Heute möchte ich die neue Kassierer CD vorstellen. Das stellt mich vor genau drei Probleme. Grund genug für eine Nabelschau.
Es gibt viele Dinge, die ich nicht kann. Das Schreiben von CD-Kritiken kommt dazu. Perik hat mich in all den gemeinsamen Jahren beim Marabo nur zwei Platten besprechen lassen. Und er hatte gute Gründe dafür. Viel mehr als toll oder öde fällt mir nicht ein. Musik zu hören ist für mich etwas ganz persönliches und die Geschichten, die ich mit der Musik verbinde sind oft so privat, dass ich nicht daran denke, sie aufzuschreiben. Ein abstrakter, kritischer Blick auf Musik ist mir fremd. Keinerlei Sachkenntnis trübt meinen Blick.
Und dann die Kassierer. ich mah Wolfgang Wendland und wenn wir uns mal im Intershop sehen trinken wir ein paar Bier. Es macht Spaß, sich mit ihm zu unterhalten. Er ist klug und strahlt, wie viele wohlbeleibte Menschen, zudem eine Ruhe und Behaglichkeit aus, die mir sympathisch ist.
Als mich Wolfgang fragte, ob ich die neue Kassierer CD bei den Ruhrbaronen vorstellen will sagte ich sofort ja. Dann erst fiel mir ein, dass ich die Musik der Kassierer nicht mag. Ich weiß, viele meiner Freunde mögen sie. Ich mag die Haltung der Kassierer, ihre Lässigkeit, ihre Bösartigkeit und ihren Hang zum Exhibitionismus. Alles klasse. Aber es ist nicht meine Musik. Und hören konnte ich die CD auch nicht, weil mein Gutscheincode nicht funktionierte. Ich hätte die Kritik sowie versemmelt. Und das will ich nicht, weil ich nicht will, dass mich Wolfgang doof findet. Also: Die neue Kassierer CD ist da. Die Kassierer sind eine der erfolgreichsten Punk-Bands Deutschlands. Ihre Konzerte sind legendär. Sie haben Haltung. Sind Konsequent. Und hier ist die sehr schöne Pressemeldung zu der neuen Kassierer CD mit dem Namen Physik.
Das Album „Physik“ erscheint zum 25jährigen Bandjubiläum der Kassierer aus Wattenscheid. Wie der für ein Punk-Album ungewöhnliche Titel andeutet, geht die musikalische Reise der Kassierer dieses Mal in Richtung Wissenschaft. Das Album verbindet in noch nicht dagewesener innovativer Weise die Themenkreise Quantenphysik, Astronomie und Kot – wobei auch die kassierertypischen Anliegen Saufen und Geschlechtsverkehr nicht zu kurz kommen.
Musikalisch ist das Album noch ausgereifter und abwechslungsreicher als die letzte Scheibe „Männer, Bomben, Satelliten“, die mittlerweile sieben Jahre zurückliegt.
Zu Beginn knüppelt ein Drill Instructor auf den überraschten Zuhörer ein und stimmt ein Loblied auf Wölfi ein – garantiert die nächste Hymne für’s Stadion.
Punkmäßig wird dem Alkohol gehuldigt und er in eine logische Reihe der großen Menschheitserfindungen eingereiht. Obskure Zimmer tauchen auf bei „Ich fick dich durch die ganze Wohnung“, und in jedem dieser Zimmer kann man und frau herrlichen Sex haben.
Melancholisch wird es beim „Zitronenhai“ einem balladenhaften Werk, welches vomvon einem Zitherorchester begleitet wird, dessen betagte Mitglieder mit wahrem Spieleifer dabei sind. Auch lernt der geneigte Hörer, dass Sänger Wölfi rückwärts sprechen und singen kann, eine ganz erstaunliche Darbietung.
Wer nach einem Song über das bisher vernachlässigte Thema Niesen sucht, wird fündig und kann im Selbstversuch probieren, ob es gelingt, „Scharlatan“ laut zu niesen. Erinnerungen an Kraftwerk steigen auf, wenn die Kassierer die schlimmste Substanz des Universums besingen. Was könnte das sein? Richtig, es ist von Kot die Rede.
Alle Kinder, die mit dem Werk „Weihnachtsbäckerei“ groß wurden, sollten sich unbedingt informieren, wie eine Punkband dieses Lied genial verfremdet hat.
Der Skakracher „Ich war ein Spinner – doch jetzt bin ich seriös“ wirft die Frage auf, wie viel Autobiographisches in diesem Album enthalten ist.
Wir werden es – und das ist jetzt wieder typisch Kassierer – wahrscheinlich nie erfahren. Ständig wird man bei „Physik“ in ein Wechselbad von Erwartungen, Stimmungen, musikalischen Stilen und unerwarteten Wendungen geworfen, das jede Menge Spaß macht, verblüfft und oft Staunen macht. Was die Songs der Kassierer stets ausgemacht hat, ist ein geniales, jeder Konventionalität entzogenes Songwriting, das so von keiner anderen deutschen Band erreicht wird. Dieses Prinzip der absurden Kombination von Musikstilen und hirnverdrehenden Texten ist bei „Physik“ auf den Höhepunkt gebracht worden.
Kassierer-Tour:
Bravo ! Genial ! Und überhaupt, warum soll man alles selber machen?
vergleiche (zugegeben, kein Punk):
Herbie Hancock, „Cantaloupe Island“:
https://www.youtube.com/watch?v=cqwmDNPegnM&feature=related
und:
Us3, „Cantaloop“:
Schade, kein Konzert im Ruhrgebiet. Warum eigentlich nicht?
„Ich weiß, viele meiner Freunde mögen sie. Ich mag die Haltung der Kassierer, ihre Lässigkeit, ihre Bösartigkeit und ihren Hang zum Exhibitionismus. Alles klasse. Aber es ist nicht meine Musik.“
Da geht es mir ebenso. Gute Jungs mit der Traute (sagt man noch so?) zur Geschmacklosigkeit. Immer willkommen, immer mit Hut ab. Aber das Schlimme bei denen ist: Die gehen eben diesen einen (oft auch drei) Schritt(e) weiter, den man sich selbst nie getraut hat. Vom Fremdschämen zum Schämen über die eigene Feigheit ist es dann ein kleiner Schritt. Ich habe die immer bewundert, aber immerhin esse ich auch gerne Kutteln und experimentiere mit Schnepfendarm (siehe Link unten). Ein bisschen Kassierer sind wir also hoffentlich alle. Ohne die neue CD zu kennen (die Rezensionsexemplare habe ich immer sofort verkauft), wünsche ich mir immer einen NRW-Landesgeburtstag, an dem Wölfi & Co vor Hanni Kraft spielen.
Übrigens (1): Nico ist damals immer in die Marabo-Redaktion gekommen und hat die neuen Sachen vorbeigebracht. Tolle Gespräche!
Übrigens (2): Um Himmels Willen, welche 2 Platten hast Du denn besprochen?? Joseph Beuys, „Wir wollen Sonne statt Reagan“??
Übrigens (3): Vorhin hat einer bei Supertalent Bilder mit seinem Pillemann gemalt. Ich frage: Wäre das ohne die mächtigen Kassierer je möglich gewesen?
Hier noch der Link zum Schnepfendarm à la Kassierer (runterscrollen):
https://kochplattenteller.blogspot.com/2009/12/rinderbruhe.html
[…] Stefan Laurin und die neue Kassierer CD: … Es gibt viele Dinge, die ich nicht kann. Das Schreiben von CD-Kritiken kommt dazu. Perik hat mich in all den gemeinsamen Jahren beim Marabo nur zwei Platten besprechen lassen. Und er hatte gute Gründe dafür … ruhrbarone […]
@Perik: Eine CD mit Scherben-Covern. Wollte keine sonst machen und da ich alle Scherben-Stücke auswendig kenne hielt man mich wohl für qualifiziert. Die zweite war irgendwas mit deutschem Hiphop. Schuld war Christian Dorndorf – der hat mir die beiden Aufträge hinter Deinem Rücken zugeschanzt. Nur so konnte das geschehen. Es war, machen wir uns nichts vor, ein Zeichen des Niedergangs. Aber ich durfte dann ja auch noch zwei Musikgeschichten machen: Eine über die Scherben und ein Tocotronic-Interview. Vor dem ex Scherben-Keyboarder und vor den damals drei Tocotronics habe ich gesessen wie ein 14jähriger vor Lady Gaga. Ich glaub ich habe sowas gefragt wie: Warum seit ihr so toll? Wisst ihr, das Eure Texte mein Leben geändert haben (Wegen einer Scherben-Textzeile habe ich mit 14 dem Rauchen angefangen: „Wenn die erste Zigarette, dir halb den Tag verbrennt…“), über Politik will ich hier garnicht reden und Tocotronic war dan, 20 Jahre später, natürlich wieder fast ein Erweckungserlebnis. Und natürlich wieder die Texte: Teppichböden, Hügel im Abendsonnenschein und mit dem Bus geht es unter Schmerzen nach Bahrenfeld. Ach, ich bin ein Kitschkopf, aber es ist doch so wie es ist: Auf dem Gipfel der Verzweiflung ist immer noch was los. Aber eine Band, deren Sänger davon träumt, mit Mark E. Smith Pizza zu essen kann nicht verkehrt sein – denn Mark E. Smith, darüber muss ja nicht lange geredet werden, ist Gott. Oder so etwas ähnliches.
[…] Drei Probleme und die neue Kassierer CD (Ruhrbarone) – Musik-Rezension mal anders… […]
Stefan, mit der Musik geht es mir genau wie Dir. Danke Perik, für die Erklärung, als ich es las war mir klar, genauso fühl ich ich jedesmal wenn ich von denen was höre. Als Wattenscheider mischt sich das bei mir mit ein bisschen Stolz.
Obwohl auf Wölfi nackt auf der Bühne hät ich gut verzichten können. Als Einstimmung für einen Jungesellenabend der mit einer grossen Sause im Puff endete sehr geeignet und ich weiss da wovon ich spreche…..
Verschiedene Geschmäcker, vergleichbare Gedanken… Ähnlich wie Euch mit den Kassierern geht es mir mit Helge Schneider. Ein bewundernswerter Künstler, dessen Interpretation von Jazz wahrscheinlich mehr „Punk“ ist als der Großteil dessen, was heutzutage unter diesem Etikett vermarktet wird. Aber anhören kann ich mir das trotzdem nicht.
16.01.2011 Konzert im Bhf Langendreer