„Die türkische Regierung muss ihre Jagd auf gewählte Politiker einstellen“

Max Lucks (GRÜNE), Foto: Roland W. Waniek

Es gibt in der Welt noch andere Krisenregionen als die Ukraine und den Nahen Osten, die in diesen Tagen von sich reden machen. In einer bemerkenswerten Konferenz kamen jetzt Politiker, Diplomaten und Wissenschaftler zusammen, um über die aktuellen Friedensbemühungen in Aserbaidschan, Armenien und der Türkei zu diskutieren.

Von Sebastian Schmidt

Die Veranstaltung bot einen tiefen Einblick in die Entwicklungen, die die Region in eine neue Ära der Stabilität und Zusammenarbeit führen könnten. Die Teilnehmer zeigten sich vorsichtig optimistisch, betonten jedoch, dass noch erhebliche Herausforderungen zu bewältigen sind.

Max Lucks: Ein Friedensprozess mit historischer Bedeutung

Der Bochumer Bundestagsabgeordnete Max Lucks, Vorsitzender der Deutsch-Türkischen Parlamentariergruppe, hielt ein leidenschaftliches Plädoyer für den Frieden. „Der Prozess, den wir jetzt erleben, ist von historischer Bedeutung“, sagte der Grünen-Politiker. „Es ist ein gutes Zeichen, dass junge Menschen heute weniger dazu neigen, eine Waffe in die Hand zu nehmen. Dieser alte Konflikt, der tief in der Gesellschaft verwurzelt ist, könnte endlich einer Lösung entgegengehen.“

Lucks betonte jedoch, dass der Friedensprozess in der Türkei noch am Anfang stehe. „Wir stehen erst am Anfang“, warnte er. „Es ist entscheidend, dass das türkische Parlament als Abbild der Gesellschaft stark in diesen Prozess eingebunden wird. Es geht nicht nur um Haftbedingungen für einzelne Personen, sondern darum, dass die türkische Regierung ihre Jagd auf gewählte Politikerinnen und Politiker einstellt und die Situation der Minderheiten grundlegend verbessert.“

Der Bundestagsabgeordnete hob hervor, dass ein erfolgreicher Friedensprozess auch die türkisch-europäischen Beziehungen stärken könnte. „Viele der aktuellen Spannungen zwischen der Türkei und Europa könnten durch einen umfassenden Friedensprozess gelöst werden“, sagte Lucks. „Dazu gehört auch die kurdische Frage, die seit Jahrzehnten ein zentrales Hindernis für Stabilität in der Region darstellt.“

Nasimi Aghayev: Aserbaidschan auf dem Weg zur vollständigen Souveränität

Nasimi Aghayev, Botschafter der Republik Aserbaidschan in Deutschland, sprach über die Fortschritte im Friedensprozess zwischen Aserbaidschan und Armenien. „Wir befinden uns in einer entscheidenden Phase“, sagte Aghayev. „Nach über 30 Jahren illegaler Besatzung und der Vertreibung von 800.000 Aserbaidschanern aus ihrer Heimat haben wir endlich die territoriale Integrität unseres Landes wiederhergestellt.“

Der Botschafter betonte, dass der Friedensvertrag zwischen Aserbaidschan und Armenien bereits zu 90 Prozent ausgehandelt sei. „Dies ist ein bedeutender Fortschritt für die Stabilität der gesamten Region“, sagte er. „Zum ersten Mal seit 224 Jahren gibt es in Aserbaidschan keine ausländischen Truppen mehr. Dies ist ein Symbol für unsere vollständige Souveränität und den Beginn einer neuen Ära des Friedens.“

Aghayev wies jedoch auch auf die Herausforderungen hin, die mit dem Wiederaufbau der zerstörten Gebiete und der Räumung von Landminen verbunden sind. „Über 1,5 Millionen Landminen wurden von Armenien während der Besatzung gelegt“, sagte er. „Dies ist eine tödliche Hinterlassenschaft, die weiterhin Menschenleben fordert und die Rückkehr der Vertriebenen erschwert.“

Dr. Jannes Tessmann: Gesellschaft wünscht sich Ende des Konflikts

Dr. Jannes Tessmann, Leiter des Istanbuler Büros der Stiftung Mercator, gab Einblicke in die Stimmung in der türkischen Gesellschaft. „Es herrscht eine große Müdigkeit und ein starker Wunsch nach Frieden“, sagte Tessmann. „Die allergrößte Mehrheit der Bevölkerung wünscht sich nichts dringender als ein Ende des Konflikts.“

Tessmann betonte jedoch, dass es auch skeptische Stimmen gebe. „Viele sehen den aktuellen Friedensprozess eher als eine Kapitulation der PKK denn als Beginn einer echten Friedensverhandlung“, sagte er. „Es bleibt abzuwarten, wie radikale Splittergruppen der PKK auf den Aufruf zur Entwaffnung reagieren werden.“

Macit Karaahmetoğlu: Die Rolle der Demokratie im Friedensprozess

Der Ludwigsburger SPD-Bundestagsabgeordnete Macit Karaahmetoğlu, Präsident der Deutsch-Türkischen Gesellschaft, sprach über die Bedeutung von Demokratie im Friedensprozess. „Wenn es Präsident Erdoğan gelingt, den Konflikt mit der PKK zu beenden, wird er sich eine besondere Rolle in der Geschichte sichern“, sagte Karaahmetoğlu. „Aber wir müssen auch darauf achten, dass der Friedensprozess die Demokratie in der Türkei und im Südkaukasus stärkt.“

Karaahmetoğlu betonte, dass ein erfolgreicher Friedensprozess nicht nur den beteiligten Ländern, sondern der gesamten Region zugutekommen würde. „Ein stabiles Südkaukasus stärkt nicht nur die regionale Sicherheit, sondern sendet auch ein wichtiges Signal an die ganze Welt, dass selbst langjährige Konflikte durch Dialog und Kompromisse gelöst werden können.“

Prof. Dr. Ulrich Schlie: Geopolitische Implikationen des Friedensprozesses

Prof. Dr. Ulrich Schlie, Henry-Kissinger-Professor für Sicherheits- und Strategieforschung an der Universität Bonn, analysierte die geopolitischen Implikationen des Friedensprozesses. „Die Türkei spielt ihre Karte voll aus und wird ihren Einfluss in der Region weiter ausbauen“, sagte Schlie. „Wir werden einen stärkeren türkischen Einfluss im Südkaukasus und auf dem Balkan sehen.“

Schlie betonte, dass die Entwicklungen in der Türkei, Aserbaidschan und Armenien auch Auswirkungen auf die Rolle Russlands in der Region haben werden. „Russland wird in der Region geschwächt, aber es ist noch nicht vollständig zurückgezogen“, sagte er. „Die NATO befindet sich in einer ihrer größten Krisen seit 1956, und dies wird zu mehr bilateralen Absprachen führen.“

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