Ein Jahr nach dem Anschlag von Halle

Synagoge in Halle (Saale) Foto: Allexkoch Lizenz: CC BY-SA 4.0

Von unserem Gastautor Thomas Wessel

Ein Jahr nach Halle ist zwei Jahre nach Gelsenkirchen, dort wurde die Synagoge 2018 mit SS-Runen markiert. Ist drei Jahre nach Düsseldorf, dort hat das Oberlandesgericht bestätigt, dass der Brandanschlag auf eine Synagoge als politischer Protest zu gelten habe. Ist vier Jahre nach Nürnberg, ein Mann wird vor die U-Bahn gestoßen, „weil er ein Jude ist“. Ist fünf Jahre nach Paris, vier Menschen werden in einem koscheren Supermarkt ermordet, ist sechs Jahre nach Brüssel, vier Menschen werden im Jüdischen Museum ermordet, und sieben Jahre nach Siegen und Bad Berleburg, wo Friedhöfe geschändet werden mit „Die ewige Lüge lebt weiter“, und ist eine Woche nach Hamburg, vor der Synagoge wird ein Mensch mit einem Spaten attackiert, ein Spaten dient zu Grabearbeiten. Ein Jahr nach Halle ist alle Tage. Wenn wir, die 99,885 Prozent von uns, die nichtjüdisch sind, uns diesen Alltag vorstellen,

     „wenn wir uns vorstellen, dass wir nur deshalb zusammen kommen können, weil vor der Tür drei Polizeiwagen stehen …“

So begann ein Text, den Nichtjuden vier Tage nach dem Terroranschlag von Halle in der Christuskirche Bochum gelesen haben:

     „Wenn wir uns vorstellen, dass wir uns in den Vereinen, in denen wir Mitglied sind, nur dann treffen können, wenn die Gefährdungslage es erlaubt …“

Den eigenen Alltag mit jüdischen Augen sehen: Vier Tage nach dem Terroranschlag in Halle wurde in der Christuskirche der Preis verliehen, der an Hans Ehrenberg erinnert, Vordenker des kirchlichen Widerstands gegen den Hass, von den Nazis gefoltert, ihnen entkommen.

     „Wenn wir uns vorstellen, dass wir die Gottesdienste in unseren Kirchen und Moscheen und Cem-Häusern nur feiern können, wie unsere Geschwister es tun: schwer bewacht …“ 

Ehrenberg, Pfarrer der Bochumer Innenstadt, war einer der entschiedensten Denker gegen totalitären Terror, er war es lange vor ’33, er hatte gesehen, wie Bochum zur „Gau-Hauptstadt“ geworden war. Die Stimmung dieser Jahre hat Günter Brakelmann beschrieben, Ehrenbergs Biograph: Eine Kapelle spielt, eine Singschar tritt auf, der Sportverein zeigt raffinierte Übungen und eine Fraueninitiative  –  der „Sprechchor des Luisenbundes“  –  trägt einfühlsam Gedichte vor. Heute ist nicht 1933, keineswegs, heute gilt,

     „dass wir, bevor wir ins Zugabteil steigen, den Schmuck, den wir tragen, unterm Pullover verstecken.“

Weil der Hass, sofern er Juden gilt, auf den Alltag zielt, in ihn wird die Bedrohung eingewebt. Ohne allzu viel Getue, die tägliche Bedrohung ist eher verständnisvoll als kalt, sie gibt sich abgeklärt, als sei es normal, wenn auch bedauerlich,

     „dass unsere Kinder, um in den Kindergarten zu kommen, durch eine Sicherheitsschleuse müssen.“

Als zeuge es von Umsicht, dass wir,

     „wenn wir ein Kinderfest ausrichten, neben die Hüpfburg eine Security stellen“,

scharf bewaffnet. Als wolle sich auf diese Weise  –  so etwa auf der Ruhrtriennale, als Carp dazu einlud, mit BDS-Künstlern zu diskutieren und, wer zuhören wollte, einen kompliziert-dilettantischen Sicherheitscheck durchlaufen musste   –  als wolle sich auf diesem Weg ein internationales Flair beweisen, weil wir,

     „wenn wir ins Theater gehen, auf Waffen kontrolliert werden“.

Ein Jahr nach Halle ist Jahre davor. Alle 14 Tage wird in Deutschland ein jüdischer Friedhof geschändet, die Frequenz ist seit 1945 konstant, sie ist ebenso normal wie die Sicherheitsschleuse vorm Kindergarten, die „Israelkritik“ im Feuilleton, die Soli-Adresse nach jedem Anschlag. Wenn wir, die 99,8 Prozent, die nichtjüdisch sind, uns den jüdischen Alltag als unseren eigenen vorstellten, würden wir dann

     „anfangen zu überlegen, wie lange wir noch leben wollen in dieser Stadt, wie lange wohl noch in unserem Land“?

+ + +

Zwei Tage nach dem Terroranschlag auf die Jüdische Gemeinde in Halle hatten sich Hunderte Bürger/innen um die Synagoge in Bochum herum versammelt, schweigend. Eine Antwort auf die Frage, wie wir leben wollen in dieser Stadt, in diesem Land. So stark das Signal, so widersprüchlich war es  –  der Schutz von Bürger/innen ist keine Aufgabe für Bürger/innen, sondern die Behörden  –  und einmalig im doppelten Sinn: Alltag auch in Bochum ist es weiterhin, dass sich die Jüdische Gemeinde nur versammeln kann, weil sie ihren eigenen Sicherheitsdienst unterhält, gut ausgebildete Leute.

     „Wir stellen uns vor“,

so ein weiterer Satz aus dem Text, den Nichtjuden in der Christuskirche anlässlich der Verleihung des Hans-Ehrenberg-Preises an Norbert Lammert vier Tage nach dem Terror von Halle gelesen haben,

     „wir stellen uns vor, wo wir auch stehen, im Fadenkreuz zu stehen und von rechts visiert zu werden oder von links oder aus welcher Richtung immer …“

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