Am Bochumer Rottstr5-Theater inszeniert Kerstin Krug EIN TOTENGEBET nach Ilse Aichingers „Spiegelgeschichte“ als stürmisch-tragischen One-Woman-Monolog.
Das Licht zum Abbau ist kalt und grell, die letzten Premierenzuschauer sind gegangen, um noch die zweite Halbzeit des Fußballspiels zu sehen, jemand rollt ein Kabel zusammen. Janina Sachau, zurzeit festes Ensemblemitglied am Düsseldorfer Schauspielhaus, kommt noch einmal heraus und sucht auf der Bühne ein paar Requisiten zusammen. Kaum kann man glauben, dass diese kleine, zierliche, freundliche, aufgeräumt wirkende Frau dieselbe Person ist, die eben noch schreiend, weinend, zitternd, singend, zynisch lachend und mit Spielzeug um sich werfend die Geschichte eines kurzen, fehlerhaften Lebens rückwärts erzählt und damit das Publikum über eine Stunde lang in Atem gehalten hat.
Von der Beerdigung bis zur Geburt: Stationen von Jungsein und Schmerz
Wie fühlt sich Leben an, mit allen dramatischen Fehlern, falschen Entscheidungen und brutalen Erfahrungen, wenn man die Geschichte von hinten nach vorne erlebt und dabei am Rand steht und beim Erzählen tatenlos zusehen und zuhören muss, obwohl man selbst die Hauptfigur ist auf dieser Fahrt in die eigene Vergangenheit? Von der Beerdigung eines Mädchens bis zu dessen Geburt geht die Reise, die an fast unerträglich schmerzhaften Stationen wie einer gefährlichen Abtreibung, der ersten Liebe und dem trügerischen Traum von einer schönen Zukunft halt macht. Der Leichenwagen kehrt wieder um, die Tote wacht im Krankenhaus wieder auf, läuft im „wieder gewonnenen“ Todeskampf durch die Straßen – und los geht’s ins Verderben. Alles wird zurückgespult, alles ist verkehrtherum. Der Jugendliebe zum allerersten Mal zu begegnen heißt: für immer Abschied nehmen. Denn man sieht sich ja nur einmal zum ersten Mal. Und weiter geht’s – unbarmherzig schnell schnurstracks Richtung Kindheit.
Janina Sachau durchlebt die Palette an Gefühlen, die das Mosaik einer unvollkommenen Biografie ausmachen (und welche ist das nicht?), mit einer solch authentischen Leidenschaft, dass es einem fast Angst macht. Ein Wirbelsturm des Schmerzes breitet sich da im dunklen S-Bahnbogen aus, in der unmittelbaren Umgebung nur ein Cellist (Daniel Brandl), ein paar Kerzen und verstreutes Kinderspielzeug als stille Zeugen der emotionalen Achterbahnfahrt. Gerade der Minimalismus der Inszenierung gibt den nötigen Raum für die ausdrucksstarke Immer-Wieder-Verwandlung der Protagonistin – und für die der Rottstraße ganz eigene intensive Athmosphäre und Direktheit zwischen Bühne und Publikum.
Logische Lücken in der Erzählstruktur
Es gibt Stellen im Stück, an denen die eigentlich runde Rückwärtserzählung in ihrer Kontinuität etwas ins Stocken kommt: Das Leben der jungen Frau wird chronologisch in umgekehrter Reihenfolge erzählt, trotzdem lassen sich die Erlebnisse im Einzelnen nur vorwärts nachvollziehen, weil man eben nicht alles rückwärts berichten kann. Eine ganz konkrete Erfahrung, die einen Menschen besonders geprägt hat, muss so erzählt werden, wie sie tatsächlich erlebt wurde – nämlich im Hier und Jetzt, mit dem Blick nach vorne. Außerdem ist man im letzten Drittel der Aufführung versucht sich zu fragen, was denn da noch kommen soll. Ist man bei der Erinnerung an Einschulung und Geschwisterkäbbeleien angekommen, kann ja nicht mehr viel passieren. Und womit das Stück endet, ist natürlich vorhersehbar – zumindest für jeden, der weißt, was ein Erzählrahmen ist. Was es bedeutet, wenn „der Kreis sich schließt“. All das kann aber weder die Leistung der unfassbar überzeugenden Darstellerin noch an die Schönheit der Sprache relativieren.
Mutige, fulminante und originelle Theateradaption
Die gleichzeitig simple und geniale Idee dieser Kurzgeschichte für das Theater aufzubereiten ist eine Herausforderung. Kerstin Krug hat mit der mutigen Entscheidung, alles auf eine Karte – einen fulminanten Frauenmonolog – zu setzen, gutes Gespür für das Bühnenpotential von teilweise recht sperrigem Literaturstoff bewiesen. Janina Sachau wirft sich vollkommen vorbehaltlos in Verzweiflung und Reue, kann aber ebenso blitzschnell zur totalen Kontrolliertheit wechseln und stellt ganz nebenbei ihr Gesangstalent unter Beweis. Der Zuschauer ahnt nicht, was ihm auf dieser Rückwärtsfahrt blüht, und sitzt man einmal fest im Stuhl, gibt es kein Entkommen mehr vor den Fragen an die eigene Biografie. Vor der Frage, wie weit ein Fehler zurückreicht. Vielleicht schafft das Stück bei dem einen oder anderen ein Bewusstsein dafür, dass auch sein Leben irgendwann am Ende der Kassette einrastet und dann nur noch zurückgespult werden kann. Dann geht es nicht mehr weiter, nur noch nach hinten (und auch das nur in der Fiktion), und die Frage ist: würde einem gefallen, was man da im Spiegel sieht?
Die nächste Aufführung von EIN TOTENGEBET findet am 11.11.2012 um 19:30 Uhr statt. Weitere Informationen gibt es auf der Homepage des Rottstr5-Theaters.