Edvard Munch: Lebenslandschaft im Museum Barberini Potsdam

Vom 18. November 2023 bis zum 1. April 2024 zeigt das Museum Barberini Potsdam die Ausstellung Munch. Lebenslandschaft. Hier lesen Sie, weshalb die Ausstellung eine Reise lohnt.

Entstanden in Kooperation mit dem Clark Art Institute in Williamstown, USA, und dem MUNCH in Oslo ist dies die erste Ausstellung, die Edvard Munchs Faszination für die Natur in den Fokus rückt. Gezeigt werden 116 Werke des norwegischen Künstlers, darunter neben einigen seiner berühmtesten Motive noch unbekannte Werke sowie die Vorarbeiten für seine monumentalen Aula-Bilder, die er für die Osloer Universität schuf und die seit 100 Jahren nicht mehr in Deutschland zu sehen waren. Die Leihgaben stammen aus insgesamt 21 leihgebenden Institutionen, darunter das MUNCH Oslo, das MOMA New York, das Dallas Museum of Art Texas, das Musée d’Orsay Paris, das Folkwang Museum Essen sowie das Von der Heydt-Museum Wuppertal.

Edvard Munch ist für seine eindringlichen Darstellung elementarer menschlicher Empfindungen bekannt. Sein berühmtestes Motiv Der Schrei ist seit dem Film Scream sogar von der Popkultur in Beschlag genommen worden.

Eine ebenso wichtige Rolle wie das Interesse an den seelischen Dimensionen des Daseins spielte Munchs Faszination für die Natur. Das ist die selbst gestellte Aufgabe der Ausstellung; sie möchte gemeinsam mit dem zugehörigen Katalog die Bedeutung von Munchs Naturdarstellungen erforschen und die gängigen Vorstellungen hinterfragen. Reflektiert werden dabei die künstlerischen, wissenschaftlichen und philosophischen Einflüsse seiner Zeit, die zu Munchs Naturverständnis wesentlich beitrugen. Die Direktorin des Museums Barberini, Ortrud Westheider bringt es auf den Punkt:

„Obwohl Edvard Munch fast die Hälfte seiner Arbeiten Naturmotiven widmete, wird er bislang nicht als Landschaftsmaler wahrgenommen. Mit der Ausstellung Munch.Lebenslandschaft wollen wir diese Perspektive auf sein Werk öffnen.“

Gemälde, Holzschnitte, Lithographien und Zeichnungen in acht Ausstellungskapiteln

Bereits vom 10. Juni bis zum 15. Oktober 2023 war die Ausstellung unter ihrem englischen Titel Munch. Trembling Earth an ihrer ersten Station, dem Clark Art Institute in Williamstown, USA, zu sehen. Dort kuratiert von Jay A. Clark erhielt die Ausstellung herausragende Besprechungen in den Medien. .

Für die Potsdamer Station wird die Ausstellung, hier kuratiert von Gastkuratorin Jill Lloyd, in acht Ausstellungskapiteln gezeigt, bevor sie ab Ende April 2024 an ihrer dritten Station, dem MUNCH in Oslo, zu sehen ist.

Die acht Ausstellungskapitel verdeutlichen, wie die Landschaft in unterschiedlichen Naturräumen zum Mitakteur in Munchs Darstellungen wird. Damit fokussiert die Ausstellungsdramaturgie sehr sinnstiftend auf die verschiedenen Facetten und Aspekte des landschaftlichen Werkes.

Im Kapitel Im Wald ist die Natur bei Munch Sphäre des Geheimnisvollen und Ort romantischen Werdens und Vergehens.

    Edvard Munch: Im Märchenwald 1927. Foto: Kasselmann

So sehen wir im Bild Im Märchenwald zwei Kinder, die vor einer hellen Lichtung stehen und auf einen dunklen Wald zuzugehen scheinen, da dort ja die Märchen auf sie warten. Im Bildvordergrund eine männliche Person, die die beiden Kinder nicht aufhält, sondern ihnen hinterher schaut.

Edvard Munch: Knorrige Baumstämme 1926. Foto: D. Kasselmann

Knorrige Baumstämme ist zwar ein reines Naturmotiv, der Baumstamm rechts im Bild hat jedoch von seiner Dynamik etwas menschliches oder zumindest menschenähnliches.

Das Kapitel Garten und Feld zeigt das Interesse des Künstlers für die Interaktion zwischen den Menschen und der Natur. In Frühlingspflügen sind es die Pferde, die durch den Pinselstrich eine enorme Vitalität und Energie in ihrer Bewegung bekommen, hier haben wir es mit einem Sujet zu tun, dass den bäuerlichen Menschen im Einklang mit der Natur zeigt. Es ist ein Gegenentwurf zum städtischen Leben und der Industrialisierung, die zu der Zeit zunehmend kritisch gesehen wurde und Gegenentwürfe mit dem Rückzug und die Rückbesinnung auf das Landleben evozierte.

In den Kapiteln Zwischen Land und Meer und Sommerfrische fungieren Küstenlandschaften als Sujets für Trennung, Anziehung und Einsamkeit.

So ist Strand ein reines Naturmotiv ohne jegliche Personendarstellung, während das Motiv

Edvard Munch: Loslösung Foto: D. Kasselmann

Loslösung ganz offenbar eine Trennung zeigt und die blutigen Hände der männlichen Person legen beim Betrachter den Verdacht nahe, dass es sich um eine schmerzliche Loslösung handelt.

Edvard Munch: Badende Männer 1907. Foto: D. Kasselmann

Edvard Munch: Morgens auf der Promenade des Anglais 1891. Foto: D. Kasselmann

Ansonsten jedoch viel Harmonie im Bereich der Sommerfrische; badende Männer, Mädchen auf der Brücke, Morgens auf der Promenade des Anglais, kein Schatten trübt die sonnenbeschienenen Situation, deren Wärme man als Betrachter förmlich spüren kann.

Eine Sonderstellung nimmt hier Wellen ein, da es einen Grad der Abstraktion erreicht, der besonders ist:

Die Wellen deutet der Künstler durch kurze vertikale Schraffuren an, die Wellenkämme durch horizontale durchgehende Linien, die einzelnen Wellen unterscheiden sich in lilafarbenen, grünen und blauen Farbtönungen voneinander, der Himmel im Hintergrund wiederum in einem Lilaton und man ist als Betrachter nicht sicher, ob die darunterliegende blaue Farbfeld noch Wasser ist, oder schon zum Himmel gehört.

Im Kapitel Schrei der Natur stellen die Motive existenzielle Fragen zur Beziehung zwischen Mensch und Natur. In dem Kapitel findet sich auch eine Lithographie vom bereits erwähnten Motiv Der Schrei, das hier der explosiven Farbigkeit des monumentalen Gemäldes Die Sonne gegenübergestellt wird.

Edvard Munch: Der Schrei 1895. Foto: D. Kasselmann

„Die Entstehungszeiten der Werke Der Schrei und Die Sonne liegen rund zwanzig Jahre auseinander.

Edvard Munch: Die Sonne 1910-1913. Foto: D. Kasselmann

Beide Motive stellen mit unterschiedlichen Mitteln auf neuartige Weise den existenziellen Einfluss der Natur auf den Menschen dar. Wenn man die beiden Sujets vergleichend nebeneinanderstellt, entsteht der Eindruck, dass sie sich gegenseitig infrage stellen und zugleich ergänzen. Bei allen Unterschieden in Format, Medium und Technik entwickeln sie beide eine ähnlich frappierende Ausdruckskraft und konfrontieren den Betrachter mit rhythmisch schwingenden Linien und Formen in leuchtenden Farben.“ schreibt Trine Otte Bak Nielsen im Katalog zur Gegenüberstellung der beiden Motive.

Das kann man so machen, allerdings drängt Die Sonne mit seinen Maßen von 163,5 x 202,5 cm die kleine Lithographie, 44,5 x 25,4 cm, optisch ziemlich ab und es entsteht eine dramaturgische Schieflage, das räumliche Gesamtkonzept gerät arg aus der Balance.

Inwieweit Klimaängste des frühen 20. Jahrhunderts, als man den Beginn einer neuen Eiszeit fürchtete, sich in Munchs Landschaften wiederfinden, fokussiert das Kapitel Schnee und Sturm. In Gewitterlandschaft sehen wir beispielsweise ein niedriges Haus, dass sich unter windzerzausten Bäumen duckt, während die gesamte obere Bildhälfte von einer monströsen Riesenwolke dominiert wird.

Zyklen der Natur

„Die Schicksale der Menschen sind wie die Planeten, sie begegnen sich im Raum, um sogleich wieder zu verschwinden.“ Edvard Munch

Die kuratorische Mitarbeiterin im MUNCH Oslo, Nanna Lenander interpretiert Munchs Aussage dergestalt, dass der Künstler auf diese Weise „die Triebkräfte und Sehnsüchte der Menschen mit zyklischen, universalen Kräften in Zusammenhang bringt.“ Den Kreislauf der Natur sieht sie bei Munch unmittelbar und konkret dargestellt:

Edvard Munch: Stoffwechsel (Leben und Tod) 1896. Foto: D. Kasselmann

„In der 1896 entstandenen Zeichnung Stoffwechsel (Leben und Tod) wachsen Pflanzen aus einer Frauenleiche. Indem der Maler die sprießenden Gewächse mit Gesichtern versah, verlieh er ihnen menschliche Züge. Im Hintergrund der Zeichnung sehen wir inmitten von Pflanzen und Bäumen eine weitere Frau. Sie ist schwanger und voller Vitalität. Die Sonnenstrahlen treffen auf ihren Bauch und nähren den darin heranwachsenden Fötus ebenso wie die Pflanzen ringsum. Hier werden die Grenzen zwischen Mensch und Natur durchlässig – er steht nicht außerhalb des natürlichen Kreislaufs, sondern ist Teil von ihr.“ schreibt Nanna Lenander dazu im Katalog.

Das Kapitel Licht und Wissen behandelt Munchs Wandbilder für die Universität Oslo.

Um das Gesamtwerk Munchs einordnen zu können, gibt die Direktorin des MUNCH Oslo, Tone Hasen einen Überblick:

„1949 vermachte Edvard Munch sein gesamtes Schaffen, das sich noch in seinem Besitz befand, der Stadt Oslo. Zu diesem Erbe, das wir heute im MUNCH bewahren, gehören neben Texten, Briefen, Photographien sowie persönlichen Gegenständen über 26.000 Kunstwerke.  – ein außergewöhnliches Œuvre, dem wir seit der Eröffnung des neuen Museumsgebäudes 2021 auch räumlich Rechnung tragen können. Die Sammlung nicht nur zu konservieren, sondern auch immer wieder zu erforschen und zu hinterfragen, ist eines unserer Hauptanliegen.“

Edvard Munch: Selbstbildnis mit Palette 1926. Foto: D. Kasselmann

Die Ausstellungsdramaturgie in acht Kapiteln geht auf; sie ermöglicht es den Besuchenden sehr anschaulich, Munchs Landschaftsdarstellungen in ihren facettenreichen Thematiken und Subthematiken nachzuspüren. Kurze und lesefreundliche Texte mit wichtigen Informationen zum jeweiligen Entstehungshintergrund bieten die Möglichkeit, jedes Bild in den Gesamtkontext von Munchs Werk einzuordnen. Datentafeln und Karten bieten weiterführende Informationen zum Künstler Edvard Munch, seinem Leben und seinem künstlerischen Werk. Das Ausstellungsdesign von Gunther Maria Kolck, Hamburg, und BrücknerAping, Bremen, sorgt durch eine angenehm gedeckte Wandgestaltung und ein hervorragendes Lichtdesign dafür, dass sich die Besuchenden gut auf die in ansprechendem Abstand voneinander gehängten Kunstwerke fokussieren können.

Für erste visuelle Vorab-Eindrücke hat das Social-Media-Team des Barberini auf facebook, Instagram, X/Twitter und YouTube entsprechendes Material bereitgestellt, die Barberini App ist mit Audioguide in Deutsch und Englisch als Tour für Erwachsene und für Kinder mit Kinderbegleittour der persönliche Begleiter vor, während und nach dem Museumsbesuch. Zusätzlich dazu gibt es Serviceinformationen, Veranstaltungstipps, e-Tickets sowie Videos mit Experteninterviews. In der Mediathek (museum-barberini.de/de/mediathek) gibt es eine 360°-Tour durch die Ausstellung (ab Dezember 2023) und die Videoreihe Clos ups. Das umfangreiche Rahmenprogramm umfasst Lesungen, Yoga im Museum, Konzerte, Vorträge, Führungen, Workshops, barrierefreie Angebote, sowie ein vielfältiges Vermittlungs- und das begleitende Veranstaltungsprogramm für alle Interessens- und Altersgruppen.
(museum-barberini.de/de/kalender/formate)

Ausstellungskatalog

Zur Ausstellung ist ein 256-seitiger Katalog im Prestel Verlag erschienen. Er beinhaltet Essays von Jay A. Clark, Nanna Lenander, Jill Lloyd, Trine Otte Bak Nielsen und Arne Johan Vetlesen. Die Beträge bilden den ultimativen state-of-the-art der wissenschaftlichen Literatur zum Thema der Landschaftsmalerei im Werk von Edvard Munch im Kontext der Kunstgeschichte. Der anschließende Katalogteil folgt in seiner Gliederung angenehmerweise den acht Kapiteln der Ausstellung und bildet sämtliche gezeigte Werke in hervorragender Reproduktionsqualität ab. Im Anhang finden sind ausgewählte Titel aus Edvard Munchs Bibliothek, eine Auswahlbibliographie, ein Verzeichnis der ausgestellten Werke und der Abbildungen sowie Kurzbiographien der Autorinnen und Autoren.

Munch. Lebenslandschaft. Ausstellungskatalog
Herausgegeben Ortrud Westheider, Michael Philipp, Daniel Zamani

Mit Beiträgen von Jay A. Clarke, Nanna Leander, Jill Lloyd, Trine Otte Bak Nielsen, Arne Johan Vetlesen.
© 2023 Museum Barberini, Museum der Hasso Plattner Foundation gGmbH, Potsdam, Autoren und Prestel Verlag München – London  – New York, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH München.
Hardcover mit Schutzumschlag, 256 Seiten, 24 x 30 cm, 200 farbige Abbildungen
ISBN 978-3-7913-7702-5 (Buchhandelsausgabe)
ISBN 978-3-7913-9106-9 (Museumsausgabe, Museum Barberini Potsdam)
Buchhandel € 45,00, Museumsshop €39,90

Das Museum Barberini setzt mit Munch. Lebenslandschaft seine erfolgreiche Linie fort, mit internationalen Kooperationen herausragende Kunstausstellungen zu kreieren, die in der Ausstellungspraxis, der Kunstrezeption sowie der Kunstwissenschaft ganz besondere Akzente setzen. Die Medien beurteilten die erste Station der Ausstellung, dem Clark Art Institute Williamstown wie folgt: „A revelatory exhibit (The Wall Street Journal); „Magnificent“ (Financial Times); „Glorious (…) It’s a revelation.“ (The Atlantic).
Die Ausstellung Munch. Lebenslandschaft zeigt allerdings einen der bedeutendsten Maler der Moderne durch den Fokus auf seine Landschaftsmalerei in einem neuen Licht. Und dieses leuchtet hell und vermittelt den Besuchenden ein Stück weit mehr, wer der Künstler Edvard Munch wirklich war. Insofern ist Munch. Lebenslandschaft tatsächlich ein Genuss, eine Offenbarung. Die Ausstellung Munch.Lebenslandschaft ist eine Reise wert.

Munch. Lebenslandschaft
Eine Ausstellung des Museums Barberini, Potsdam, des Clark Art Institute, Williamstown, und des MUNCH, Oslo.
Museum Barberini
Alter Markt, Humboldtstraße 5-6
14467 Potsdam
18.11.2023 – 1.4.2024
Öffnungszeiten Mo 10-19 Uhr / Mi-So 9-19 Uhr
Für Kindergärten und Schulen nach Anmeldung
Mo-Fr (außer Di) ab 9 Uhr
Eintritt & Tickets: Mo, Mi-Fr €16/€10, Sa/So/Feiertage € 18/€ 10
Freier Eintritt unter 18 Jahren und für Schüler
Kurator: Jill Lloyd, Gastkuratorin Museum Barberini
www.museum-barberini.de

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Andreas Lichte
1 Jahr zuvor

„Quod non fecerunt barbari, fecerunt Barberini“


Was die Barbaren nicht schafften, schafften die Barberini“.

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