Am Freitag eröffnete die Spielzeit der Ruhrtriennale in der Bochumer Jahrhunderthalle. Bis Ende September sind 22 Produktionen an verschiedenen Spielorten im ganzen Ruhrgebiet zu sehen. Das Wochenende zeigte mit der Eröffnungsoper „Alceste“, der Nacht der elektronischen Pop-Musik „Ritournelle“ und einer Aufführung in der DITIP-Moschee Duisburg Marxloh das breite Spektrum, mit dem Intendant Johan Simons sein Publikum in dieser Spielzeit umschlingen will. Der Start ist gelungen.
Die Eröffnungsrede zum Festpielmotto „Seid umschlungen – Freiheit Gleichheit, Brüderlichkeit!“, hielt die Mühlheimerin Carolin Emcke, deren Roman „Gegen den Hass“ – ein Plädoyer für eine offene Gesellschaft – im Oktober erscheint. Im selben Monat wird sie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten. Das Unbehagen in der turbulenten Zeit, in der wir in Echtzeit Kriege und Gewalttätigkeiten, wie die öffentlichen Hinrichtungen durch den IS mitverfolgen, beschreibt Emcke eindringlich. Diese Zeugenschaft macht uns zu untätigen Mitwissern: „Es ist dieses virtuelle Miterleben, das uns einbindet ohne uns tatsächlich einzubinden – das ist nicht auszuhalten ist. Es gibt keine Unschuld des Nicht-Wissens mehr.“ Emckes Rede rüttelt am Nerv der Zeit. Mit ihrem Nachdenken und „gedanklichen Sondieren“ über die aufgeklärte Gesellschaft, die immer auch sich selbst zum Objekt hat, öffnet sie in ihrer Rede den Blick auf das Premierenstück „Alceste“.
Christoph Willibald Gluck erschuf 1767 auf Grundlage einer Tragödie von Euripides seine Komposition als Gegenentwurf zu den überladenen Barockopern seiner Zeit und befreite sie von der Zentrierung auf die Solisten, deren Nimbus Inhalt und Musik überlagerte. Er rückt das Individuum mit seinem subjektiven Erleben in den Vordergrund. Der Inhalt des Stückes ist schnell erzählt. Der von seinem Volk verehrte König Admeto ist vom Tod bedroht, nur der freiwillige Opfertod eines anderen kann ihn retten. Ein Leben gegen das andere, so hat es das Orakel bestimmt. Dass seine geliebte Frau Alceste das Schicksal annimmt, und freiwillig in denTod geht, um ihn das Weiterleben zu ermöglichen, lässt ihn verzweifeln. Am Ende steht ein Happy End: die Götter haben Mitleid und Alceste und Admeto dürfen sich weiterlieben.
Wie soll man im Jahr 2016 eine Oper aufführen, die in Glucks Zeiten zwar modern und revolutionär war – deren Idealbild der aufopfernden Frau heute nicht nur bei Emanzen und Frauenverstehern unweigerlich heftigen Widerstand hervorruft? Keine leichte Aufgabe. Simons gelingt diese Gratwanderung, weil er dem Komponisten Gluck folgt und die Emotionen der Alceste in den Vordergrund rückt. Ihrem Erschauern angesichts der nahenden Entscheidung, ihrer Verzweiflung, ihrer Trauer angesichts des Abschieds von Ehemann und Kindern, ihre inneren Zerissenheit und ihrer blanken Angst vor dem Sterben gibt Simons genug Raum.
Der Achterbahn der Gefühle, dem emotionalen Pendeln zwischen Todesangst und Todessehnsucht kann man sich nicht entziehen. Auch weil Gluck die Oper fast durchgehend in Moll komponiert hat. Birgitte Christensen nimmt stimmlich wie emotional die Höhen und Tiefen der Alceste-Rolle mit atemberaubender Leichtigkeit. Das Ringen mit der Entscheidung, für den geliebten Gatten zu sterben, ist bei ihrer Alceste eine eigene, eine freie Entscheidung. Frei Tod. Den unangenehmen Beigeschmack der weiblichen „Aufgabe“ ein liebendes Opferlamm zu sein, überspielt sie gekonnt. Christensen macht ihre Alceste zu einer starken Frauenrolle. Anders als die Bess in Lars von Triers in Breaking the Waves behält Alceste bis zum Schluss ihre Identität.
Ein wahrer Satyr ist der nicht nur stimmlich, sondern auch schauspielerisch starke Georg Nigl. Er überzeugt in seiner Mehrfachrolle als Herold, Oberpriester des Apollo, Apollo und Gott der Unterwelt. Er umtänzelt er als Oberpriester Alceste, um auf ihre Entscheidung Einfluss zu nehmen, dann tobt er als wütender Gottheit über die Bühne, läuft die Zuschauerreihen ab und blickt abschätzig auf das Publikum, das Volk, auf uns.
Einziger Wermutstropfen: Die faszinierende Raum der Jahrhunderthalle wird bei dieser Inszenierung wenig ausgeschöpft. Was in der Vergangenheit bei den Ruhrtriennale Tanztheateraufführungen hervorragend funktioniert hat, ist bei dieser Opernaufführung von Nachteil. Die Akustik ist trotz Lautsprecherverstärkung nicht optimal. Auch wenn Chor und Ensemble sowohl das Publikum auf der hoch ansteigenden Sitztribüne als auch die über Eck sitzenden Zuschauerreihen einbeziehen, wünscht man sich an vielen Stellen die klassische Opernbühne zurück. Der faszinierende Industrieraum bekommt nur einmal einen Kontext zum Geschehen – als der Schatten von Apollo, der tote Raben als Zeichen des nahenden Sterben über die Bühne verteilt, übermenschlich groß auf der hohen Wand erscheint. Sonst dient die große Fläche als Auf- und Abgang der Sängerinnen und Sänger.
Der großartige Chor MusicAeterna hingegen nutzt die volle Fläche, singt von zwei Seiten, füllt den Raum, manchmal wie ein Echo wirkend. Wenn er aufgebracht dem Publikum entgegenrennt, kann man ihm nicht entkommen. Und man will es auch nicht. Der Chor füllt „das Volk“ mit Leben und ist – ganz im Gluckschen aufklärerischen Sinne – eine Gruppe von unterschiedlichsten Individuen. Die Kostümbilderin Greta Goiris betont mit farbigen Kleidern und bunten Blumensträußen im Haar die Einzigartigkeit des Menschen.
Das Bühnenbild (Leo de Nijs) ist zurückhaltend. Schön ist die spiegelnden Fläche, die den mythologischen Fluß Lethe am Eingang des Totenreiches symbolisiert. Hauptelement sind jedoch die weißen Plastikstühle, die man auf jeder Café-Terrasse findet. Sie sind wahllos auf der Bühne verteilt und dienen der Heldin als Stütze, bieten Apollo eine Sitzfläche, werden von den Protagonisten durch den Raum geschleudert oder fallen mit Karacho von der Decke. Die Inszenierung, die sich vollkommen zurecht ganz auf die großen Stimmen ihrer Sänger, den wundervollen Chor und das B’Rock Orchestra (Dirigent: René Jacobs) verlässt, hätte gut auf dieses Symbol der Gleichheit verzichten können. Die Gleichheit von Königen und Bürgern im Dreiklang der revolutionären Forderung Liberté, Égalité, Fraternité zeigt Simons Alceste in anrührender Weise: Die Liebe ist allen Menschen gleich.
Alceste, Jahrhunderthalle Bochum, Vorstellungen: So, 21.08.; Do, 25.08.; Sa, 27.08.; So, 28.08.16 – jeweils um 20:00 Uhr, Tickets hier, Programm hier.