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„Jeden Morgen aufwachen und lesen, wie viele Familien nicht mehr aufgewacht sind.“ Nacht für Nacht schlagen Raketen in ukrainische Häuser ein, Tag für Tag. Sie vernichten das Leben auch derer, die entkommen sind, Ukrainer im Haus nebenan. Was sie seit drei ewigen Jahren durchleben, spielt öffentlich keine Rolle, die Wahl am Sonntag führt über sie hinweg, dafür braucht es keinen Trump. Wir haben Ukrainer in Bochum befragt, wie sie – einen Klick von Zuhause entfernt – auf ihr Leben blicken. Teil 1 einer formlosen Gesprächsreihe
„Wir alle leben im Spagat, zerrissen zwischen zwei Ländern: dort, wo unsere Lieben unter Raketen und Explosionen zurückgeblieben sind, und hier in einem friedlichen und schönen Land …“ Sagt Oksana* (43), promovierte Chemikerin, Lehrerin, zweifache Mutter: „Sobald ich gedanklich in jene schrecklichen ersten Tage des Krieges eintauche oder mich einfach an mein wunderschönes, einst glücklichstes Leben erinnere, stürze ich in die Hölle eines unerträglichen Schmerzes. Mein ganzes Leben vor meiner Ankunft in Deutschland war von absolutem Glück erfüllt. Jeden Morgen, wenn ich aufgewacht bin, habe ich geprüft, ob die Freude noch in mir war – und sie war immer da. Ideen kamen und wurden wirklich, als würde mich eine höhere Kraft auf Händen tragen.“
Dann Putins Angriff, drei Jahre her, seitdem lebt Oksana mit dem Wissen, „dass es Menschen gibt, die meine Familie töten wollen.“ Dann dieser Satz:
„Hier in Deutschland, in einem völlig sicheren Land, das uns ein Dach über dem Kopf gegeben hat und ein unbesorgtes Leben ermöglicht – was braucht ein Mensch mehr, könnte man meinen – habe ich mich selbst völlig verloren. Ich fühle mich oft wie ein Wesen von einem anderen Planeten, dessen Körper und Geist für völlig andere physikalische Bedingungen geschaffen wurden. Hier gelandet, muss ich mich jeden Tag wiederfinden und neu entdecken. Was schmerzhaft ist Tag für Tag.“
Etwa 1,25 Millionen Ukrainer sind Putins Terror nach Deutschland entkommen, davon rund 260 000 nach NRW, etwa 8 000 sind es in Bochum, die Zahlen fließen. Beständig dagegen der Terror:
„Täglich flackern Schlagzeilen über den Krieg auf, und unser Blick hat sich so sehr daran gewöhnt, dass sie unser Herz nicht mehr erreichen. Sowohl hier in Deutschland als auch in der Ukraine wachen wir jeden Morgen auf und lesen in den Nachrichten, wie viele Familien nach einem Raketen- oder Drohnenangriff nicht mehr aufgewacht sind. Und doch empfinden wir nicht das, was ein Mensch unter normalen Umständen fühlen sollte. Es ist erschreckend, in welche Dunkelheit der Verhärtung wir durch den andauernden Stress geraten sind, durch den andauernden Terror.“
Oksana formuliert dies für sich, nur dass, wer immer es hört, sich mitgemeint fühlt, sie nennt es ein Mitfühlen:
„Ich bin jedem Menschen mit brennenden Augen und einem offenen Herzen dankbar. Allen, die nicht verlernt haben, mit anderen mitzufühlen und ihr Mitgefühl zu zeigen.“
Über das, was sie an Entsetzlichem erlebt hat und überlebt, will Oksana nicht sprechen, der Schrecken bleibt sprachlos, so wie das Mitfühlen sprachlos bleibt. Und gerade so trifft Oksana ins Herz jedes politischen Denkens. Im Gespräch mit ihr – es ist das erste, zu dem wir eingeladen sind und keineswegs klar, ob eine Gesprächsreihe daraus entstehen kann – stellt sie vor die Frage: Ist Mitgefühl eine öffentliche, eine politische Kategorie? Kann sich aus Mitgefühl heraus politisches Handeln entwickeln?
Unbedingt, lautet die übliche Antwort, den compassionate conservatism, einen mitfühlenden Konservatismus, hatte George W. Bush, damaliger US-Präsident, in den 90er Jahren populär gemacht, später – zumal in der Amtszeit von Barack Obama – hat sich das öffentliche Mitfühlen zu einer politischen Kunst geformt, heute gilt es quer durch das Spektrum der Parteien als eine Art politische Kardinaltugend.
Ganz anders Hannah Arendt (1906 – 1975), für sie, die politische Denkerin, ist Mitgefühl ein „natürlich-kreatürlicher Affekt“. Nichts, was sich bewusst erzeugen und also verantworten ließe, sondern ein Moment, den, wer immer ihn empfindet, selber erleidet, etwas, das einem widerfährt. Werde ein derart natürlicher Affekt politisiert und aus dem intimen Dunkel des Herzens hinausgestellt ins helle Licht der Öffentlichkeit, werde er dort, schreibt Arendt, unvermeidlich „zur Schau gestellt“: Das edle Motiv baue sich zur Kulisse auf, hinter der weniger edle Motive mit handfesten Interessen anbandeln.
Diesen Weg, auf dem das Mitgefühl zu einer öffentlichen Sache wird, stellt Oksana zu. Sie hält ihren Schmerz für sich, sie teilt ihn mit denen, die ihr am Herzen liegen, aber weigert sich, ihn auszustellen, ihn greifbar zu machen, ihn freizugeben dafür, verzweckt zu werden. So wie es die AfD tut oder Wagenknechts BSW oder – „Wann empfinden wir endlich Mitgefühl für das geschundene Land?“ – Alice Schwarzers „Emma“, es sind nur drei von denen, die sich Putin an den Hals werfen, während sie öffentlich in Mitgefühl baden.
Wie stolz dagegen Oksana. Ihr Schmerz liegt in allem, was sie beschreibt, aber er lässt sich nicht hören, nur mithören, man muss ihn sich selber erzählen. Man muss sich vorstellen können, was mit dem anderen ist. Eine Stadt, zwei Planeten.
„Ich habe noch nicht wieder gelernt, im Hier und Jetzt zu leben und das zu schätzen, was Gott mir in diesem Moment gibt“, sagt sie „Ich bin hier gelandet, ohne die Möglichkeit, meine Parameter zu ändern, ich muss hier überleben. Und auch meinen Kindern nach Möglichkeit ein Leben bieten, das sie von ‚meinem Planeten‘ gewohnt sind. Es ist fast unmöglich … in meinem Fall und dem von Millionen anderer Ukrainer, die zur Flucht gezwungen wurden, es ist fast unmöglich. Wir leben im Spagat.“
Im vergangenen Herbst war Oksana zum ersten Mal, seitdem sie der Reichweite von Putins Raketen entkommen ist, für wenige Tage zurück in der Ukraine. Ein Tag im Park mit ihrer Tochter und deren bester Freundin. Das milde Licht der Sonne, der Himmel weiß wie eine Leinwand, die Tauben wie von Picasso in den Himmel gemalt. Man muss in das Bild hineinhören, um die Luftalarme zu hören, die Detonationen, den Schmerz.
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* Oksana ist nicht ihr tatsächlicher Name, der ist den Ruhrbaronen mit Vor- und Zuname bekannt.