Eine Zumutung? Die Furcht vor der Freiheit

Christiane Jochum (Foto: privat)

Selten wurde um einen Begriff und seine Bedeutung so hart gerungen wie um die Freiheit. In ihrem Namen wurde und wird gekämpft, demonstriert, sie wird in Liedern besungen, viele Regalmeter in den philosophischen Abteilungen der Universitätsbibliotheken sind mit entsprechenden Werken gefüllt und doch bleibt sie uns seltsam fremd. Von unserer Gastautorin Christiane Jochum.

Auf die Frage: „Fühlst du dich frei?“ antworten die meisten Menschen hierzulande mit einem klaren „Ja“. Warum auch nicht? Niemand schreibt uns vor, ob wir morgens den schwarzen oder weißen Pullover aus dem Schrank holen, ob und wohin wir verreisen, welchen Beruf wir wählen, kurz: welche Lebensentscheidungen wir für uns im privaten Raum treffen. Alles ist selbstverständlich. Oder?

Schauen wir zurück. Die Jahre der Coronapandemie haben uns deutlich gezeigt, wie fragil unsere vermeintliche Freiheit geworden ist. Ausgangsbeschränkungen, Lockdowns, Kontaktverbote griffen tief in unsere Grundrechte ein und verunsicherten viele Menschen, die bis zu diesem Zeitpunkt den Stellenwert der Freiheit nicht besonders hoch geschätzt haben, eben weil sie selbstverständlich war, so schien es zumindest.
Nun ist es eine Binsenweisheit, dass das, was einfach da ist, nicht sonderlich wertvoll erscheint. Ist die Freiheit in anderen Ländern bedroht, wird das bedauernd zur Kenntnis genommen, vielleicht auch zu Demonstrationen aufgerufen, aber dass womöglich auch die eigene, ganz persönliche Lebenswelt tangiert sein könnte, ist vielen Menschen gar nicht bewusst.

Vor einigen Jahren wurde ich zu einem Vortrag in die Abschlussklasse eines Berufskollegs eingeladen. Es ging um das Thema „Die Situation von Frauen in der Politik auf Kommunal- und Landesebene“ und meine persönliche Wahrnehmung aus meiner Arbeit als Kommunalpolitikerin. In der anschließenden Diskussion mit den Schülerinnen und Schülern stand dann aber die allgemeine gesellschaftliche Position der Frauen im Fokus, vor allem im Vergleich zwischen der heutigen Lage und der in der jüngeren Vergangenheit. Für die jungen Menschen, im Alter von 18 bis 20 Jahren, war die Gleichberechtigung von Mann und Frau schlicht kein Thema, sie war fraglos existent. Für mich war dies geradezu eine Steilvorlage für historischen Nachhilfeunterricht. Ob sie sich vorstellen könnten, dass sie bei der Eheschließung einen nicht unerheblichen Teil ihrer Bürgerrechte verlieren würden, fragte ich die jungen Frauen. Dass ihr Ehemann das Recht hätte, ihren Arbeitsvertrag ohne ihre Einwilligung zu kündigen, falls sie seiner Meinung nach ihre Haushaltspflichten vernachlässigen würden? Ungläubiges Staunen der Klasse, Entsetzen bei den jungen Frauen. Sie konnten kaum glauben, dass ihre Freiheit hier in Deutschland per Gesetz bis zur Reform des Eherechts in 1977 derart massiv eingeschränkt gewesen wäre.

Diese Diskussion zeigt die enge Verzahnung der privaten mit der gesellschaftspolitischen Ebene. Sobald Freiheit den privaten, persönlichen Raum verlässt, tritt sie in die Interaktion mit anderen ein, berührt die Lebenssituation der Mitmenschen.

Meine Freiheit endet dort, wo die des anderen beginnt“; besonders während der Zeit der Coronapandemie wurde dieser bekannte Satz des Philosophen Immanuel Kant oft zitiert. Kant forderte aber ebenfalls die Menschen zum selbständigen und eigenverantwortlichen Denken auf: „Sapere aude! Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“

Natürlich kann man jeder Lebenssituation mit einem, oft aus dem Zusammenhang gelösten, Zitat begegnen. Manchmal leiten aber genau diese gedanklichen Impulse zu weitergehenden Fragen, deren Antworten zu widersprüchlichen Ergebnissen führen.

Ein Beispiel aus dem Alltag ist die Gesetzliche Krankenversicherung, der rund 90 % der Bundesbürger angehören. Als Angestellter bis zur Beitragsbemessungsgrenze pflichtversichert, mit höherem Gehalt oder als Selbständiger als freiwilliges Mitglied. Ich möchte an dieser Stelle nicht die Diskussion über das Für und Wider des Versicherungssystems beginnen, es geht mir um andere Aspekte. Als gesetzlich versichertes Mitglied bin ich außerstande, zu beurteilen, welche Leistungen der Arzt mit der Krankenversicherung abrechnet. Als Privatpatient erhalte ich neben der Rechnung auch den Befund der Untersuchung, kann also prüfen, ob und welche Leistungen erbracht worden sind. Der, zugegeben provokante, Schluss aus diesen Fakten sieht so aus, dass mir als Arbeitnehmer unterhalb eines bestimmten Einkommens die Freiheit verweigert wird, den Umfang meines Versicherungsschutzes selbst und eigenverantwortlich zu bestimmen. Gleichzeitig spricht mir dasselbe System die Fähigkeit ab, Rechnungen zu prüfen und ärztliche Berichte, die meinen Körper und meine Gesundheit zum Thema haben, überhaupt zur Kenntnis nehmen zu können.

Wie gesagt, es geht hier nicht um den Sinn der Krankenversicherung an sich, sondern um die eigenverantwortliche Entscheidung, welche Lebens- und Gesundheitsrisiken ich absichern möchte. Diese Fähigkeit wird ganz offensichtlich an Einkommensgrenzen und / oder die entsprechende Berufswahl gekoppelt. Eine fragwürdige Verknüpfung in meinen Augen.

Schauen wir in den politischen Raum, wird das Messen mit zweierlei Maß ebenfalls offensichtlich. Ungarns Ministerpräsident, Viktor Orbán, wird für sein Regierungshandeln massiv kritisiert, ihm wird u.a. Einschränkung der Pressefreiheit, die gezielte Unterstützung regierungsnaher Hochschulen sowie die zunehmende Beeinflussung der Medien vorgeworfen. Wer aber sind seine Kritiker? Neben den ungarischen Bürgern, die diese Entwicklung ablehnen, sind es oft Vertreter unseres hiesigen Bildungsbürgertums, die sich selbst im politisch eher linken Spektrum verorten. Um es ganz deutlich zu sagen, viele Menschen, die unseren Öffentlich-Rechtlichen Medien wenig kritisch gegenüberstehen, denen die Maßnahmen der bundesdeutschen Regierung in Coronazeiten gar nicht rigide genug sein konnten, die klaglos die Einschränkungen der persönlichen Freiheit akzeptierten, weisen anklagend auf andere Länder, deren Regierungen in ihren Augen inakzeptabel handeln. Die Diskrepanz zwischen den Normen der eigenen „Bubble“ und den gesellschaftlichen Wertvorstellungen, die in anderen Ländern herrschen, wird gar nicht als solche wahrgenommen.

Um nicht missverstanden zu werden: Selbstverständlich kann niemand seine Freiheit grenzenlos ausleben. Dann handelte es sich auch nicht um Freiheit, sondern um Anarchie. Für ein funktionierendes gesellschaftliches Miteinander müssen allgemeingültige Werte, Normen und daraus folgende Gesetze ausgehandelt und immer wieder neu austariert werden, damit ein Zusammenleben aller Bürger gelingen kann. Das bedeutet, dass Menschen auf einen Teil ihrer persönlichen Freiheit verzichten und die aus diesem Verzicht entstandenen Regeln und Vorschriften beachten. Das Rauchverbot in der Gastronomie ist ein schönes Beispiel dafür, den individuellen Genuss dem Wunsch anderer nach einer rauchfreien Umgebung unterzuordnen.

Für diese Bereitschaft, auf einen Teil ihrer Rechte und freien Entscheidungen zu verzichten, gebührt den Menschen Respekt. Leider erleben wir häufig das Gegenteil, nämlich dann, wenn Bürger es wagen, kritisch die Sinnhaftigkeit einzelner Gesetze zu hinterfragen, siehe auch hier wieder die teilweise absurden Anordnungen während der Pandemie. In besonders unguter Erinnerung ist mir in diesem Zusammenhang ein Satz von Frank Ulrich Montgomery aus dem November 2021 geblieben. Er sprach vom „Freiheitsgesäusel der FDP“ und offenbarte damit eine Gesinnung, die mich zutiefst entsetzte und heute noch schaudern lässt. Welche Verachtung der Freiheit, sie als „Gesäusel“ zu bezeichnen, welche Verachtung für die Menschen, die die, wenn auch temporären, so doch massiven Einschränkungen akzeptierten. Wo blieb der Aufschrei? Kritische Fragen und der Verweis auf andere Länder, die sich für andere Strategien in diesen Jahren entschieden hatten, wurden mit zum Teil beleidigenden Äußerungen abgekanzelt. Mündigen Bürgern wurde die Fähigkeit zum eigenständigen, kritischen Denken abgesprochen, sofern sie andere Quellen als die, die als akzeptabel galten, zitierten. Wir sehen hier eine Verengung des Diskursraumes, die inzwischen bedenkliche Züge annimmt. Freie Diskussionen, der Austausch kontroverser Argumente, das Gelten-Lassen auch anderer als die eigenen Ansichten sind nicht nur öffentlich immer weniger möglich, auch im privaten Raum äußern zunehmend weniger Menschen ihre wahren Meinungen. Zu groß ist die Angst vor dem „Framing“ ihrer Argumente und die – berechtigte – Sorge, im gesellschaftlichen Abseits zu landen. Die Folge dieser Entwicklung ist erstaunlicherweise nicht der Ruf, diese einengenden Leitplanken des Denkens und Diskutierens wieder weiter auseinander zu schieben, sondern ganz im Gegenteil, viele Menschen sehnen sich nach einem festeren und engeren Rahmen, in dem sie sich sicher fühlen. Die Freiheit wird als Zumutung empfunden. Freies, kritisches Denken, Diskussionen ohne Sorge vor Sanktionen, die Möglichkeit, weitestgehend Verantwortung für persönliches Handeln zu übernehmen, erscheint vielen Menschen bedrohlich. Sie sehen hier weniger die Chancen als vielmehr die Risiken. Aber wenn nicht in Freiheit, wie sonst können sich Menschen entwickeln, entfalten und nicht zuletzt durch Kritik an bestehenden Verhältnissen Impulse für eine gesamtgesellschaftliche positive Entwicklung geben? Ja, Freiheit birgt auch das Risiko des Scheiterns persönlicher Wünsche, sie ist aber der einzige Weg, Entscheidungen revidieren und neu starten zu können.

Trauen wir uns! Muten wir uns die Freiheit zu!

(Christiane Jochum ist aktives FDP-Mitglied.)

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