Heute Vormittag hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die in Kasel stattfindende Kunstausstellung Documenta eröffnet. In seiner Rede ging er auf die Antisemitismusvorwürfe gegen Künstler und Kunstshowmacher ein:
„Ich will offen sein: Ich war mir in den vergangenen Wochen nicht sicher, ob ich heute hier bei Ihnen sein würde. Dabei ist es seit der ersten documenta, seit dem Jahr 1955, guter Brauch, dass der Bundespräsident am Eröffnungstag in Kassel zugegen ist. Denn die documenta ist nicht nur die bedeutendste Ausstellungsreihe zeitgenössischer Kunst: Alle fünf Jahre wirkt sie gleichsam in die Gesellschaft hinein, indem sie den Zustand der Gesellschaft selbst zum Thema macht. Die documenta war nie national, die internationale Kunst war immer präsent. Und in diesem Jahr verantwortet erstmals ein Kuratorenkollektiv aus dem globalen Süden dieses Weltkunstereignis – damit holt die documenta fifteen auch die Debatte über die globale Gegenwart hierher nach Kassel.
Dazu passt, dass ich gerade aus Indonesien komme: Ein Land, das in den vergangenen Jahrzehnten einen tiefgreifenden politischen und gesellschaftlichen Wandel vollzogen hat. Das sich nach einer langen Geschichte von Fremdherrschaft und Kolonialisierung die eigene Identität und Unabhängigkeit erkämpft hat. Die größte muslimische Demokratie der Welt.
Aber es ist eben auch ein Land, das heute die Folgen des Klimawandels, die Folgen der Umweltverschmutzung, und ja, auch die Folgen des westlichen Lebensstils ganz unmittelbar zu spüren bekommt. Ich habe in Indonesien gesehen, wie – und unter welchen Bedingungen – Menschen auf scheinbar endlosen Müllhalden leben. Ich habe gesehen, wie Plastikmüll – westlicher Plastikmüll – in einem Kunstprojekt unter Mitwirkung der lokalen Bevölkerung zu Ziegelsteinen verarbeitet wird. Aus diesen Steinen soll für die Anwohnerinnen und Anwohner der Mülldeponie ein Haus gebaut werden – als Ort für die Kunst, aber auch als Ort für eine Stiftung, von der die Menschen finanziell profitieren.
Aus Müll entsteht Kunst. Aus Abfall wird Zukunft. Und dennoch ist es immer noch Müll, zum großen Teil westlicher Müll. Es hat mich beschämt, das zu sehen – und mich gleichzeitig beindruckt.
Umso mehr freue ich mich, dass bei der documenta fifteen ein indonesisches Kuratorenkollektiv ausgewählt worden ist. Einen ersten Blick auf die Exponate konnte ich gerade schon werfen, und ich bin sicher, dass ich bei meinem Rundgang gleich im Anschluss noch mehr Überraschendes, Spannendes, vielleicht auch Verstörendes oder Anstößiges zu sehen bekomme.
Warum also mein Zögern, heute hierhin zu kommen?
Selten hat eine documenta im Vorfeld eine so heftige, so kritische Debatte hervorgerufen wie diese. Eine Debatte, in der wenig über Kunst, aber sehr viel über politische Botschaften gestritten wurde. Und ich gebe zu: Die Schärfe der Kontroverse, die Unversöhnlichkeit im Ton, hat mich irritiert.
Wir alle wissen: Kunst ist nicht streitfrei zu haben. Mehr noch: Eine demokratische Gesellschaft darf Künstler nicht bevormunden, auch nicht instrumentalisieren. Kunst hat keinen politischen Auftrag. Aber sie kann eine Gesellschaft mit sich ins Gespräch bringen – ein Gespräch übrigens, das wir bitter nötig haben: Ein nach Aufklärung strebendes Gespräch, das in der Empörungslogik sozialer Medien und dem täglichen Bekenntnisdrang der Nutzer weniger gefördert als unterdrückt wird.
Streitfrei ist Kunst also nicht zu haben, aber: Ist deshalb alles Kunst? Joseph Beuys würde jetzt sagen: „Ja!“
Aber das kann nicht bedeuten, dass all jene, die sich für ihre politischen Botschaften der Kunst bedienen, außerhalb der Kritik bleiben. Zumal dann nicht, wenn sie den politischen Aktivismus zur Kunstform machen. Wer als Künstlerin oder Künstler in das Forum der Politik eintritt, muss sich nicht nur der ästhetischen, sondern auch der politischen Debatte und Kritik stellen. Und es gibt Grenzen!
Um das klarzustellen, spreche ich heute hier.
Ich habe die Diskussion im Vorfeld der jetzigen documenta sehr genau verfolgt, auch manchen gedankenlosen, leichtfertigen Umgang mit dem Staat Israel. Denn so berechtigt manche Kritik an der israelischen Politik, etwa dem Siedlungsbau, ist: Die Anerkennung der israelischen Staatlichkeit ist die Anerkennung der Würde und Sicherheit der modernen jüdischen Gemeinschaft. Die Anerkennung ihrer Existenzgewissheit. Als deutscher Bundespräsident halte ich für mein Land fest: Die Anerkennung Israels ist bei uns Grundlage und Voraussetzung der Debatte!
Nochmal: Kunst darf anstößig sein, sie soll Debatten auslösen. Die Freiheit der Meinung und die Freiheit der Kunst sind Wesenskern unserer Verfassung. Kritik an israelischer Politik ist erlaubt. Doch wo Kritik an Israel umschlägt in die Infragestellung seiner Existenz, ist die Grenze überschritten.
Es fällt auf, wenn auf dieser bedeutenden Ausstellung zeitgenössischer Kunst wohl keine jüdischen Künstlerinnen oder Künstler aus Israel vertreten sind. Und es verstört mich, wenn weltweit neuerdings häufiger Vertreter des globalen Südens sich weigern, an Veranstaltungen, an Konferenzen oder Festivals teilzunehmen, an denen jüdische Israelis teilnehmen.
Ein Boykott Israels kommt einer Existenzverweigerung gleich. Wenn unabhängige Köpfe aus Israel unter ein Kontaktverbot gestellt werden; wenn sie verbannt werden aus der Begegnung und dem Diskurs einer kulturellen Weltgemeinschaft, die sich ansonsten Offenheit und Vorurteilsfreiheit zugutehält; dann ist das mehr als bloße Ignoranz. Wenn es systematisch geschieht, ist es eine Strategie der Ausgrenzung und Stigmatisierung, die von Judenfeindschaft nicht zu trennen ist.
Trotz alledem müssen wir stärker hinschauen, auch hinhören, bei den Fragen, die im globalen Süden die Menschen bewegen: Die lange Kolonialgeschichte mit Gewaltherrschaft und Ausbeutung und die zahllosen blinden Flecken ihrer Aufarbeitung. Die Erfahrung von Unterdrückung und Entrechtung. Der Umgang mit geraubtem Kulturgut. Aber auch die heute schon spürbaren, dramatischen Folgen des Klimawandels mit Extremwetter, Dürren, Nahrungsmittelknappheit und Hunger.
Sich mit den berechtigten Interessen des globalen Südens auseinanderzusetzen, erfordert vieles: historisches Wissen, politische Vernunft, Kompromissbereitschaft. Es erfordert, in einem Wort: den Diskurs.
Ich hätte mir gewünscht, dass vor der Eröffnung dieser documenta über all das diskutiert worden wäre. Und ich bedauere, dass es nicht möglich war, eine direkte Diskussion zwischen den Vertretern des globalen Südens, der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland und Israel zu organisieren. Eine Diskussion, die vielleicht auch die Leerstellen des postkolonialen Diskurses beleuchtet hätte. Wir diskutieren die drängenden Fragen der Gegenwart – und der Vergangenheit – nicht exterrestrisch. Sondern in der realen Welt, mit ihrer Geschichte von Konflikten, Kriegen und Gewalterfahrungen. Mit all den Ablagerungen, die sie in der Wahrnehmung von Menschen und Völkern hinterlassen haben.
Eine globale Erinnerung ist erst im Werden. Und überzeugend kann sie nur entstehen, wenn sie alle Erinnerungen berücksichtigt. Eben auch jüdische und israelische Erinnerungen.
Das gilt erst recht für einen Ausstellungsort in Deutschland. Niemand, der in Deutschland als Debattenteilnehmer ernst genommen werden will, kann zu Israel sprechen, aber zu sechs Millionen ermordeten Juden schweigen. Die Wunde der Shoah bleibt offen; wir wollen, dass sie offen bleibt. Das Leid, das Deutsche Juden zugefügt haben; die Lehren, die die Nachfahren der Täter gezogen haben; das Wunder der Versöhnung zwischen Deutschland und Israel; all das sind Erfahrungen, die wir Deutsche in eine globale Erinnerung einbringen.
Daher wende ich mich heute auch an die Geschäftsführung und an die Gesellschafter der documenta. Es gehört zum Prinzip dieser Weltkunstschau, dass jede Ausstellung unabhängig kuratiert wird. Und die enorme Bedeutung der documenta als das Forum der globalen Kunstgemeinde hat ganz sicher auch mit der großen künstlerischen Freiheit zu tun, die jede Kuratorin, jeder Kurator – oder wie in diesem Jahr das kuratierende Kollektiv – genießen. Ich weiß das! Aber: Verantwortung bleibt, ja! Sie lässt sich nicht outsourcen.
Deswegen würde ich es sehr begrüßen, wenn die Verantwortlichen der documenta sich dieser anspruchsvollen Vermittleraufgabe intensiv annehmen würden – und hierfür auch geeignete Strukturen schaffen. Ich bin sicher: Es wird nicht an Unterstützung mangeln. Auch die Staatsministerin für Kultur hat ihre Hilfe angeboten.
Viel zu viele Menschen machen es sich bei komplizierten Zusammenhängen inzwischen sehr einfach. Für sie gibt es nur noch ein „Dafür“
oder „Dagegen“
, keine Differenzierung, auch kein gegenseitiges Verständnis mehr. Sie boykottieren, statt zu diskutieren. Aber hilft der neue Rigorismus wirklich weiter? Der Video- und Installationskünstler Leon Kahane hat darauf, wie ich finde, in einem Gastbeitrag für die Süddeutsche Zeitung eine gute Antwort gegeben. Kahane schrieb: „Es gibt Widersprüche zwischen den Argumenten und Schlüssen, die sich aus der Aufarbeitung des Kolonialismus und der Shoah ergeben. Diese Widersprüche lassen sich nicht auflösen. Sie lassen sich nur aushalten, besprechen und anerkennen.“
Und trotzdem, schreibt Kahane, gebe es Grenzen: „Antisemitismus und Rassismus sind solche Grenzen.“
Die documenta ist nicht nur der wichtigste, sondern auch der beste Ort für die Aushandlungsprozesse der zeitgenössischen Kunst. Ich will diesen Ort stärken. Und ich will die documenta stärken. Wir brauchen Sie! Dringender als die aktuelle Debatte es nahelegt! Und: Sie hat unser Vertrauen verdient, der Zukunftsort einer wirklichen Weltgemeinschaft der Kunst zu sein – ohne Boykott und ohne Vorverurteilung. Ein Ort der offenen Begegnung im Bewusstsein einer ungeteilten Menschlichkeit.“
Ein schönes Beispiel dafür, wie man mit Nichtssagen, wohldosierter „Kritik“ und pastoralem Ton von allen Seiten den Beifall einfängt und eine mehr als anrüchige Documenta wieder aufpoliert.
Frank-Walter Steinmeier in Hochform.
Hier ein paar Phrasen:
„Die größte muslimische Demokratie der Welt.“ (Indonesien)
„Folgen des westlichen Lebensstils …“,
„… Plastikmüll – westlicher Plastikmüll “
„Umso mehr freue ich mich, dass bei der documenta fifteen ein indonesisches Kuratorenkollektiv ausgewählt worden ist.“
„Die Schärfe der Kontroverse, die Unversöhnlichkeit im Ton, hat mich irritiert.“
„Denn so berechtigt manche Kritik an der israelischen Politik, etwa dem Siedlungsbau …“ Aber hollah!
Irgendwas staatsräsonales sollte aber auch nicht fehlen: „Die Anerkennung Israels ist bei uns Grundlage und Voraussetzung der Debatte!“
„Auch die Staatsministerin für Kultur hat ihre Hilfe angeboten.“ Claudia Roth – ohne Zweifel eine großartige Hilfe.
Und nun noch ein starkes Schlusswort zur Documenta: „Ein Ort der offenen Begegnung im Bewusstsein einer ungeteilten Menschlichkeit.“
Für die Betreiber empfiehlt es sich jetzt, die zugespielten Bälle aufzunehmen, dann eine ebenfalls wohldosierte „Selbstkritik“ garniert mit etwas Zerknirschung zurückspielen und die ganze unappetitliche Sauce schmeckt wieder nach Kaviar.
[…] seiner gestrigen Rede zur Eröffnung der Kunstausstellung Documenta in Kassel sagte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier „Trotz […]
[…] im Kreis herum reichen. „Outsourcen“ hat der Bundespräsident dieses eigenartige Sitzspiel in seiner Rede zur Eröffnung der Ausstellung […]
[…] im Kreis herum reichen. „Outsourcen“ hat der Bundespräsident dieses eigenartige Sitzspiel in seiner Rede zur Eröffnung der Ausstellung […]