfühlend und trotzdem die eigenen Überzeugungen nicht verratend führt Jan Feddersen seine Gespräche. Mal vor der hippen Bäckerei „Le Brot“, mal an der Netto-Kasse und mal auf dem Hermannsplatz. Herausgekommen ist ein Buch, das auf den ersten Blick wie ein großes Wimmelbild wirkt: Auf jeder Seite gibt es etwas zu entdecken, das kann komisch oder traurig sein, lädt aber immer zur näheren Beschäftigung ein. Und dann ist da natürlich das Thema, das mit Wimmelbild bricht: Der 7. Oktober, der Antisemitismus, der viele Araber mit den Hipstern und Künstlern verbindet, ohne sie einander näher zu bringen.