Mit „Echt! Pop-Protokolle aus dem Ruhrgebiet“ ist den Herausgebern Johannes Springer, Christian Steinbrink und Christian Werthschulte ein Buch gelungen, dass von nun an das Standardwerk zum Thema Popkultur und Ruhrgebiet sein wird.
Im Laufe der Jahre, die ich mich mit dem Ruhrgebiet beschäftige habe ich unzählige Bücher über die Region gelesen. Keines kam an analytischer Schärfe, Kenntnisreichtum und Liebe um Detail an „Echt! Pop-Protokolle aus dem Ruhrgebiet“ heran. Springer, Steinbrink und Werthschulte ist mit dem Buch der ganz große Wurf gelungen: Mehr als ein Dutzend Autoren beschreiben in Artikeln und Interviews die Entwicklung der Popkultur der vergangenen Jahrzehnte, werfen einen Blick auf die sich bis in die Gegenwart fortsetzenden Probleme und benennen das aktuelle Elend.
Norbert Nowotsch beschreibt den Aufbruch der Szene im Marl der 60er Jahre zwischen Musikexperimenten und radikalpolitischen Ansprüchen und erinnert auch an den 1995 verstorbenen Biby Wintjes aus Bottrop, der die Stadt für Jahrzehnte zu einem der wichtigsten Zentren der Undeground Press und Literatur machte.
Rolf Lindner widmet Wintjes, den ich als sehr zurückhaltenden und lieben Menschen in Erinnerung behalten werde, und seinem Infodienst Ulcus Molle weiter hinten ein ausführliches Portrait. Der Leser erfährt aus dem Alltag von Psychos in den 90ern, der Entwicklung der Industrial Szene und dann ist da noch eines der schönsten Portraits über den Schriftsteller Wolfgang Welt, die ich jemals gelesen habe. Keine Spur von dem verlogenen Mitleid, ohne das kaum ein Artikel über Welt auskommt, sondern eine sensible Bestandsaufname des Phänomens Wolfgang Welt und all seinen schriftstellerischen Stärken und Schwächen. Geschrieben haben es Thomas Hecken und Katja Pedlow.
Christoph Biermann erklärt im Interview mit Christian Steinbrink seinen Wechsel vom Musikkritiker zum Sportjournalisten und gibt Einblicke in die Frühzeit der New Wave und Stadtmagazin-Szene und Christoph Schurian beschreibt wie nah Fußball und Szene sich im Ruhrgebiet sind und dass es ganz schön kompliziert war, mit VfouL ein ambitioniertes Fanzine für einen der unambitioniertes Fußballvereine der Republik zu machen.
Weitere Artikel beleuchten die Rolle der Frauen innerhalb der Popkultur im Revier oder die Bedeutung zweier Beuys-Schüler aus Gladbeck und Gelsenkirchen für die frühe Punk Szene in Deutschland.
Und dann gibt es Themen, die sich durch fast alle Artikel wie traurige, rote Fäden durchziehen: Dass es dem Ruhrgebiet nur selten gelungen ist, seine Talente zu halten, dass es zu provinziell war, dass es immer wieder nötig war zu gehen, um sich weiter zu entwickeln. Der heute in Berlin lebende Marc Degens beschreibt wie problematisch es ist, als Schriftsteller im Ruhrgebiet zu leben – ohen ein passendes Umfeld, ohne Bereicherstattung über die Arbeit.
Der Mangel an vernünftiger Berichterstattung über Kultur, über Pop ist dann auch ein weiteres Feld, an dem sich viele Autoren abarbeiten: Die miserable Qualität der Medienszene im Ruhrgebiet, das schlechte Feuilleton sind entscheidend, dafür, dass heute kaum einer mehr weiß, wo etwas stattfindet und wer was macht. Die einzelnen Szenen, beschrieben als Oasen in der Wüste, sind zu klein um alleine zu überleben und nicht vernetzt – es gibt eine vernünftige Kulturberichterstattung und bei den Stadtmagazinen nur noch die Ödnis von immer belangloser werdenden Kalenderheftchen, denn längst meiden Bands das Revier – Veranstaltungen, ob Partys oder Konzerte, die in Hamburg, Köln oder Berlin erfolgreich sind, floppen im Revier. Hier kocht nichts mehr, sorgt die viel gepriesene Polyzentralität dafür, das an keinem Ort die kritische Masse zusammen kommt, um lebendige Szenen entstehen zu lassen. Kein Wunder, dass andere Städte voller Künstler aus dem Ruhrgebiet sind während es hier immer langweiliger wird. Die meisten gehen – ein Brain Drain, der sich in den vergangenen Jahren verstärkt hat. Selbst die Kunsthochschulen, an anderen Orten wichtige Impulsgeber, sind hier so grandios über die Fläche verteilt, dass von ihnen kaum eine Wirkung ausgeht.
Man kann nur hoffen, dass dieses Buch ein Erfolg wird. Zwei Jahre Arbeit und viel Engagement stecken drin. Es hat Qualität – und Qualität hat es schwer im Ruhrgebiet. Der Erfolg dieses Buches ist daher ein Gradmesser dafür, ob das Ruhrgebiet als Kulturplatz jenseits der hochsubventionierten Spielstätten überhaupt eine Zukunft hat. Also bitte: Kauft dieses Buch. Lest es. Verschenkt es. Oder stellt es Euch wenigstens ins Regal…
Am 5.12.08 wird in der schönen Bochumer Goldkante ab 20.30 das Erscheinen des Buches mit Lesungen von Klaus Fiehe und Jörg Albrecht und ein bisschen Musik gefeiert. Es verspricht ein netter Abend zu werden.
ECHT! POP-PROTOKOLLE AUS DEM RUHRGEBIET
Hrsg. von Johannes Springer, Christian Steinbrink und Christian Werthschulte
ISBN 978-3-940349-05-7
Salon Alter Hammer 2008
304 Seiten, Broschur
14,90 Euro
Womöglich ein richtiges Buch zur rechten Zeit ? ich hoffe, es ist nicht allzu larmoyant (redundant über provinzielles Elend klagend).
Das Cover ist jedenfalls gut (und lässt, zumindest in der Bildschirmauflösung, offen, ob der Kosmopolit, der da über dem Ruhrgebiet schwebt, im An- oder Abflug begriffen ist).
Die bisherige Wohn- und Lebensgeschichte von Herbert Groenemeyer sagt eigentlich alles über den Pop-Standort Ruhr.
„Die bisherige Wohn- und Lebensgeschichte von Herbert Groenemeyer sagt eigentlich alles über den Pop-Standort Ruhr.“
Darf ich das so deuten: Solange die Menschen hier wohnen, machen sie alberne, aber irgendwie lustige Musik. Später gehen sie ins Ausland und geben den „Mensch“?
Klarer Abstieg, meiner Meinung nach.
So kann man´s auch sehn.