Echte Männer haben ihre Frau im Griff und weisen ihr den Platz im Leben!…?

1950 war die Welt noch in Ordnung: Er kommt von der Arbeit, sie steht am heimischen Herd und backt. Foto: YouTube-Screenshot aus der Reklame-Serie der Dr. Oetker Deutschland „Frau Renate“.

Falls Sie der These zustimmen und sich denken: „Endlich hat einer die Eier es zu sagen!“, dann werden Sie mit diesem Artikel nicht glücklich. Unsere Gesellschaft ist zu wertvoll, um sie derartigen Losern anheimfallen zu lassen. Ein Plädoyer für reflektierte Männlichkeit. 

Vor einigen Wochen ist etwas geschehen, dessen Hintergründe ich mir noch nicht erklären kann. Meine Feeds, bei Instagram, Facebook und LinkedIn wurden plötzlich von Videos geflutet, in denen Männer erklären, was einen echten Mann ausmacht.

Ein richtiger Mann hat ein Business. Ein richtiger Mann dominiert seine Frau und bringt ihr Respekt bei. Ein richtiger Mann hat keine Freundschaften mit Frauen, sondern zeigt seiner Frau die Welt. Ein echter Mann hat immer Optionen. Sie ist seine Option, genügt sie nicht, wird sie ausgetauscht. Er dominiert.

Dominant. Maskulin. Er weist ihr den Platz im Leben. Wer sich jetzt denkt: „Mensch, ein Frauenbild wie 1952 in Hamburg oder 2024 in Gaza, Teheran und Riad!“ liegt dabei völlig richtig.

Garniert wird dieser unerträgliche Testosteronüberschuss von Finanztipps, Modetipps, ein bisschen Fitness, ein bisschen Religion, es ist eine obskure Mischung. Große Teile der Produzenten haben einen Migrationshintergrund, jedoch, und das sei deutlich erwähnt, längst nicht alle. Geradezu virale Reichweite erreichte AfD-Politiker Krah, der bei TikTok seine Auslassungen zum Besten geben musste. Waren es anfangs nur einige wenige Videos, die man als normale Internetvarianz von Irren abtun konnte, so häuften sich die Videos immer weiter und haben mittlerweile ein Ausmaß erreicht, dass ich mich auf (eine alles in allem echt kurze) Entdeckungsreise begab und besagten Social-Media-Luftnummern nun diesen Text widme.

Doch der Reihe nach. Ich teilte meine Erkenntnis mit Freunden und wollte wissen, ob sie ähnliche Beobachtungen gemacht haben. Und siehe da: Mehrere, in diesem Falle männliche Freunde und Bekannte, die ja die offensichtliche Zielgruppe sind, bekommen seit einigen Wochen zunehmend mehr Videos dieser Art vom jeweiligen Algorithmus vorgeschlagen. Nun muss man wissen, dass sämtliche Social-Media-Algorithmen dieser Welt ziemliche Prostituierte sind: Wenn viele Menschen der gleichen Zielgruppe regelmäßig gleichartigen, aber neuen Content sehen, dann hat irgendwer dafür gezahlt. Behalten Sie diese Kernaussage im Hinterkopf.

Eher durch Zufall kam ich im Gespräch mit einer Bekannten auf das Thema. Überraschenderweise war es für sie so gar nicht neu, „Kennst du Wastarasagt?“. Kannte ich nicht.

Wastarasagt ist der Instagram-Kanal der Autorin Tara-Louise Wittwer. In kurzen Beiträgen kommentiert Sie ebendiese Videos aus einer feministischen Perspektive. Videos, von denen ich einige aus meinen Feeds kannte. Und ich hatte eine weitere Erkenntnis: Du bist gar nicht die eigentliche Zielgruppe. Die eigentliche Zielgruppe ist der verunsicherte Mann bei TikTok. Nun könnte man das Thema einfach abhaken und ad acta legen, das aber wäre sehr gefährlich. Erst vor einigen Wochen machte der Begriff Talahon die mediale Runde. Junge Männer, häufig in teuren Markenklamotten, pseudodominant im Auftreten, echte Macher – und natürlich echte Sexisten.

Ein Beispiel unter zahllosen: Influencer Hakansek erklärt, wäre er 35, erfolgreich, gut gebaut, dann hätte er gerne eine 18 Jahre alte Jungfrau, um Kinder zu machen, ihr die Welt zu zeigen und zu verhindern, dass sie von Mann zu Mann weitergereicht wird. Wittwers Kommentar: Er will eine Adoption.

Eine Kultur, in der männliche Wertigkeit primär über materielle Güter und über die Qualität der Unterdrückung der eigenen Ehefrau definiert wird, ist das erklärte Gegenteil der Aufklärung und steht in fundamentalem Widerspruch zum Grundgesetz und der freiheitlich demokratischen Grundordnung des Westens. Und genau an dieser Stelle muss eine Gesellschaft wachsam werden. Die Folgen sind nicht nur psychische Unterdrückung, sondern ganz reale Gewalt.

Über den Kampf von Frauen für Gleichberechtigung und Anerkennung könnte man (und das absolut gerechtfertigt) noch viel schreiben. Regelmäßig verkannt wird, dass archaische Gesellschaftsmodelle und Rollenbilder aber nicht nur Frauen unterdrücken, sondern auch Männer. Patriarchalische Handlungs- und Denkmuster üben enormen Gruppen- und Handlungszwang auf Männer aus. Ganz hervorragend lässt sich das am Beispiel der Talahons demonstrieren: Das überspitzte, unreflektierte und völlig überzogene Verhalten resultiert ja eben aus der Angst, als Schwächling in einer Gruppe von vermeintlichen Alphatieren wahrgenommen werden zu wollen, die alle darum buhlen, der Anführer der vermeintlich maskulinen Gruppe zu sein. Ich vermute, dass jeder Mann in seiner Jugend die Gruppendynamik unter jungen Männern erlebt hat, die nicht bedürfnis- sondern klischeegetrieben war. Insbesondere schwache Charaktere wachsen hierbei zu einer neuen Generation von Pseudo-Alphas heran, die ihre eigene Unsicherheit und Unfähigkeit hinter überspitztem Verhalten verstecken.

Welche Bedürfnisse, Wünsche und Hoffnungen der Mensch jedoch eigentlich hat, gerät vollkommen in den Hintergrund. Aus der Gleichberechtigung der Frau folgt eben auch für Männer die Möglichkeit, sich aus vermeintlichen gesellschaftlichen Erwartungen und klischeehaften Rollenbildern zu emanzipieren. Meine Oma hat 1946 ihren Führerschein gemacht und meinen Opa damals dazu gedrängt. Darauf angesprochen meinte sie vor vielen Jahren: „Ich wollte nicht abhängig sein.“ Ich hatte das Glück, in einem Umfeld aufzuwachsen, in dem starke Frauen meine Erziehung mitgeprägt haben. Um den Artikel nicht noch wesentlich in die Länge zu ziehen: Gesellschaften, die die Gleichberechtigung von Mann und Frau fördern, sind friedlicher, sicherer und insbesondere fortschrittlicher. Das ist auch wenig überraschend: 50 % der Bevölkerung aus der intellektuellen Entwicklung des Staates auszuschließen, kann schon statistisch nicht zu sinnvollen Ergebnissen führen. Den Sieg des Westens im Wettrennen ins All verdankt die Welt in ganz erheblichem Maße Frauen.

Teil zumindest meiner Entwicklung, und das entnehme ich auch dem Gespräch mit zahlreichen Freunden, war die Erkenntnis, dass die Gesellschaft zunehmend mit überlieferten Klischees bricht und individuellen Bedürfnissen und Anforderungen mehr Raum gibt. Im Kern: Dem Menschen erlaubt, den eigenen Vorstellungen und Wünschen zu folgen. Das betrifft zahlreiche Ebenen: Sexuelle Freizügigkeit und die Anerkennung bi- und homosexueller Partnerschaften, die Akzeptanz von Männern in vermeintlich weiblichen Berufsbildern, den Umgang mit psychischen Problemen und Krankheiten, die Wahrnehmung von Gefühlen und Sorgen, all dies, ohne selbiges als Schwäche zu brandmarken. Ich möchte den Prozess nicht als abgeschlossen bezeichnen, dass es diesen aber überhaupt gibt, war noch vor wenigen Jahrzehnten undenkbar. All dies sind Errungenschaften der vergangenen 20 Jahre und diese haben dazu beigetragen, die Freizügigkeit in der Gesellschaft erheblich zu steigern.

Festzuhalten ist: Alles, was die oben beschriebenen Akteure und ihre Fans medial kommunizieren und festhalten, wäre das erklärte Gegenteil dessen und ein gesellschaftlicher Rückschritt um Jahrzehnte. Ein weiterer Begriff muss noch angebracht werden: Fehlerkultur. Unter kaum etwas leidet eine Gesellschaft so sehr, wie unter der mangelnden Akzeptanz, dass Menschen Fehler machen und eben nicht perfekt sind. Fehlerkultur beginnt aber bereits in der eigenen Familie: Eine gleichberechtigte Partnerschaft bedeutet eben auch ständige Reflexion und verlangt den Umgang mit eigenen Fehlern. Man ist als Mann eben nicht das Maß aller Dinge und ganz sicher nicht unfehlbar. Dem, wie es Tara-Louise Wittwer tut, humoristisch zu begegnen, ist richtig, greift aber schlussendlich in der Aussage zu kurz. So etwas muss unterbunden werden. Die Aufklärung steht nicht zur Diskussion und auch nicht, dass mein Sohn wieder in einer Gesellschaft aufwächst, in der seine eigenen Wünsche, Hoffnungen und Gefühle keine Rolle spielen. Ich möchte keine Generation von Männern, die getrieben von Klischees und Angst vor gesellschaftlicher Ächtung mit gorillaartigem Dominanz- und Gewaltverhalten überkompensieren und die aus Angst vor einem Gespräch auf Augenhöhe (oder der Erkenntnis, dass die ein oder andere Frau auch schlicht klüger ist als man selbst) Frauen wie Menschen zweiter Klasse behandeln.

Es gibt einen massiven Unterschied zwischen Dominanz, persönlicher Stärke, die in selbstbewusstem, meinungsstarkem und mitunter polarisierendem Verhalten mündet und toxischer Affektivität. Wer meint, er müsse einer Frau den Platz im Leben weisen, diese erziehen und Selbstwertschätzung aus der Unterdrückung anderer gewinnen, ist ein Loser, sollte am eigenen Selbstwertgefühl arbeiten und ist ganz sicher kein erstrebenswertes Vorbild.

Einen Gedanken sollten Sie im Hinterkopf behalten: Diese Videos zu verbreiten kostet Geld. Mir ist noch nicht klar, welches Geschäftsmodell hinter den entsprechenden Videos steht und insbesondere, woher diese aktuellen Massen an Videos kommen. Coachings verkaufen? Anlagen? Irgendwie fehlt mir da noch ein Baustein.

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