Wie war das Jahr 2019? Gab es im Weltzustand „Dauerkrise“ auch ein paar Lichtblicke? Wir haben uns beim österreichischen Sozialpolitiker Thom Kinberger erkundigt. Gerade in Österreich herrschte dort mit der Ibiza-Affäre viel Unruhe. Ansonsten agiert die Politik vor allem als Handlanger für globale Wirtschaftsinteressen und der Begriff Reform ist zu oft ein Synonym für den Abbau von Sozialstandards.
Thom, über welches Thema hast du dich persönlich am meisten in diesem Jahr aufgeregt?
Adorno sagte ja schon, “Wer denkt, ist nicht wütend”. Deshalb versuche ich mich nicht mehr aufzuregen, um wenigstens nicht als Dummkopf dazustehen. Ab April habe ich die politische Aufgabe übernommen, als Obmann die Salzburger Gebietskrankenkasse bis Ende Jahres zu leiten. Leider hat die letzte Mitte-Rechts Regierung, die solidarische Krankenversicherung, wie wir sie seit 136 Jahren in Österreich haben, zerstört. In neun Monaten wurden neun Länderkassen mit 13.000 Mitarbeitern und einem Budget von 15 Milliarden Euro fusioniert. Chaos pur, mit dem Ziel die Gesundheitsversorgung zu privatisieren. Derselbe Schwachsinn, den schon das Britische Gesundheitssystem zugrunde gerichtet hat. Darüber hinaus gab es noch reichlich Gelegenheit sich am Kopf zu kratzen. Was mir heuer drastisch vor Augen geführt wurde, ist das neue Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft, ein Kernelement der westlichen Kultur.
Was meinst du konkret damit?
Laut Gesellschaftsvertrag soll dem Einzelnen ein Maximum an Freiheiten gewährt werden. Einschränkungen soll es nur geben um wesentliche Schäden abzuwenden. Das hat sich völlig umgekehrt. Der Einzelne hat sich einem Gesamtinteresse unterzuordnen. Wir erleben eine Gesellschaft die sich sektenartig über das Individuum hermacht und ein Normverhalten einfordert. Haftungszwänge, korrekter Sprachgebrauch, Konsumverhalten und die Heilsversprechung einer reaktionären Sicherheitsgesellschaft treiben viele Menschen in die Arme „starker Männer“. In Österreich war das die Allianz aus einem millionenschweren Wirtschafts-Messias und einem dreist-dummen Burschenschaftler im Wodkarausch.
Apropos Österreich – bei euch ist „Ibiza“ zum Wort des Jahres gekürt worden. Der dazugehörige politische Skandal hebelte im Mai 2019 die Regierungskoalition aus. Wenn du zurück blickst: wie hast du das Jahr in 2019 in Österreich wahr genommen?
Ich war gerade in Berlin als der “Ibiza” Skandal ausbrach. Mein Handy spielte völlig verrückt und die Ereignisse überschlugen sich. Wir sind uns selber schon wie Verschwörungstheoretiker vorgekommen, als wir immer wieder die Verkommenheit dieser Regierung aufgezeigt haben. Es fehlten alleine die Beweise. Wir haben versucht seit 2017 eine Öffentlichkeit für die waren Absichten dieser PR gesteuerten Blender zu finden, aber das ist uns nicht gelungen. Gewerkschaften wurde die Weigerung zur Modernisierung unterstellt, die Opposition war mit sich selbst beschäftigt und die Boulevardpresse war der willige Erfüllungsgehilfe, der die schönen Hochglanzbilder der feschen jungen Regierung an die Bevölkerung verteilte. Solange Millionenbeträge für Inserate ausgegeben wurden, war alles in Ordnung. Als dann im “Ibiza-Video” just die feindliche Übernahme der Kronen Zeitung vorbereitet wurde, war die mediale Empörung umso heftiger. Vielleicht auch weil für die Meisten nicht der Inhalt des Videos schockierend war, sondern die Banalität und Lächerlichkeit des Ganzen. Das war schon eine Genugtuung für uns.
Bundeskanzler Kurz will nun in Österreich mit den Grünen an die Macht, die das Land noch nie regiert haben. Die Partei, die im letzten Nationalrat nicht einmal vertreten war, ist aus den Neuwahlen als zweiter Gewinner neben der ÖVP hervorgegangen. Geht das gut?
Die Ironie an der Geschichte ist, dass Kurz und seine “neue Volkspartei” völlig unbeschadet aus dem Skandal gekommen sind. Sie konnten bei der Wahl ihre Macht sogar ausbauen. Dabei hat es keinen Regierungsbeschluss, keine Personalentscheidungen ohne die Zustimmung beider Parteien gegeben. Alles ist ans Licht gekommen. Postengeschacher um hochdotierte Vorstandjobs, im Austausch für Gesetzesänderungen. Versteckte Parteischätze in Form von Goldbarren in Almhütten. Der Verkauf von Partei-Listenplätzen an Oligarchen. Das kannst du alles nicht erfinden! Für die Grünen, die bei uns als Aufdecker und Korruptionsbekämpfer gesehen werden, wird das ein steiniger Weg. Dazu kommt, dass ihre Partei basisdemokratisch organisiert ist. Kurz hat in seiner Partei das absolute Durchgriffsrecht. Ob das gut geht, ist völlig offen.
In der österreichischen Wirtschaftspolitik haben sowohl die linkskonservative große Koalition (aus SPÖ und ÖVP), als auch das rechte Bündnis (aus ÖVP und FPÖ) einiges beschlossen, das bei uns in Deutschland nur zaghaft in Gang kommt: Steuererleichterungen, Familienförderung, Forschungsprämien, Flexibilisierung der Arbeitszeit und eine Digitalsteuer. Sind wir in Deutschland im politischen Dauerschlaf?
Wenn du hinter die schönen Begriffe der Maßnahmen schaust, zeigt sich ein anderes Gesicht. Von der Familienförderung profitieren die Wohlhabenden am meisten. Die “Flexibilität” der Arbeitszeit, bedeutet nichts anderes als die Wiedereinführung des 12 Stunden Tages, den wir vor 100 Jahren abgeschafft haben. Steuererleichterung heißt, der Unfallversicherung Geld zu entziehen. Gerade hat der Verfassungsgerichtshof wesentliche Teile der „Sozial-Reformen“ gekippt. Reform ist bei uns Synonym für den Abbau von Sozialstandards. In Zeiten von Populismus und autokratischen Selbstdarstellern ist die einschläfernde Behäbigkeit eurer GroKo eine stabile Währung, auf die wir fast schon neidisch blicken.
Schauen wir nach Übersee: der amerikanische Präsident Trump steht wegen Machtmissbrauchs nun knietief im Impeachment-Verfahren. Wird ihn das sein Amt kosten oder bleibt uns der narzisstische Milliardär auch bei den nächsten Wahlen als Nummer 1 im weißen Haus erhalten?
Solange sich die Politik als Handlanger für globale Wirtschaftsinteressen agiert, werden die Leute im Zweifel weiter den „charismatischen Einzelkämpfer“ wählen. Die Mittelschicht ist getrieben von Existenzängsten und fühlt sich machtlos zwischen Konzerninteressen und Fremdbestimmung. Es hat sich der Begriff des „metrischen Menschen“ in der Digitalisierung etabliert. Der Mensch als Produzent von Daten, wird vermessen. Ortungsdienste, Kaufgewohnheiten, Risikobewertungen, Work-Life-Balance und dokumentiertes Sozialverhalten sind schon Realität. Big Data ist das neue Evangelium und Daten sind die neue Weltwährung.
Zurück nach Europa. Wenn wir auf die britische Insel schauen: irgendwie kann man das ganze Gezeter um den Brexit kaum noch ertragen, oder?
Ja, verrückt, aber ein guter Beleg für meine These! Narzisstische Führer sind die masochistische Rache der Zornigen am Establishment. Das erklärt das Ergebnis der Parlamentswahlen in Großbritannien. Die Forderung nach einer radikalen Umverteilungspolitik der Sozialisten wurde besonders von den Jungen unterstützt. Aber die Zeit ist noch nicht reif, noch Scheitern die Revisionisten an den Ängsten der Älteren. Wir werden aber weiterhin bisher akzeptierte historische, politische und wissenschaftliche Erkenntnisse hinterfragen und neu bewerten müssen.
In Frankreichs will die Regierung die Rentenreform trotz Protest möglichst rasch umsetzen. Wie müsste hier eine faire Verteilung aussehen?
Natürlich werden die Menschen älter, das ist ja auch ein Ergebnis der sozialpolitischen Errungenschaften. Es lohnt sich hier die historische Betrachtung, denn geht es dabei um den Schutz vor Altersarmut. Und es ist eine politische Entscheidung ob mein Steueraufkommen dafür verwendet wird. Renten sind kein Naturgesetz und eine Gesellschaft kann natürlich Entscheiden, dass ihr Schutz vor Armut, Krankheit und Arbeitslosigkeit nicht mehr wichtig sind. Genau das ist aber in Frankreich nicht der Fall, deshalb protestieren die Menschen. Macron will das Risiko auf den Einzelnen übertragen und den Staat aus der Verantwortung nehmen. Und jetzt mal ehrlich, was erwarten wir den noch groß vom Staat? Eine halbwegs funktionierende Infrastruktur, Gesundheitsversorgung und Schutz vor Armut im Alter. Alles andere, Bildung, Wohlstand und leistbares Wohnen, sind Versprechen die ohnehin regelmäßig gebrochen werden. Macron soll weniger an die Rüstung verschwenden und Aktien Transaktionen besteuern, damit kann er die Renten locker zahlen.
Die Europäische Union ist für wenige Aufgaben so prädestiniert wie für den Klimaschutz. Der Treibhauseffekt belastet nicht nur einzelne Länder, sondern ist ein Risiko für die ganze Welt. Bekommt die Weltgemeinde dieses Problem in den Griff?
Genaugenommen ist der Klimaschutz ein Allgemeingut und somit haben alle gesellschaftlichen Schichten vom Nutzen dieses Gutes zu profitieren. Soviel zur Theorie. Tatsächlich hat soziale Ungleichheit Einfluss auf den Klimawandel und der Klimawandel bringt wiederum soziale Ungleichheit. Die EU hat die Chance Gesamtinteressen abzubilden. Hier hätten Regulierungen und Verordnungen endlich mal Sinn. Ich war 2011 in Brüssel bei einem Kongress der Europäischen Energiewirtschaft. Versorgungskonzepte über die Nutzung erneuerbarer Energie hat es damals schon fix und fertig gegeben. Windkraft aus den Küstenregionen im Norden, Wasserkraft aus den Alpen und Sonnenenergie aus den südlichen Regionen. Die gerechte Verteilung der Ressourcen wäre ein wichtiger Schritt den Europa angehen muss. Aber das widerspricht der Logik des Kapitalismus. Kapitalismus und Klimakrise sind untrennbar miteinander verbunden. Der deutsche Sozialphilosoph Elmar Treptow hat das auf den Punkt gebracht: „Unter den Voraussetzungen des Kapitalismus herrscht permanente Friedlosigkeit.“ Aber das ist natürlich eine ideologische Diskussion. Wir könnten auch einfach bei uns selbst anfangen. Weniger Fleisch essen und weniger Scheiß kaufen hilft auch.
Wenn sich die Volksrepublik China Demokratie als Grundwert verschreibt, wirkt das in diesem totalitären Regime völlig zynisch. Sie betonen Gleichheit, während der Graben zwischen Arm und Reich rapide breiter und tiefer wird – und Leute, die nicht systemkonform sind, kommen ruckzuck ins Gefängnis. Die Partei steht über allem und allen. Werden die reaktionären Chinesen damit zur Weltmacht Nr. 1?
Ich teile die Kritik, gebe aber auch eins zu bedenken: bei der Häufigkeit der Kriegsbeteiligungen liegt China hinter Großbritannien (19 Beteiligungen), Indien (16), USA (13) und Frankreich (12). China profitierte bis jetzt von einer isolierten Volkswirtschaft und einer politischen Diktatur. Nach der Öffnung und der teilweisen Liberalisierung des Landes, haben sie es geschafft sich in alle relevanten Volkswirtschaften der Welt einzukaufen. Dieses Konzept ist Teil des Erfolges, trotzdem ändert sich auch die Volksrepublik. Unlängst habe ich ein Produkt in Auftrag gegeben, das überwiegen von Hand gefertigt wird. Mein Wunsch war natürlich ein heimischer Hersteller, was sich als unmöglich herausgestellt hat, weil selbst die europäischen Anbieter solche Aufträge direkt nach Fernost weiterreichen. Also haben wir uns direkt an einen chinesischen Fabrikanten gewendet der Arbeitsrechts- und Umweltstandards garantiert. Immerhin zahlt der Fabrikant seinen Arbeitern einen Grundlohn von 400 Euro. Ich war überrascht, denn das ist mehr als in so manch osteuropäischen Ländern Arbeitern gezahlt wird. China muss sich also auch den Anforderungen des Marktes anpassen und sich gegen die billigere Konkurrenz durchsetzen. Die Befreiung des Arbeiters und die Freiheiten der Bürgerlichen wird auch dieses Regime verändern. In Hong Kong haben die Demokraten 90 Prozent der Stimmen erhalten und die Sonderverwaltungszone Macao ist das beliebteste Urlaubsziel der wohlhabenden Chinesen.
Der russische Präsident Wladimir Putin und sein ukrainischer Amtskollege Wolodymyr Selenskyj haben für die Ost-Ukraine einen Waffenstillstand vereinbart, der noch in diesem Jahr in Kraft treten soll. Rund 13.000 Menschen starben nach UN-Schätzungen bei den Gefechten zwischen ukrainischen Regierungstruppen und aus Russland unterstützten Separatisten. Kann sich die Lage hier tatsächlich stabilisieren?
Kompletter Irrsinn und ein fataler Anachronismus. Die Kriegsführer nutzen die Bühne um sich hier als starke Männer zu inszenieren. Zum Preis von Menschenleben. Im Grunde erleben wir hier die tragischen Nachwehen des Unterganges der Sowjetunion.
Welche konkreten Wünsche hast du an das Jahr 2020 – soll es aufregend werden oder lieber behutsam und in ruhigen Gewässern fahren?
Als Musiker bin ich mit meiner Band 2020 gut gebucht und ich freue mich auf ein paar sehr gute Festivals in Litauen, Belgien und Deutschland. Insofern wünsche ich mir ein ruhiges Jahr, um das alles genießen zu können.
Ich kann dne Frust verstehender hier dokumentiert wird, aber es wird hier auch völlig verkannt, wie macht funktioniert. weshalb so manche politische Feinde nach dieser Sichtweise es gar nicht sind und viele politische Freunde das Schlimmste wären, was sein Anliegen schädigen kann.
Macht hat ihre eigenen Gesetze und nicht zuletzt Idealismus führt eher schlechteren Verhältnissen, weil sie die Macht falsch einschätzen und falsch berücksichtigen.
Man kann Macht nicht bekämpfen, man kann sie nur formen.
Leider sind eher links orientierte menschen dazu heute nur sehr, sehr selten in der Lage, weil sie theoretisch und idealistisch geprägt sind.
Kurz ist erfolgreich, weil er mit Macht umgehen kann, der linksliberale Mainsttrem dagegen ist machtinkompetent. Und das hat weniger mit deren Idealen, als vielmehr mit deren naiven Glauben an unzulängliche Lösungsmustern zu tun.
Mitte rechts Politiker haben häufiger die richtigen Lösungsmuster aber auch häufig zu wenige soziale Ideale.
Beide zerreiben damit allzu häufig konsequent ihre demokratische Legitimation.
Heute ist Linksliberalität deshalb der größte Feind einer funktionierenden sozialen Politik
Weil deren ansprüche unbezahlbar sind und gleichzeitig bezahlbare Lösungen blockieren, weil sie die ablehnen.
>> … und die Boulevardpresse war der willige Erfüllungsgehilfe, der die schönen Hochglanzbilder der feschen jungen Regierung an die Bevölkerung verteilte.
Kurz "Spießjournalismus" genannt (ein Neologismus aus Duisburg).