Darf der Staat bei Kunstskandalen wie der Documenta eingreifen? Ein neues Gutachten entlastet scheinbar die Politik.
Man spürt zwischen den Zeilen die Erleichterung von Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) in ihrer Stellungnahme zum Gutachten von Christoph Möllers zur Kunstfreiheit: „Das Gutachten beschreibt klar und deutlich die Möglichkeiten und Grenzen staatlicher Kulturpolitik im Spannungsfeld zwischen Kunstfreiheit und anderen Rechtsgütern. Es macht deutlich, wo staatliche Kulturpolitik eingreifen kann und darf und wo sie sich zurückhalten muss“, sagte Roth. Ein wichtiger Punkt in diesem Gutachten sei, dass es grundrechtlich kategorisch ausgeschlossen sei, künstlerische Programme einer staatlichen Vorab-Kontrolle zu unterwerfen, so die Staatsministerin in einer Stellungnahme zu dem Gutachten des Berliner Staatsrechtlers Christoph Möllers. Möllers beschäftigte in einem von Roths Haus in Auftrag gegebenen Rechtsgutachten mit dem Titel „Grundrechtliche Grenzen und grundrechtliche Schutzgebote staatlicher Kulturförderung“ mit dem inhaltlichen Einfluss, den staatlichen Institutionen auf von ihnen finanzierte Kulturveranstaltungen nehmen dürfen. Anlass war die Debatte um die antisemitischen Vorfälle auf der Documenta, bei denen weder die Stadt Kassel noch das Land Hessen, die Träger der Ausstellung, eingriffen und auch aus Roths Haus, das die nordhessische Kunstshow maßgeblich finanzierte, nur warme Worte der Betroffenheit kamen. Die Wahl von Christoph Möllers als Gutachter war geschickt: Möllers beriet 2020 die Initiative GG 5.3 Weltoffenheit, die sich gegen den Beschluss des Bundestages stellte, die antisemitische BDS-Kampagne, deren Ziel letztendlich die Vernichtung Israels ist, und ihre Unterstützer den Zugriff auf staatliche Mittel zu verweigern. Roth hatte damals als eine der wenigen Abgeordneten der Grünen gegen den BDS-Beschluss gestimmt. Ministerialdirigent Andreas Görgen, der höchste Beamte in Roths Haus, wird von der Initiative wie Möllers für Rat und Diskussion gedankt.
Die Chance böser Überraschungen durch das Gutachten war also eher begrenzt. Ob Städte oder Unternehmen: Eine Erfahrung ist, dass wer ein Gutachten bestellt, bekommt, was seiner Argumentation dient. Ob das hier der Fall war, kann niemand sagen, aber es bleibt das, was der Schwabe eine „Geschmäckle“ nennt.
„Künstlerische Entscheidungen wie der Entwurf von Programmen oder die Auswahl von künstlerischem Personal sind vor staatlichem Einfluss grundrechtlich geschützt. Staatliche Behörden dürfen grundsätzlich nicht ihre eigenen Entscheidungen an die Stelle von Entscheidungen ihres künstlerischen Personals stellen.“ Schreibt Möllers. Im Interview mit der Süddeutschen Zeitung sagte der Jurist, dass man sich antisemitisch oder rassistisch äußern dürfe, wirke „vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte wie ein Skandal, aber es ist der Skandal einer liberalen Ordnung, die nicht alles rechtlich sanktioniert, was sie politisch verurteilt.“ Auch vom Staat geförderte Kultur sei grundsätzlich durch die Kunstfreiheit geschützt. Aber es bleibe bei der staatlichen Verantwortung im Vorhinein „bei der kulturpolitischen Gestaltung der Programme und im Nachhinein bei der Frage, on der Staat Stellung nimmt, kritisiert oder prüft, ob manche Dinge vielleicht doch nicht gezeigt werden können.“ Im Gutachten klingt das dann so: „Etwas anderes gilt bei der generelleren Planung spezifischer Förderprogramme und bei der Einstellung von Leitungspersonal. Solche Entscheidungen fallen in einen spezifischen Bereich der Kulturpolitik, indem staatliche Stellen durchaus Spielräume haben, sich bei deren Ausfüllung aber auch künstlerisch beraten lassen müssen. Möllers weist im Gespräch mit der SZ darauf hin, dass zum Beispiel eine Museumsdirektorin bei Eingriffen des Staates weniger wehrhaft sei als ein Professor, denn sie habe ja nur einen befristeten Vertrag.
„Gutachten entlastet documenta“ jubilierte die Hessisch Niedersächsische Allgemeine, schreibt jedoch im eigenen Text, dass der Staat Verantwortung „bei der Berufung von Intendanten, Kuratoren oder Museumsleitern“ habe. Und mit der Entscheidung, Ruangrupa als Kuratorenkollektiv anzuheuern, ohne sich näher mit ihren politischen Inhalten beschäftigt zu haben, begann das Kasseler Sommerdesaster 2022.
Und auch für Roth macht das Gutachten klar, dass ihr Haus nicht die Verantwortung für geförderte Inhalte hat, aber dafür, wer an welchen Posten berufen wird. Für Roth ist das keine gute Nachricht: Sie mag sich bei der Documenta aus der Verantwortung stehlen können, für allen Unfug, den die von ihr bestellten Hip-Postkolonialisten mit Hang zur glühenden Israelkritik abstellen, tragen sie und ihre Mitarbeiter die volle Verantwortung.
Bleiben also die Bürger und die Medien. Sie können protestieren, aufklären und eine Debatte führen. Das Gutachten mag auf Politiker beruhigend wirken, doch die Lebenswirklichkeit sieht anders aus: Politiker werden nicht bei Bürgern damit punkten können, indem sie erklären, nicht handeln zu können. Auch wenn Claudia Roth es nicht gerne hören wird: Was sie jeden Monat auf ihr Konto bekommt, ist kein bedingungsloses Grundeinkommen. Sie und all die anderen tun also gut daran, schon im Vorfeld darauf zu achten, dass es nicht zu erneuten antisemitischen Skandalen wie bei der Documenta 15 kommt. Selbiges gilt für Intendanten und Kuratoren: Sicher, einen Skandal können die Verantwortlichen zeitlich begrenzt aussitzen. Aber wie Möllers bemerkte, haben sie in der Regel nur befristete Verträge. Stefanie Carp, die ehemalige Leiterin der Ruhrtriennale, hat nach den Vorfällen um die BDS-Unterstützer Young Fathers und Achille Mbembe nichts, was man noch als Karriere bezeichnen kann. Im Freitag sagte sie, dass sie sicher ist, dass ihr niemand mehr in Deutschland eine öffentliche Stelle anbieten werde: „Die Kolleg*innen wollen nicht mit mir oder in meiner Nähe gesehen werden.“
Auch über eine Anschlussverwendung von Sabine Schormann, der im vergangenen Sommer zurückgetretenen Documenta-Generaldirektorin, ist nichts bekannt. Sie hat Kassel wohl verlassen.
Möllers Gutachten mag Roth kurzfristig entlasten. Auf mittlere Sicht wächst ihre Verantwortung. Sie sollte sich gut anschauen, wen sie in Zukunft anheuert. Deren Fehler werden auf ihr Konto gehen.
[…] 2 Die Initiative GG 5.3., die auch in Kassel Anhänger fand, sprach sich explizit gegen den Bundestagsbeschluss zur BDS-Bewegung und plädierte aber dafür, Israel zur Rechenschaft zu ziehen, siehe unseren Beitrag: Israel zur Rechenschaft ziehen – Unterstützer auch in Kassel. Vgl. auch: Stefan Laurin, Documenta: Gutachten und Wirklichkeit, Ruhrbarone, 25.01.2023. […]