Die alten Griechen hätten sich zu früher Stunde am Spreeufer geküsst gefühlt. Wenn nicht Habermas, Popper und Mill, dann braucht es andere Zeitgenossen aus Wissenschaft, Politik und Kultur, die in diesen hitzigen Zeiten kultivierte Debatte beherrschen. Ob Klimaschutz, Compact-Verbot, Corona-Pandemie, Migration, Seenotrettung, Nahost-Konflikt, Antisemitismus an Hochschulen oder Pronomen-Sprachregeln – mitten in Mitte diskutieren in der Berliner Sommerpause Philipp Hübl, Linda Teuteberg und Ronya Othmann wohl temperiert miteinander. Die offene Holzarchitektur des Monbijou Theaters bietet den angemessenen Raum, um den Geist einer Agora zu demonstrieren.
Sonntagmorgen an der Spree, während die letzten Rave Nation Revival Fetischisten den Tiergarten wieder die grüne Lunge Berlins sein lassen, füllt sich vis-à-vis der Museumsinsel das Amphitheater, das von Jakob Wurster geführt wird. Unter freiem Himmel erörtert Philipp Hübl, dessen neues Buch „Moralspektakel“ Anlass und guter Grund einer Matinee war, mit Linda Teuteberg MdB sowie mit der frisch für den Deutschen Buchpreis 2024 nominierten Ronya Othmann, warum Rede und Gegenrede für liberale Demokratien überlebenswichtig sind. Sie schärfen unsere Argumente. Nur das Wie scheint der Knackpunkt, weswegen Empörungskaskaden, befeuert in den Sozialen Medien, schnell hochkochen. Alle paar Minuten schreit jemand „Aua!“ und fühlt sich im Recht.
Die drei Experten aus den Feldern Wissenschaft, Politik und Kultur treten ihre Sprecherpositionen auf Einladung der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit an. Deren Vorsitzender und ehemaliger Finanzminister in Sachsen-Anhalt, Karl-Heinz Paqué, stimmt in den Dreiklang des Morgens ein: „Wir diskutieren heute öffentlich. Habermas sieht die Moral als Ergebnis eines offenen rationalen Diskurses. Durch diesen Modus des offenen Diskurses erhalten Normen ihre Gültigkeit. Das ist die einzige Chance, dass sie eine allgemeine Akzeptanz erlangen.“
Statt wie Inquisitoren, sollten wir mehr wie Richter denken, um einem Moralspektakel vorzubeugen, führt Philipp Hübl in den Kerngedanken seines Buches ein. Luft holen, atmen, eine prüfende Frage zur Selbstvergewisserung hilft, bevor man die Person und nicht die Sache verurteilt: Wie schwer wiegt denn wirklich der moralische Normverstoß?
Auf dem Markt der Meinungen lenken die vielen Befindlichkeiten vom eigentlichen Sachthema ab, so nicht nur Hübls Gegenwartsanalyse. Braucht Berlin etwa wirklich nach Hart aber Fair eine weitere Fake News schreiende Komikerin zum Frühstück? Die ausgeschlafenen Zuschauer horchen Teuteberg und Othmann zu, die als beeindruckende Sparringspartner für Hübl die Funken trotzdem fliegen lassen. Konzises Argumentieren ist eine hohe Kunst, ein Feuerwerk der Worte, das Hübl, Teuteberg und Othmann im Modus eint. Gleichwohl kommen feine Nuancen in ihren unterschiedlichen Perspektivierungen – auch politisch – vor allem durch die Klarheit in Tina Dausters Moderation zum Vorschein.
Es gibt sie noch, die kultivierte Debatte von klugen Menschen, anderen zuhören, respektvoll warten, bis sie Gedankenstränge fortführen, erwidern oder vertiefen. Den ersten Applaus des Morgens räumt Linda Teuteberg ab, die nicht lange wartet, um ein brisantes Thema zur Moral vor dem Publikum anzusprechen, bei dem man ja nie weiß, ob es sich gleich am kleinsten Sachargument entlädt. Nichts ist der Fall, im Gegenteil. Sorge bereite ihr der Antisemitismus in unserer Gesellschaft, so die FDP-Politikerin, der sich besonders am Nahost-Konflikt moralistisch entfalte. Dabei könne man wohl kaum das Existenzrecht Israels historisch infrage stellen wollen.
Neben Worten seien es heute wie früher insbesondere Bilder, die moralische Urteile vorschnell und einseitig wecken. In der Tat ein wichtiger medientheoretischer und -kritischer Hinweis, den zu viele Menschen gerade bei der Einschätzung der Sachlage zu Palästina vergessen, weil sie einem Foto nichts als die Wahrheit blind zusprechen. Dabei wissen wir doch seit Erfindung der Fotografie, aber auch der Malerei, was ein Bildausschnitt auch alles nicht zeigt. Damit weist Teuteberg beispielsweise auf die vermiedenen Opfer von Verteidigungsmaßnahmen hin. Das Publikum stimmt dem zu.
Schon zeigt sich, Moral verlangt jedem Denkenden eine Menge Ambiguitätstoleranz ab. Das ist diejenige Fähigkeit, um Mehr- und Vieldeutigkeit in ihrer Gleichzeitigkeit mitzudenken und die eigene Position dabei wohl begründet aufzustellen. Nur so ist in einer komplexer werdenden Welt ein sozialer Austausch unter Achtung eines hohen Gutes unseres Grundgesetzes, die Meinungsfreiheit, möglich. Ein klassisches humanistisches Menschenverständnis, in dem das Individuum befähigt wird, sich aktiv in die liberale Demokratie einzumischen. Im Übrigen handelt es sich hierbei um dasjenige Bildungsanliegen, das man in jedem Sandkasten einer Kita findet.
Schulen, führt Teuteberg nun fort, liefen Gefahr, nicht mehr zwischen Gesinnungs- versus Verantwortungsethik zu unterscheiden. Der französische Präsident Macron verbietet beispielsweise an Grundschulen das Gendern, weil die Frage ist doch, ob ein xier, sier, oder dey wirklich zielführend für die Bildungschancen von Kindern sei. Tatsächlich ist ihr Einwurf berechtigt, was genau eine besonders moralische Sprache in der Schule verändern soll, wenn Schüler und Lehrer zwar gegenseitig sozusagen „La vie en queer“, aber keinerlei Grundgrammatik der Nationalsprache, geschweige denn einen brauchbaren Alphabetisierungsgrad im Hör- und Leseverstehen beherrschen. Teuteberg fasst nach dieser anekdotischen Tragik in Klassenzimmern zusammen: Sprache bringt Klarheit zu Inhalten und das ist doch das moralische Gut in einer komplexen Welt.
Als Meisterin des Wortes setzt die Autorin Ronya Othmann in die Diskussion ein. Doch nicht nur Preise, auch einen Shitstorm hat es für die Schriftstellerin mit kurdisch-jesidischen Wurzeln in ihrer jungen Karriere geregnet. Einerseits mag es richtig und wichtig in Demokratien sein, sich in den Markt der Meinungen einzubringen. Andererseits steht ein nicht kalkulierbarer Kostenaufwand dem gegenüber. Für Othmann stellte sich konkret die Frage, welchen Reputationsschaden erleide ich, wenn ich meine Meinung kundtue, als sie auf Einladung des Goethe-Instituts wieder vom Literaturfestival Karatschi ausgeladen wurde, und zwar mit einem „offenen Brief“. Genau, das ist das beliebte mediale (Druck-)Mittel von Aktivisten, das mit großem Eifer beinahe wöchentlich erscheint und moralische Reichweite beansprucht; es sei denn, eine Tageszeitung mit den vier großen Buchstaben sorgt für noch mehr Reichweite.
Der Programmleitung in Pakistan war Othmann zu israelfreundlich, sprich nicht antisemitisch genug, obendrein islamophob sei sie auch. Othmann erfüllt nicht den in weiten Teilen herrschenden Konformitäts- und Bekenntnisdruck, um in der „Kreativen Klasse“ vergemeinschaftet zu werden. Ein Begriff, den Hübl in seinem Buch „Moralspektakel“ für Akademiker anbringt, die mehr als andere dazu neigen, die absolute Wahrheit für die eigenen Ansichten zu verfestigen. Othmann kritisiert, wie verkürzt Debatten gerade von gut Gebildeten und von Künstlern geführt werden. Anschaulich werde es daran, wie man ihre Kolumne instrumentalisiere, um mit gesammelten Überschriften gegen sie Front zu machen.
In der FAZ schreibt Othmann regelmäßig hinter einer Paywall. Erster Satz und das in der Timeline erscheinende Bild reichen als Teaser schon aus, sodass ein Urteil sofort gefällt wird. Die Attacken verlaufen dann mobartig, sei es aus Richtung antisemitischer oder islamistischer Aktivisten gegenüber der Journalistin, wenn sie auf zweifelhafte Jurybesetzungen staatlich geförderter Kulturpreise oder auf Kinderehen hinweist.
Hübl sieht nicht nur Einzelpersonen, wie im konkreten Fall von Othmann, sondern auch Universitäten oder Museen in der Situation, stellvertretend angegriffen zu werden, sodass sie oft schon präventiv ein Statusspiel um die Moral des Tages betreiben. Es gehe laut Hübl um eine Art Konkurrenzschau. Sich moralisch zu messen sei einfacher, als den Aufwand tatsächlicher Leistungen vorzuweisen. Aristoteles beschrieb schon Neid. Wie im Wilden Westen stehe man sich duellierend gegenüber. Mach ich piff, machst Du puff, mach ich piff paff puff – quasi. Moral als Waffe, das ist die neue Ausrüstung im Alltag.
Schaue man auf ein Jura-Studium, erörtert Hübl, käme man schon dem Spektrum an Anforderungen nahe, um moralische Entscheidungen abwägen zu können. Da kommt es gut, dass Linda Teuteberg die einzige Juristin in der Runde ist. Das Rechtsverständnis von Philosophen und Juristen treffen sich auf dieser Betrachtungsebene. Es gilt nämlich die normative Seite von der faktischen Seite eines moralischen Urteils zu unterscheiden. Zwar müssen Urteile schnell unter hohem Zeitdruck erfolgen. Das halte aber lange noch keine Entschuldigung dafür bereit, sich nicht in ein Thema einzuarbeiten und Falschbehauptungen gegenüber anderen gar nicht erst zu äußern.
Hübl merkt einen weiteren Spin an: Hat die Person vielleicht sogar den schnell abgesetzten Tweet strategisch eingesetzt? Während Tina Dauster an der Stelle besonders für den Kulturbereich nachhakt, ob denn Künstler nicht besonders sensibel für Ungerechtigkeiten sein müssten, erwidert Othmann, dass sich gerade dort viele Selbstdarsteller und Akteure sammeln, die sogar einer inszenierten Moral von fragwürdigen Regierungen und Medienkanälen wie Al Jazeera auf den Leim gingen. Moralspektakel, beobachtet Othmann, sei längst eine Kriegsstrategie autokratischer Staaten, angefangen von der AKP Erdogans über den Iran bis Putin. Es sind also auch Regierungen, die sich eines Moralspektakels bedienen, um absolute Deutungshoheit zu erlangen.
Bei moralischen Diskussionen im Kulturbetrieb zeigt sich Othman ernüchtert. Im Leipziger Literaturinstitut der Universität Leipzig, wo sie studiert hat, ging es irgendwann nicht mehr um die Güte von Texten, sondern um Statusgewinn. In der Kulturszene gibt es schließlich nur eine begrenzte Aufmerksamkeit, begrenzte Preise, begrenzte Stipendien, also entstehe ein Wettbewerb über die moralische Positionierung, aber nicht über Leistungen. Die Folge ist, Kunst wird überfrachtet und verliert unter der politischen Dimension und Identitätspolitik ihren Charakter. Ja, Charakter sucht man mittlerweile oft in der – freien – Kunstszene; bekannt auch als Anstand. Gepaart mit – zum Teil konstruierten – Diskriminierungserfahrungen, die man bei jeder Gelegenheit ungeniert mitteilt, sei dies neuerdings zum federführenden Beurteilungskriterium künstlerischer Qualität geworden, sind sich die Drei schnell einig.
In diesem Zusammenhang kommt Teuteberg noch einmal auf so manche Schwurbeleien bei israelbezogenem Antisemitismus zurück. Das Publikum fühlt sich unterhalten, wenn sie fragt: „Allein das gängige Mantra ‚Man wolle doch nur Israelkritik üben‘ ist sprachlich verräterisch. Gibt es das auch zu anderen Ländern?“ Aus identitätspolitischen Gründen darf ich mit Fug und alleinigem Recht eine rhetorische Frage anschließen: Gibt es eigentlich auch eine „Italienkritik“ im Duden? Interesting. (Ich lasse mal eben eine Pause zum Googlen. Ja, googlen Sie ruhig!)
Identitätspolitisches Argumentieren, schlussfolgert Teuteberg, sei kein Argumentieren im eigentlichen Sinne, weil es zutiefst antiaufklärerisch ist. Denn eine Opfer-Täter-Zweiteilung ist wie ein Schwarz-Weiß-Denken. Gute Argumente mit sachlicher Distanz zum subjektiven Empfinden erübrigen sich. Niemand muss sich mehr anstrengen. Dahinter verbirgt sich ein resignierendes Menschenbild. Das hohe Gut der Aufklärung, die auch der Treiber unserer Bildungsanstrengungen ist – siehe oben der Sandkasten – setze aber ein aktives Menschenbild voraus, in dem das Individuum bereit ist, sich die Welt aktiv zu erschließen. Unser Grundgesetz, so die Juristin, garantiere ein leistungsbereites Menschenbild zu fördern, das nach dem Guten strebt und sich anstrengt, mit Neugier in die Welt zu treten.
Wäre es daher nicht die Aufgabe der Kunst, sich nicht instrumentalisieren zu lassen und die richtigen Fragen zu stellen bzw. seien Regulierungen von staatlicher Seite die Antwort auf das Moralspektakel, fragt Tina Dauster, die die Perspektivierung zwischen Wissenschaft, Politik und Kultur geschickt im Pendel hält. Othmann erinnert gerade in Berlin an die gescheiterte Antidiskriminierungsklausel, die vom Kulturbetrieb jäh blockiert wurde – wie von einem bockigen Kind mit wenig Impulskontrolle würde ich aus pädagogischer Sicht behaupten. Während man allerlei wie besondere Aufmerksamkeit gegenüber Sexismus oder Nachhaltigkeit in Förderprogrammen für den Kulturbetrieb fordern darf, sei eine Verpflichtung zur Bekämpfung von Antisemitismus jedoch Grund genug, Zensur in der Berliner Kulturverwaltung heraufzubeschwören, kritisiert Othmann. Nun versucht es Hardliner Chialo mit einer Softversion staatlicher Maßnahmen.
Ist es denn wirklich so abwegig, fragt Othmann in die Runde, in einer liberalen Demokratie zu fordern, dass eine BDS-Filmreihe bitte nicht mit staatlichen Fördergeldern unterstützt wird? BDS dürfe doch bei unserer Verfassung tun und fordern, was es wolle, solange ihr Kulturtreiben privatwirtschaftlich finanziert werde. Teuteberg hält es wie Othmann für unseriös, Zensur und Repression im Kulturbetrieb gleich zu schreien, eine Diktatur zu sehen, wo keine ist, sobald der Staat Steuergelder als politische Maßnahme im Kampf gegen Antisemitismus kürzen wolle. Grundprinzipien einer liberalen Demokratie sind recht einfach zu verstehen.
Das Publikum wartet auf Lösungen und fragt zu vielen Themen des Zeitgeschehens nach. Was folgt also daraus, um aus der Schleife der Dauerempörung zu kommen? Hübl plädiert für die Verfeinerung von Formulierungen und der eigenen Haltung entlang eines Dreiklangs:
- Moralische Bescheidenheit lernen
- Widerrede kultiviert üben
- Charakterurteile vermeiden, d.h. es ist kommunikativ ein Unterschied zu sagen „Deine Aussage ist rassistisch“ statt „Du bist ein Rassist.“
Außerdem schade es nicht, so der Philosoph, epistemische Bescheidenheit zu pflegen: „Zu wissen, dass man nicht alles weiß, schützt vor Denkfehlern.“ Der Dreiklang von Redlichkeit, Tatsachen und Demokratie sei es, der eine Perspektivvielfalt erfordere und anbietet, merkt Teuteberg an, um sogleich zu mahnen: „Wer mehr Moral fordert, muss dann auch den Dreiklang von mehr Freiheit, Toleranz und Akzeptanz als Tugenden leben.“ Othmann resümiert: „Guter Streit ist kein Moralspektakel.“
Anmerkung: Die Autorin dieses Beitrags ist ein Multitalent. Als freiberufliche Programmmanagerin der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit hat sie diese Matinee konzipiert. Als Ruhrbaronin hat sie keinerlei Honorar weder der Redaktion, der Stiftung, der Referenten oder sonstigen Dritten erhalten. Sie steht in keinem Interessenkonflikt.