Besonders in Krisenzeiten und mit Bezug auf wirtschaftliche oder politische Krisensituationen drängen moralische Sichtweisen in den Vordergrund, die auf Personen und Ideen bezogen sind, nicht auf die Bedingungen, unter denen sie handeln und entstanden sind. Moral macht plötzlich alles möglich — oder alles zunichte! Dies mag auch damit zusammenhängen, dass man mit Bezug auf Politik kaum gewohnt ist, Bedingungen einzubeziehen, ja man kennt so etwas nicht einmal. Es gibt Parteien, Politiker und das Volk. So einfach ist das?
Diese Bedingungen zu betrachten, ist Aufgabe der Politischen Wissenschaften. Im Rahmen von Biografien geraten zwar auch Personen in den Blick, ebenso bei der historischen Analyse von Entscheidungssituationen, doch sind auch in diesen Fällen die Bedingungen relevant, unter denen gehandelt wurde und die zu Entscheidungen führten.
Während und nach dem Zweiten Weltkrieg wurde z.B. von den Alliierten überlegt, was aus Deutschland werden solle. Das Vertrauen war aufgrund der Nazi-Vergangenheit und -Gegenwart sehr gering. Aus dem Land eine schlichte Bauernrepublik von hinterwältlerischen Tölpeln werden zu lassen, war ihnen eine echte Option. Angst hatte man jedoch vor einem entstehenden Machtvakuum in Westeuropa. Aus diesem Grund wurde die Europäische Idee wiederbelebt. Das heutige Europa nahm seinen Anfang, um Deutschland in die westliche Völkergemeinschaft einbinden und kontrollieren zu können. Und der Marshallplan trug dazu bei, dass den Reparationszahlungen etwas entgegengestellt werden konnte: die modernste Industrie entstand, die es damals gab. Ohne den Marshallplan wäre es den Westdeutschen nicht anders ergangen, als ihren Landsleuten im Osten. Ohne eine Berücksichtung von Bedingungen ließe sich nicht (kausal) erklären, weshalb wir inzwischen Partner von Frankreich, Großbritannien, den USA sein können und uns nicht mit Modalwien zufriedengeben müssen, falls dort Interesse an einer Partnerschaft bestanden hätte.
Die EU- und NATO-Erweiterungen, die u.a. durch den Zerfall der Sowjetunion möglich geworden waren, dienten vor allem politischen und militärischen Interessen, der Ausweitung des westlichen Einflussbereichs. Ob sich die Staaten auch wirtschaftlich erholen könnten, war vorab nicht zu ermitteln. In Südosteuropa ist die Strategie gescheitert. Europa ging es im Zuge der Erweiterungen erneut darum, primär ein entstehendes Vakuum zu verhindern.
Speziell die Ukraine liegt zwischen zwei machtpolitischen Blöcken. Diese Bedingung außer Acht zu lassen, hieße, eine Freiheit geltend zu machen, die faktisch nicht existiert. Und die zentralstaatliche Ausrichtung der nachrevolutionären Regierung in Kiew ließ die Bildung einer Förderation, wie man sie z.B. in den USA oder Deutschland findet, nicht zu. Die Bildung einer Förderation wäre die einfachste Lösung gewesen, den relativ reichen industriellen Osten einzubinden, der von seinen Beziehungen zu Russland profitiert. Die zentralstaatliche Ausrichtung hing und hängt weiterhin damit zusammen. Der Ukrainische Westen ist bitterarm. Dass sich der Konflikt verstärkte, bis hin zu kriegerischen Auseinandersetzungen, Russland sogar die attraktive Krim annektierte, nach der erfolgten Willensbekundung der Bevölkerung, muss aus politischer Sicht überhaupt nicht wundern, allenfalls aus moralischer.
Es reicht nicht aus, die kleinbürgerliche Seele „Freiheit“ schreien zu lassen, weil man mit der Revolution sympathisiert. Sie war und ist mir gleichfalls sympathisch. Es würde auch nicht ausreichen, sich mit dem Fahrtenmesser in die Straßenbahn gen Osten zu setzen, um Russland tüchtig Druck zu machen. Zu den politischen Bedingungen gehört, dem Osten eine Chance zu eröffnen, sich in eine zukünftige Ukraine integrieren zu können. Mit zentralstaatlichen Machtansprüchen wird dies nicht gelingen.
Und jetzt? Warum sollten die das noch wollen? Der Bürgerkrieg fand ja auf deren Territorium statt. Und man vergisst sehr leicht, dass viele in der Ostukraine aber auch zurecht erschreckt waren über einige Figuren in der Kiewer neuen Regierung und deren Aussagen.
Vielleicht sollte man sich auch mal die sogenannte „orangene“ Revolution erinnern und was danach geschah. Da gewann doch am Ende wieder der Osten die Wahl – sicher auch geprägt durch die dortigen Oligarchenstrukturen (die ja auch die ganze Ukraine versauen).
Wahrscheinlich wollten die meisten in der Ostukraine weder diese (wirklich eher peinlichen) Akteure aus Kiew noch Putin haben… Was mich zum Kern des Textes wohl führt.
Wer hat den mit der Moralisierung der Politik begonnen? Und jetzt verlangt man, denkt bitte realpolitisch? Nun ja… Vorbei.
@ #1 Gar nichts ist vorbei: Aktuell gibt es eine brüchige Waffenruhe. Aber keine Perspektive!
Nein, ich meinte, der Punkt des Mahnens ist doch längst vorbei. Das Kind hat man schon vor Monaten in den Brunnen gekippt.
@ #3 Man hat nach der Revolution in Kiew alles falsch gemacht, was falsch zu machen war. Leider. Und wenn es so weitergeht wie bislang, ist die Ukraine aus politischer Sicht verloren. Dennoch habe ich mir erlaubt, auf den zentralen Grund der innerpolitischen Auseinandersetzung hinzuweisen, nicht nur in Richtung Kiew, sondern auch und vor allem in Richtung Westen und seiner Kommentatoren …
Eine Nachricht vom 10. Sept.: Neues Angebot für den ukrainschen Osten!
http://www.afp.com/de/node/2818178