Drogenhilfe in den Zeiten des Corona-Virus

Denis Schinner Foto: Sören Spiegelberg  Lizenz: Copyright


Letzte Woche haben wir mit Magnus Memmeler zur Situation im Rettungswesen und zum Katastrophenschutz gesprochen. Nun folgt ein schriftliches Interview mit Denis Schinner, 47,  Sozialarbeiter, Sucht-und Sozialtherapeut, Qualitätsmanagementbeauftragter im Gesundheitswesen, Betriebswirt.

Seit über 20 Jahren ist Denis Schinner in der Suchthilfe aktiv. Gegenwärtig ist er Vorstand und Geschäftsführer beim Arbeitskreis für Jugendhilfe e.V. und der Netzwerk Suchthilfe gGmbH in Hamm (Westf.). (www.drogenhilfe-hamm.de)

Der Trägerverein betreibt seit 50 Jahren stationäre Einrichtungen und ambulante Dienste der Suchthilfe in Hamm und im Münsterland, darunter die Fachklinik Release, die CMA Einrichtung KESH, das Drogenhilfezentrum mit Jugend(Sucht)Beratung, Suchttberatung und dem ambulant Betreuten Wohnen.

Ruhrbarone: Soziale Einrichtungen haben es in Zeiten von Corona schwer. Die Pandemie dürfte die ohnehin gesundheitlich belasteten Klienten einer erheblichen Gefährdung aussetzen. Wie geht Ihre Einrichtung gegenwärtig damit um? Wie hat sich der Alltag der Einrichtung verändert? Wie sieht der Schutz der Klienten, wie der Schutz der Mitarbeiter aus?

Denis Schinner: Die Einrichtungen und ihre Mitarbeitenden müssen unter erheblichen Einschränkungen funktionieren. Der Betrieb muss aufrechterhalten werden. Sucht und Armut können ja nicht einfach wie das öffentliche Leben heruntergefahren werden. Gleichzeitig haben Pflegekräfte, Sozialarbeitende oder Therapeuten genauso die Sorge, dass auch sie bei aller Professionalität eine Infektion erleiden. Und unsere Patienten, Bewohner und Klienten gehören aufgrund multipler Begleiterkrankungen, wie HIV, Hepatitis oder COPD, zur Hochrisikogruppe.

Die stationären Einrichtungen isolieren sich. Jede Aufnahme muss individuell abgewogen werden, obwohl die meisten seit vielen Monaten geplant und vorbereitet wurden. Viele Rehabilitanden, die jetzt zu uns kommen, sind froh nicht weiter in ungesicherten sozialen Verhältnissen ausharren zu müssen. Aber es gibt auch diejenigen, die die Behandlung aus Sorgen um Partner und Kinder abbrechen.

Das aktuelle Behandlungsangebot in den Einrichtungen ist natürlich eingeschränkt. Therapeutische Gruppenangebote sind kaum noch möglich, gleiches gilt für gemeinsame Freizeitaktionen. Es dürfen keine Besuche mehr empfangen werden, Heim- und Tagesfahrten zur Erprobung sind untersagt. Externe Firmen-Praktika von Rehabilitanden mussten beendet werden.

Bei allem dürfen wir aber nicht vergessen, dass unsere Klienten es nicht gut aushalten können, sich mit sich zu beschäftigen, sich selbst auszuhalten. So auf sich zurückgeworfen, erleben wir zunehmende emotionale Krisen, denen dann mit hohem personellem Einsatz begegnet werden muss. Eine ganz schwierige Situation für Klienten und Mitarbeitende. Aber soziale Arbeit, und insbesondere Suchtarbeit ist Beziehungsarbeit! Und das zu einer Zeit, in der soziale Distanz gewahrt bleiben soll. Das ist kaum möglich. Die psychische Stabilität und letztendlich auch die Abstinenz kann so nicht gefördert werden.

Somit sind auch die Schutzmöglichkeiten beschränkt. Wir können ja keine vertrauensvollen Gespräche hinter Plexiglas führen. Versuchen Sie mal Blutdruck sozial distanziert zu messen!

Zudem stehen die Einrichtungen ziemlich blank da. Langjährige Lieferanten von Desinfektion können nicht liefern, Schutzmasken sind nicht zu bekommen. Die Versorgung ist schwierig und muss dringend wieder in Fahrt kommen!

Ruhrbarone: Allenthalben liest man davon, dass die Sozialen Einrichtungen gegenwärtig unter der mit der Pandemie einhergehenden Krise leiden – fehlt Schutzkleidung oder etwas anderes? Wie sieht die psychologische und medizinische Betreuung eurer Klienten, wie die der Mitarbeiter aus?

Schinner: Es fehlt an Schutzkleidung, an Desinfektion. Dort wo homeoffice möglich ist, z.B. in der Ambulanz, ist die Einrichtung jedoch für einen Sozialbetrieb sehr kostenintensiv und auch hier gibt es schon erhebliche Lieferprobleme, z.B. bei Laptops. Alle sind aber sehr bemüht Lösungen zu finden. Ein großes Lob geht hier an die Vertreter unserer Lieferanten oder an unser Systemhaus im Hamm. Sie versuchen alles!

Aber letztendlich müssen unsere Mitarbeitenden mit dem Mangel vor Ort zurechtkommen. Der soziale Sektor muss leider seit Jahrzehnten mit Mangel zurechtkommen. Man könnte meinen, wir wären erprobt, aber die aktuelle Situation fordert uns unglaublich.

Zuletzt hatten wir in der Suchthilfe aber das Gefühl, dass wir hier vorankommen. Dann umklammert uns ein Virus und wird uns schlimmstenfalls um Jahre zurückwerfen. Mit diesen Ängsten müssen nun auch die Organisation und ihre herausragenden Mitarbeitenden zurechtkommen. Dabei gleichzeitig alles in ihrer Macht stehende tun, um Klienten, Bewohnerinnen und Bewohner oder Rehabilitanden die in dieser Zeit bestmögliche Hilfe und Unterstützung zukommen lassen. Das ist eine immense Belastung und hohe Verantwortung!

Ruhrbarone: Eine große Herausforderung wird vermutlich auf längere Sicht sein, dass das Wegbrechen des sozialen Lebens eine Einrichtung wie die Ihre vor große Herausforderungen stellen wird. Wenn Klienten auf ihren Zimmern hocken müssen, sie nicht mehr am normalen öffentlichen Leben, das es ja nicht mehr gibt, teilnehmen dürfen und können, wie kann man Menschen, die sich in einer besonderen Phase ihres Lebens befinden, den nötigen Halt geben, ohne dass sie ihre Reha abbrechen und rückfällig werden?

Schinner: Das ist eine gute Frage. Wir werden hier unglaublich aufmerksam und zugewandt sein müssen. Und wir dürfen nicht vergessen, dass auch jeder Mitarbeitende Sorgen und Ängste hat, Familie hat und versucht ein Leben gesund zu gestalten. Alle erleben dies als gefährdet. Nur wenn wir als professionelle Helfende es nicht aushalten und schaffen können, die Krise zu bewältigen, wie sollen es dann die Schwächsten in der Gesellschaft, Kranke oder psychisch instabile Menschen schaffen?

Glücklicherweise haben einzelne Leitungsträger ihre strengen Vorgaben gelockert, Stichwort Fachkraftquote oder Angebotsausdifferenzierung. Wir dürfen aktuell etwas flexibler tätig sein und fahren dabei auf Sicht. Die Lage ist ja insgesamt sehr instabil und die Anordnungen von Kommunen und Kreisen werden noch alle paar Tage aktualisiert. Ebenso die Richtlinien der Leistungsträger.

Ruhrbarone: Wenn wir auf das große Ganze schauen, schlagen die Wohlfahrtsverbände gegenwärtig Alarm. Nach aktuellen Informationen würden soziale Einrichtungen nicht unter den von der Bundesregierung geplanten Rettungsschirm fallen.  Wie sehen Sie die Probleme für ihren Bereich? Würden extra Mittel helfen? Was könnte man damit ausgleichen?

Schinner: Das ist in der Tat ein unglaubliches Problem für die Träger. Gerade in der Suchthilfe wurde jahrzehntelang an der Substanz gespart. Wir haben bis in die jüngste Zeit einen erheblichen Investitionsstau zu verzeichnen gehabt. In den letzten Jahren haben wir anfangen können, dies abzubauen. Die Leistungsträger haben eingesehen, dass sie hier eine Mitverantwortung tragen und Geld in das System musste. Allerdings ist alles sehr langfristig ausgelegt. Das bedeutet, dass Einrichtungen über Kredite aus dem Kapitalmarkt Investitionen vorfinanzieren und diese Kredite nur langfristig über die Vergütungssätze zurückzahlen können. So auch wir. Wir investieren gerade 3 Millionen Euro am Standort der Fachklinik Release in einen Neubau und ein Sanierungsvorhaben. Neue Kredite, z.B. um die Liquidität zu erhalten, bringen uns somit nicht weiter.

Wir werden alle kreativen Ideen brauchen, um die finanziellen Auswirkungen dieser Krise zu bewältigen.  So könnten z.B. Leistungszusagen für Patienten immer auf die Regelbehandlungszeit von 22 Wochen (im Rehabereich Entwöhnung Illegale Suchtmittel) erteilt werden. Leistungszusagen für 6 oder 8 Wochen sollte es aktuell nicht mehr geben. Dann könnte die Vergütung aktuell im Voraus an die Träger gezahlt werden. Bei vorzeitigen Ende könnte auf die Rückzahlung verzichtet werden. Auch habe wir immer noch offene Rechnungen, die von Leistungsträgern noch nicht ausgeglichen wurden – zum Teil aus 2018. Diese könnten ohne weitere Prüfung erstattet werden.

Ich weiß, dass ist für Kaufleute sehr ungewöhnlich, vielleicht auch befremdlich, aber aktuell haben wir auch eine sehr ungewöhnliche Gesamtsituation. Aber jede gute Idee setzt voraus, dass wir weiter arbeiten dürfen. Das ist nicht überall möglich. So haben wir am Freitag eine Rehabilitandin aus einem anderen Bundesland aus der vorbehandelnden Einrichtung abholen müssen, weil diese Einrichtung in der nächsten Woche geschlossen wird. Die Patienten wäre dann vor der regulären Verlegung zu uns in die Obdachlosigkeit entlassen worden. Ein unglaublicher Vorgang. Das habe ich in all den Jahren noch nicht erlebt.

Aktuell ist das gesamt System absolut hypernervös. Wir brauchen unbedingt Ruhe und Zuverlässigkeit. Das erreicht die Politik gegenwärtig mit umfänglichen Zusagen in die Systemerhaltung. Der Nachtragshaushalt, der Verzicht auf die schwarze Null sind die richtigen ersten Schritte.

Die Politik in den Kommunen, im Land und im Bund muss aber weiter gut zuhören. Die Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) Frau Gerda Hasselfeldt (DRK) hat sich hier sehr deutlich geäußert! Ebenso die Vertreter der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS), der AGMedReha oder des fdr+. Aber es müssen sich weitere äußern und kreativ denken!

Zuletzt: Ich bin aktuell sehr stolz und begeistert von all unseren Mitarbeitenden! Sie sind ausnahmslos unglaublich engagiert und leisten trotz eigener Sorgen und Ängste eine herausragende Arbeit unter widrigsten Umständen. Und es freut mich sehr, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus den sozialen und pflegenden Berufen gegenwärtig so viel öffentliche Aufmerksamkeit und Wertschätzung erfahren. Aber davon bleibt niemand gesund und es zahlt sich keine Miete!

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