Dass die SPD mit der Macht fremdelt, ist nicht neu. Immer wieder fiel die Parteibasis jenen in den Rücken, die über Politik nicht nur reden, sondern sie auch gestalten wollten. So richtig Daheim fühlen sich viele Aktive nur in ihren Ortsverbänden und den Gremien der Partei. Die Wahl von Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken ist daher ein Beleg für einen Rückzug in die sozialdemokratische Innerlichkeit.
Alle Parteien in einer Demokratie streben nach der Macht. Um nichts anderes geht es in der Politik. Nur wer Macht hat, kann gestalten. Wer keine Macht hat, muss sich mit dem vorpolitischen Raum begnügen, der für die Atomsphäre einer Gesellschaft natürlich wichtig ist und Politik beeinflusst, aber in dem keine Gesetze gemacht oder Haushalte verabschiedet werden.
Die Macht in einer Demokratie ist immer beschränkt. Keine Partei kann ihr Programm ganz durchsetzen, immer muss nach Kompromissen gesucht werden. Demokratien kennen kein durchregieren. In Parlamenten und Kammern wie dem Bundesrat bemühen sich Politiker Wege zu finden, im Dialog möglichst viele ihrer Ideen umzusetzen. Dieses Verfahren ist mühselig und meist wenig glamourös, aber zutiefst demokratisch.
Von den demokratischen Parteien der Bundesrepublik tut sich keine so schwer mit der Macht wie die SPD. Sie ist die älteste demokratische Partei des Landes, hat eine einzigartige Geschichte auf, die sie stolz sein kann und steht für viele wichtige und gute Errungenschaften. Trotz herausragender Kanzler und Präsidenten wie Ebert, Brandt und Schmidt fremdelt sie mit der Macht, ja, zwingt ihre Führung immer wieder dazu, sie aufzugeben. Es gibt in der SPD einen Hang zur sozialdemokratischen Innerlichkeit, das tiefe Bedürfnis die Parteiführung zu drängen, der Macht zu entsagen. Der Sozialdemokrat, so ganz daheim ist er in seinem Ortsverein und den Gremien der Partei wo man unter sich ist und von der Wirklichkeit nicht zu sehr behelligt wird.
Hermann Müller war der letzte sozialdemokratische Reichskanzler der Weimarer Republik. Er trat 1930 zurück, als sich die SPD weigerte, einem Kompromiss zur Arbeitslosenversicherung zuzustimmen. Es ging um ein eine viertelprozentige Erhöhung.
NATO-Doppelbeschluss, Ausbau der Kernenergie und, schon unter Kanzler Willy Brand, der Radikalenerlass – als die FDP 1982 Helmut Schmidt stürzte, waren die Sozialdemokraten erleichtert und nutzten die folgenden Parteitage, um sich von Schmidts Politik zu distanzieren. Man fühlte sich bei den Friedensdemonstranten im Bonner Hofgarten sichtlich wohler als an der Macht.
Genau so ging es vielen Sozialdemokraten, als 2005 mit Gerhard Schröder der bislang letzte sozialdemokratische Kanzler in einem Foto-Finish gegen Angela Merkel (CDU) unterlag. Die SPD machte begann sich an den HartzIV-Reformen abzuarbeiten, denen sie auf einem Parteitag zugestimmt hatten. Ein Prozess, der bis heute anhält, und vor allem der Linkspartei nutzte, die aus dem mangelnden Selbstbewusstsein und dem schlechten Gewissen der Sozialdemokraten Honig sog.
Und nun wieder: Obwohl die SPD die Politik der Großen Koalition maßgeblich prägt und die CDU inhaltlich kaum Marken setzen kann, zieht es die SPD mit der Wahl von Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken in die Opposition, dem Ort, an dem sie sich angeblich erneuern kann. Die Erfahrungen in Bayern, wo die SPD seit 1954 in der Opposition ist und in NRW, wo man seit 2017 CDU und FDP beim regieren zuschaut, geben allerdings kaum Anlass für solche Hoffnungen: Bei der bayerischen Landtagswahl 2018 erhielt die SPD nur 9,7 Prozent, zur Zeit liegt sie in den Umfragen mit acht Prozent in Sichtweite der Fünf-Prozent-Hürde. In NRW würden zurzeit nur noch 20 Prozent den Sozialdemokraten ihre Stimme geben. In der Opposition hat die SPD innerhalb von gut zwei Jahren ein Drittel ihrer Wähler verloren.
Die Situation heute erinnert an die Zeit in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, nach Schmidt, als die SPD endlich wieder in der Opposition war. Der Politologe Franz Walter beschreibt sie in seinem Buch „Die SPD: Biographie einer Partei von Ferdinand Lasalle bis Andreas Nahles“:
„Aber um unmittelbare Regierungsfähigkeit ging es den Sozialdemokraten in jenen ersten Jahren nach dem Bruch der sozialliberalen Koalition gar nicht. Sie wollten wieder Teil der sozialen Bewegungen sein und an den gesellschaftlichen Bündnissen «fortschrittlicher Menschen» gegen Atomenergie und Rüstungsprojekte mitwirken. Vor allem wollten sie die jungen Leute wieder zurückgewinnen, die sich gegen Ende der Schmidt-Ära von der SPD abgewandt hatten.“
Auch den heutigen Jugendkult, der sich an der Verehrung von Fridays for Future und der Bedeutung des nicht mehr ganz so jungen Kevin Kühnert festmacht, ist nicht neu:
„Es gab einen regelrechten Jugendkult in der SPD der Nach-Schmidt-Ära. Aufmerksam lasen die Sozialdemokraten die zahlreichen Jugendstudien, die alle zu dem Schluss kamen, dass die jungen Menschen pessimistisch in die Zukunft blickten, dass sie sich vor Technik, Chemie und dem Vormarsch des Computers fürchteten und keinen großen Wert auf materiellen Besitz legten. Die neuen sozialdemokratischen Meinungsführer nahmen solche Selbstauskünfte für bare Münze, hielten sie nicht für den Ausdruck eines launischen Zeitgeistes, sondern für Vorboten eines umfassenden gesellschaftlichen Wertewandels, der geradewegs in die postmaterialistische Gesellschaft führen werde.“
Das Gegenteil trat ein: Die 80er Jahren stehen im Rückblick für Hedonismus und Konsum. Das Zeitgeist-Magazin Tempo nannte die 80er im Rückblick „Das Lust-Jahrzehnt“.
Es sollte 16 Jahre dauern, bis die SPD wieder an die Macht kam. Sie kam es mit einem Kanzler, dem jeder Postmaterialismus fremd war, sich selbst als „Auto-Kanzler“ sah und gegenüber Technologien und Konsum kaum Vorbehalte hatte: Gerhard Schröder.
Es kann sein, dass es nun wieder so lange dauert, bis die SPD im Bund wieder in eine Regierung eintritt. Und es ist gut möglich, dass sie dann deutlich kleiner ist als heute. Vielleicht verliert sie auch jede Bedeutung. Aber während dies geschieht, wird in den heimeligen Ortsvereinen weiter Streuselkuchen gereicht und in den Gremien der Partei diskutieren Menschen, die sich nie einem Wähler stellen mussten, über Programme und Arbeitsgemeinschaften – nur so, weil sie Zeit haben, es gerne tun und man dabei so schön die Wirklichkeit vergessen kann. Dann ist die SPD wieder ganz bei sich. Bis eine Gruppe kommt, die über Politik nicht nur reden möchte, sondern Lust auf Macht und Gestaltung hat und damit leben kann, dass sich die Welt nicht um die Programme der SPD dreht, sondern es nur darum geht, das Leben möglichst vieler Menschen besser zu machen. Selbst wenn man dafür, auch faule, Kompromisse eingehen muss.
Macht ist für die CDU vielleicht ein Selbstzweck. Für die SPD kann das porgammatisch nicht gelten. Die Empirie ist diesbezüglich für die SPD auch ganz eindeutig. Sie verliert, wenn sie an der Macht ist, diese aber nicht konsequent für ihre Wähler nutzen kann, sprich wenn sie nicht Koch sondern Kellner ist, respektive sein will.
Der letzte Koch war Gerhard Schröder. Allerdings mit fatalen Folgen. Hartz IV hätte es nämlich nur zusammen mit einem entsprechend hohen Mindestlohn und ohne die massive Ausweitung der Leiharbeit geben dürfen. Von volkswirtschaftlich völlig unnötigen Steuergeschenken an Kapitaleigner ganz zu schweigen. Das, und nur das, wäre linke Mitte gewesen.
Stattdessen hat die SPD die "Drecksarbeit" für die CDU gemacht, die entsprechen auch nie etwas an Hartz IV ändern wollte, sondern sich immer wieder artig bei Schröder dafür bedankt hat. Dazu kommt, dass die SPD auch danach aus eigenen Stücken an ihrem Niedergang weiter gearbeitet hat, in dem sie die Interessen ihrer abgestammten Wähler weiter systematisch vernachlässigte.
Die Korrekturen, wie z.B. der Mindestlohn, kamen viel zu spät und viel zu geringfügig, um ihre Wählerschaft ernsthaft zu beeindrucken. Bei der Reform der Erbschaftsteuer z.B. hat sie bezügich einer Korrektur der völlig aus dem Ruder gelaufenen Vermögensunterschiede völlig versagt. Und die Reihe der Fehler lässt sich beliebig fortsetzen.
Das Ergebnis ist auf jeden Fall ein völliger Vetrauensverlust ihrer Wähler in die Veränderung der Gesellschaft durch Machtteilhabe der SPD. Deswegen gibt es auch nur einen einzigen Weg, diesen wieder wettzumachen: Die Aufkündigung der großen Koalition bei der im Koalitionsvetrag abgemachten Überprüfung der Ergebnisse der GroKo, wenn sie nicht auch noch die 10% Hürde nach unten knacken will. Dafür steht deswegen auch das neue Führungsduo.
Aber auch die beiden können nur eine Übergangslösung zu einer ernsthaften Verjüngung und einer inhaltlichen Erneuerung sein, und die wird mehr als eine Legislaturperiode dauern. Das Führungspersonal der SPD ist insgesamt einfach zu ausgelaucht, bzw. nicht mehr vorhanden, um die Sach zügiger voranzubringen. Auch Olaf Scholz möglicher "Sieg" hätte daran nichts geändert.
Währenddessen kann welche Koaition auch immer zeigen, wie sie die horrenden Strukturprobleme dieses Landes zu lösen gedenkt. Und die Grünen werden auf jeden Fall dabei sein, und beweisen müssen, ob sie ihre Wählerschaft auch dann noch begeistern, wenn es mit der sogenannten ökologischen Wende ganz konkret und praktisch wird.
Die Zeit wird aber ab da wieder für die SPD arbeiten, während sie in jedem weiteren Monat in der Groko gegen sie arbeiten wird. Zur Freude all derer übrigens, die in ihrem Plädoyer für das Team Olaf Scholz / Klara Geywitz nichts anderes als die Resteverwertung des SPD angestrebt haben, um Angela Merkel einen friedlichen Abgang und der CDU genug Zeit für den Aufbau einer Nachfolgerin oder eines Nachfolgers zu gewährleisten.
Hallo Herr Voss,
vielleicht habe ich das falsch in Erinnerung, aber so deutlich haben Sie das früher nicht gesehen. Aber vielleicht verwechsel ich Sie auch.
Herr Stach sagt ähnliches ja schon seit langem.
Hallo Herr Voss,
ich habe Sie tatsächlich verwechselt. Sie haben ja schon damals beim ersten Mitgliedervotum die Sache sehr richtig dargestellt.
Entschulidgung!
Heult doch!
Ein Spiegel-Kommentar…besser kan mans nicht asudrücken…
https://www.spiegel.de/politik/deutschland/spd-hat-mit-neuer-spitze-chance-auf-neuanfang-kolumne-a-1299303.html
Das neue Führungsduo bietet tatsächlich noch mal die Chance zum erfolgreichen Neuanfang. Dieses Land braucht eine linke und demokratische Partei, denn die Linkpartei ist diese so nötige Partei nicht,wie gerade Rüdiger Sagel einmal mehr bewiesen hat.
Das andere Duo namens "Weiterso" wäre wohl die letzte Ausfahrt der SPD gewesen. Lässt die SPD aber die nötige Geschlossenheit vermissen, dann war`s das.
@ Ruhr Reisen # 4
Danke für den Link. Da traut sich wirklich Jemand, der allgemeinen Meinungs- und Kampagnenschreiberei mit guten Gründen und mit Selbstkritik an der eigenen Zunft zu widersprechen. Tröstlich, dass es doch noch ein paar Journalisten in Deutschland gibt, die diesen Bezeichnung verdienen.