Die vergessenen Rotarmistinnen


Als »vertierte Flintenweiber« hat sie die NS-Propaganda denunziert, als »Feldmatratzen« wurden sie von den eigenen Landsleuten verhöhnt – weibliche Angehörige der sowjetischen Armee. Bis zu einer Million Frauen sollen im Zweiten Weltkrieg in der Roten Armee gedient haben. Obwohl die Rotarmistinnen ihrer Anzahl wie Tätigkeit nach historisch etwas völlig Neues waren, ist wenig über sie bekannt, weder über ihren Alltag, noch darüber, wie viele von ihnen gefallen sind. Russische Archive »mauern« noch immer, und in der öffentlichen Wahrnehmung kommen – wenn überhaupt – nur ausgesuchte Heroinnen vor. Von unserer Gastautorin Judith Kessler.

Die hunderttausenden Namenlosen, die ihnen gegenüber stehen, die einfachen Rotarmistinnen, ihr Alltag und ihre Leistungen bleiben weitgehend unbeachtet – bis heute. Das Frauenbataillon zur Verteidigung der Kerenski-Regierung, das von dem ehemaligen Dienstmädchen Maria Botschkarewa 1917 aufgestellt wurde, war das Startsignal für den Einsatz von Frauen in der Roten Armee. Bereits im Bürgerkrieg dienten sie im Nachrichten- und Nachschubdienst, in politischen Funktionen und sogar in Kampfeinheiten. In den Gründerjahren der Sowjetunion galten Frauen an der Waffe als Errungenschaft der Gleichberechtigung.

Die paramilitärische Organisation »Osoaviachim« bildete in den 1930er Jahren sechs Millionen Sowjetbürger an Handfeuerwaffen aus, Frauen lernten hier funken, fliegen, Fallschirmspringen. Eine Wehrpflicht für Frauen gab es nicht. Doch begannen sich nach Kriegsbeginn und angesichts des deutschen Vormarsches immer mehr Frauen freiwillig zum Militär zu melden, forciert durch Komsomol und Partei. Sie dienten als Schreibkräfte, fuhren LKW, regelten den Verkehr, suchten Minen und standen an schweren Flakgeschützen. 1942 wurden drei Fliegerregimenter aufgestellt, die ausschließlich aus Frauen bestanden. Ihre Flugzeuge waren am Anfang umgerüstete Sportflugzeuge mit Bombenträgern, aber ohne Bordwaffen und Fallschirme. Bei Moskau entstand eine eigene Scharfschützenschule für Frauen. Auf diese Pilotinnen und Scharfschützinnen richtete sich nach dem Krieg der Fokus der sowjetischen Erinnerung, und während des Krieges die deutsche Propaganda.

In der Wehrmacht und in den Alliiertenarmeen dienten zwar ebenfalls Frauen, sie wurden jedoch von Kampfhandlungen ferngehalten. Bewaffnete uniformierte Frauen waren für deutsche Soldaten das Gegenstück zum NS-Idealbild der deutschen Frau und Mutter, und sie erzeugten Männerphantasien – sowohl erotische Träume als auch Kastrationsängste. Obwohl die Rotarmistinnen reguläre Armeeangehörige waren, die nach dem Genfer Abkommen als Kriegsgefangene zu behandeln waren, wurden sie zu Freischärlern erklärt und Partisanen gleichgestellt. Gefangen genommene Frauen wurde meist sofort erschossen oder in Konzentrationslager gebracht und dort ermordet.

Die Mehrheit der Rotarmistinnen, mehr als eine halbe Million, war jedoch im Sanitätswesen eingesetzt. Genaue Zahlen sind nicht bekannt, aber unter ihnen gab es die stärksten Verluste – die Soldatinnen waren dem feindlichen Feuer ebenso ausgesetzt wie die Männer: »Als ich den ersten Verwundeten sah, fiel ich in Ohnmacht. Das gab sich dann. Als ich das erste Mal im Kugelhagel zu einem Verwundeten kroch, schrie ich so laut, dass es schier den Gefechtslärm übertönte…, erinnert sich eine Sanitäterin.

Im Sanitätsdienst dienten auch Jüdinnen. Einige sind heute Mitglieder im Berliner Klub der Kriegsveteranen: Die Krankenschwestern Katja Lotosch aus Odessa und Ludmilla Rijinachvili aus Moskau versorgten den ganzen Krieg über Verwundete direkt an der Front, in Sanitätszügen und im Feldlazarett, und Genija Smuschkewitsch:  Ihre Eltern und ihre kleinen Schwestern wurden ins Ghetto verschleppt und ermordet. Sie selbst konnte fliehen und schloss sich einer litauischen »jüdischen« Division an. Als Feldscher und Sanitätsinstrukteur war Genija bis zum Kriegsende an vorderster Front – dort wurde sie schwer verwundet, und dort heiratete sie, mit Ausnahmegenehmigung…

Die sowjetische Armee brauchte Jahre, um sich auf die vielen Frauen einzustellen. Und die zogen ahnungslos und unerfahren in den Krieg. Man schnitt ihnen die Zöpfe ab, steckte sie in viel zu große Männeruniformen und -schuhe. Es gab keine Hygieneartikel und bis 1943 keine gynäkologische Versorgung. Der Einsatz war körperlich so anstrengend, dass bei vielen Frauen die Menstruation ausblieb oder sie später keine Kinder mehr gebären konnten. Feldpostbriefe legen Zeugnis davon ab, wie Rotarmistinnen über »wahre Liebe« und über die Nachstellungen von Männern dachten, die jahrelang mit keiner Frau zusammen gewesen waren.

Der Schriftsteller Lew Kopelew erinnert sich: Einige Generäle hielten Nachrichtenhelferinnen, Serviererinnen, Schwestern, Stenotepistinnen für ihr Freiwild… Für den Verfall der Moral wurden jedoch die Frauen verantwortlich gemacht. Erst recht nach dem Krieg begegnete man ihnen mit Verachtung (der Volksmund nannte die Medaille »Für Verdienste im Kampf« abschätzig »Für Verdienste im Bett«). »Wie uns die Heimat empfangen hat? Daran kann ich nicht denken, ohne zu weinen. Man hat uns ins Gesicht geschrien … Ich hatte einen Freund, hab ihn aus dem Feuer herausgeschleppt. Gerettet. Wir lebten ein Jahr zusammen, dann ging er zu einer anderen Frau: Sie riecht nach Parfüm, du aber nach Fußlappen und Stiefeln«.
Viele Frauen verheimlichten jahrelang, dass sie in der Armee waren, damit man sie noch als Ehepartnerin akzeptiert: »Der Mann kam zurück – und war ein Held. Unsereins aber stieß auf scheele Blicke …« Und womöglich beriet die ganze Verwandtschaft, ob so eine in die Familie einheiraten dürfe. Die sowjetische Propaganda nutzte die Leistungen exponierter Kämpferinnen, um das Frontgeschehen durch Mythen zu verkleistern, während des Krieges, aber auch noch danach. In der Realität wurden Frauen als Kanonenfutter im direkten Fronteinsatz missbraucht und lagen wie die Männer im Dreck.

Nicht einmal für Kriegsberichterstatter wie Ilja Ehrenburg oder Konstantin Simonow waren Frauen ein Thema. In deren eigenen Erinnerungen dominieren Ekel, Hunger, Blut, Angst, nicht Heldentaten. Viele kehrten krank, verstümmelt oder traumatisiert heim: »Nach dem Krieg konnte ich 20 Jahre lang nicht in Fleischgeschäfte gehen. Ich konnte den Anblick geschnittenen Fleischs nicht ertragen, weißen Fleischs«.

Die meisten Frauen wurden 1945 sofort aus der Armee entfernt. Sie hatten ihre Schuldigkeit getan. »Die Freundinnen hatten nun schon die Hochschule hinter sich…und was hatten wir? Weder Beruf, noch Erfahrungen. Das einzige, was wir kannten und konnten, war der Krieg… Als ich zum ersten Mal ein Kleid anzog, musste ich weinen. Ich erkannte mich nicht wieder.«
Von nun an sollten die Frauen wieder schwach sein und Kinder kriegen, von nun an wurden sie wieder ignoriert, beiseite geschoben, vergessen, um ihren Sieg betrogen.

Auch die Orden bekamen die Männer: Der »Held der Sowjetunion«, der höchste Orden, den der Staat zu vergeben hatte, wurde 11.633 Mal an Männer und 86 Mal an Frauen verliehen. Es ist das Verdienst der belorussischen Autorin Swetlana Alexijewitsch, die Erinnerungen der Frauen bewahrt zu haben. Sie hat in den 1980er Jahren – als eine der ersten überhaupt – mehr als 400 frühere Soldatinnen befragt. Das daraus entstandene Buch »Der Krieg hat kein weibliches Gesicht« ist vergriffen. »Ich tötete den ersten Deutschen. Habe Durchfall, muss mich übergeben. Wie konnte ich einen Menschen töten? Einen mir völlig unbekannten Menschen. Nachts habe ich von ihm geträumt.«

Die Erinnerungen dieser Soldatinnen haben nichts mit Idealbildern zu tun und wurden teilweise auch von der Zensur gestrichen, da wo es um Kindstötung, um Vergewaltigung, um Hunger geht, um die ganze Furchtbarkeit des Krieges, der im Gedächtnis von Frauen scheinbar ein anderer ist, als in dem der Männer. »Vor allem hatte ich Angst, dass ich getötet werde und hässlich daliegen würde. Im Schlamm. Ich habe das oft gesehen, deshalb hoffte ich, im Frühling zu sterben. Im Wald. Zwischen Schneeglöckchen zu liegen.

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