Einst war es das modernste Kohlekraftwerk der Welt, heute hat es hohe politische Symbolkraft: das Kohlekraftwerk II des Chemieparks Marl wird abgerissen. Zwar schaltet Deutschland seine Kohlekraftwerke ab, aber Fachleute werden immer noch gebraucht und werden selbst aus dem Ruhestand zurückgeholt. Ein letzter Besuch eines einstigen technischen Meisterwerks.
Die Energiewende ist hier mit den Händen zu fassen, zumindest ihre zerstörerische Seite, nämlich der Abbau bestehender Kraftwerkskapazitäten. Als das Kohlekraftwerk Mitte der 50er Jahre gebaut wurde, gelang den Ingenieuren etwas, was bis dahin als unmöglich galt: der Betrieb im überkritischen Bereich. Das bedeutet, dass mit extrem hohem Druck und einer Temperatur von 600 Grad Celsius der Dampf für die Verstromung von Steinkohle erzeugt wird.
Das Kraftwerk diente dem Chemiepark Marl sechzig Jahre lang als Energiequelle. Es machte eine der größten chemischen Produktionsanlagen Deutschlands energieautark. Verschärfte Umweltauflagen machten den Betrieb immer schwieriger und teurer. Irgendwann lohnten sich weitere Investitionen nicht mehr. Es wurde 2015 endgültig außer Dienst genommen und durch ein Gaskraftwerk ersetzt. Jetzt ist das Kraftwerk nur noch eine Ruine, die nach und nach für viel Geld abgebaut wird.
Heute noch kann man den Stolz der Kraftwerksarbeiter auf ihre Anlage und ihre Arbeit spüren. Einer der Kraftwerksmeister, die bis zum letzten Tag da gearbeitet haben, führt am „Tag des offenen Denkmals 2022“ eine Besuchergruppe durch das Werk. Kaum einer als er, der Kraftwerksmeister Mahr, könnte authentischer berichten wie es damals war. Er ist ein Kind des Ruhrgebiets, ein Mann der Industrie durch und durch. Seine Sprache ist unverschnörkelt, fachkundig und anekdotenreich. Man merkt, dass dieser Mann für sein Kraftwerk gelebt und gefühlt hat. Er weiß, wovon er spricht. Das Kraftwerk ist immer noch sein Kind.
Mahr ist nun im Ruhestand und macht am heutigen Sonntag gleich drei Führungen. Das ist aber nur eine große Ausnahme, denn besichtigen kann man das Werk auf dem für die Öffentlichkeit verschlossenen Chemiepark sonst nicht. Eine einmalige Gelegenheit für Freunde der Industriekultur des Ruhrgebiets. Gekommen sind fast hundert Besucher. Mehr war aus Sicherheitsgründen nicht möglich. Man war über den Zuspruch sichtlich überrascht und erfreut.
Kraftwerksmeister Mahr ist allerdings nicht der Opa, der von früher erzählt. Er ist aus dem Ruhestand zurückgekommen. Und zwar nicht, um Sonntagsführungen zu machen, sondern um anzupacken. Weil er im Werk wirklich gebraucht wird. „Wenn der Verbrecher Putin diesen Krieg nicht angefangen hätte, wäre ich nicht wieder hier“, sagt er fast nebenbei. In der Energiekrise fehlen aber nun Fachleute, zu viele sind weg, zu viele hat man zu früh nach Hause geschickt. Männer wie Mahr werden wieder gebraucht.
Mahr hat keinen Augenblick gezögert: „Als man mich anrief, habe ich sofort ja gesagt. Viele haben mich für verrückt erklärt. Warum tust Du Dir das jetzt noch an, wurde ich gefragt. Ich empfinde es als meine Pflicht, habe ich geantwortet. Evonik habe ich alles zu verdanken, was ich beruflich geschafft habe und was ich geworden bin. Wenn ich gebraucht werde, bin ich da.“ Er hat als Ungelernter angefangen, hat sich weitergebildet, hat sich hochgearbeitet.
Man sieht Mahr sein Alter nicht an. Er ist ein Profi, er weiß was er tut und was er sagt. Jemand, auf den man sich verlassen kann. Jemand, den seine Firma wieder braucht. Auch er symbolisiert Deutschlands Lage in der Energiewende und Energiekrise. Die Sonntagsführung hat er aus Freude gemacht. Morgen ist Montag, morgen packt er wieder an.
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