„Einer für alle. Alle für einen“

Nils Heisterhagen Foto: Privat


Der Sozialdemokrat Nils Heisterhagen hat gerade mit dem Buch „Die liberale Illusion. Warum wir einen linken Realismus brauchen“ im Dietz-Verlag eine vielbeachtete Streitschrift vorgelegt. Wir sprachen mit ihm darüber, was links ist und was die politische Linke tun sollte, um wieder nach oben zu kommen

Ruhrbarone: Aktuelle Umfragen sagen, dass nur noch 12 Prozent der Arbeiter SPD wählen. Was ist da los?

Nils Heisterhagen: Sind es mittlerweile so wenig? Ich kenne natürlich Zahlen dazu und weiß, dass die SPD ihren Status als Arbeiterpartei eingebüßt hat und nun viele Arbeiter AfD und Linkspartei und manche die CDU wählen. 12 Prozent wären aber natürlich noch mal eine krassere Zahl. Die SPD ist zwar heute auch eine Angestellten- und Beamtenpartei. Das muss sie ja auch sein, um Wahlen zu gewinnen. Aber wenn sie nur noch 12 Prozent der Arbeiter erreicht, braucht man sich über gar nichts mehr wundern. Wer nicht mehr versteht, wo er herkommt, der hat ein Problem. Gerade im Zuge der Digitalisierung bräuchte es ja eine Partei für Arbeiter, vielmehr eine Partei der Arbeit, die Sicherheit im Wandel organisieren kann. Gerade auch etwa für den Facharbeiter. 

Ruhrbarone: Viele sagen, es gäbe keine Arbeiterklasse mehr – ist das so oder sollte man sie nicht besser neu definieren?

Heisterhagen: Naja „den“ Arbeiter gibt es sicher nicht mehr. Wir haben ja in der Industrie mehr qualifizierte Facharbeiter und nicht mehr so die Leute, die den ganzen Tag schaufeln. Dafür haben wir im Dienstleistungssektor und in der Logistik neue Formen von „Arbeitern“. Der Elektriker in der Shopping Mall, die Verkäuferin beim Klamottenladen, die Altenpflegerin. Da kann man schon von „Arbeiterklasse“ reden. Es ist die Frage, ob die Menschen das selbst so sehen. Das müsste man sie mal fragen.

Ruhrbarone:  Wie hat sich die Postmoderne auf die politische Linke ausgewirkt? 

Heisterhagen: „Die Postmoderne ist das Kulturprogramm des Neoliberalismus“ sagt der österreichische Philosoph Robert Pfaller in einem Sammelband über „Die sortierte Gesellschaft“. Was meint er damit? In einem vermeintlich postmaterialistischen Zeitalter soll es uns nur noch kümmern „wer wir sind“ und nicht mehr so sehr „was wir haben wollen“. Um im Bild zu bleiben: Der Verkäuferin des Klamottenladens wird suggeriert, sie solle ihr Glück bei Instagram versuchen, anstatt ihren Arbeitgeber um 100 Euro mehr Lohn zu bitten. Und die Linke, die wurde nicht nur im Zuge der Adaption des Neoliberalismus durch die „Neue Mitte“ selbst postmaterialistischer, sondern sie vergaß die „soziale Frage“ prominent zu stellen.

Ruhrbarone:  Erläutern Sie das mal.

Heisterhagen: So wichtig Themen wie die „Ehe für alle“ sind, im Kern erwarten viele Menschen von der politischen Linke ökonomische Debatten über Verteilung von Wohlstand, sichere Arbeit und bezahlbare Mieten. Eben alles, was ihren Alltag und ihre Leben im Konkreten betrifft. Stattdessen hat die Linke aber zuletzt viel Identitätspolitik angeboten. Dass hat zum Teil absurde Züge angenommen, wenn darüber diskutiert wird, ob ein Gedicht an einer Hauswand jetzt sexistisch ist oder nicht. Aber das sind auch die krassen Beispiele. Eher die Ausnahme. Generell hat die Sprache der Linken viele ihrer früheren Wähler nicht mehr erreicht. Das hatte auch schon der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch vor Jahren in seinem Buch „Postdemokratie“ beklagt. Zu viel Marketing-Sprech. Zudem kommt, dass die Linke weniger dahin ging, „wo es brodelt, riecht und stinkt“, wie das Sigmar Gabriel 2009 noch gefordert hatte. Kurz: Der Realismus und die Bereitschaft heiße Eisen in demokratischer Verantwortung anzupacken, das hat gefehlt. Und das hat viele Wähler eben enttäuscht.

Ruhrbarone: Was für heiße Eisen?

Heisterhagen: Ich war letztes Jahr in Gelsenkirchen und in Essen. Mein Gefühl ist, dass diese Städte zum Teil zwei- bis dreigeteilt sind. In schöne Ecken und dann in Ecken, wo viele Menschen sagen: „Das fühlt sich für mich nicht mehr nach sicherer und guter Heimat an. Hier läuft was nicht.“ Ich habe dann auch mal den Lokalteil der WAZ gelesen. Da stand was von Sozialbetrug und Kriminalität. An sowas darf man nicht vorbei. Wenn Sigmar Gabriel sagt, man muss dahin, „wo es brodelt, riecht und stinkt“, dann braucht man auch hier Antworten und Konzepte. Innere Sicherheit etwa ist einfach ein Thema. Generell sollte die politische Linke – gerade auch im Ruhrpott – wieder die klassischen linken Themen setzen: Arbeit, Bildung, Rente, soziale Sicherheit.

Die soziale Frage sollten sie wieder stärker adressieren. Wie kriegen wir die Mietpreisexplosion gestoppt? Aber nicht nur darüber reden, wie schlimm diese Mietpreisexplosion ist, sondern konkrete Konzepte vorlegen. Deutlich machen, wo die CDU das nicht mitmachen will. Mindestlohn nach oben, Arbeitslosengeld 1 verlängern, Steuerdebatte führen, über Leiharbeit und Werkverträge reden, auch über Tarifbindung.

Ruhrbarone: Sie kritisieren auch, dass die SPD wie die ganze Linke sich immer weniger um Wirtschaftsthemen kümmert. Warum sollte sich das wieder ändern?

Heisterhagen:  Wir sollten zu einer neuen Industriepolitik kommen. Ich glaube, wir müssen die Industrie stärken. Die Industrie ist unser Wohlstandsfaktor. Da sollten wir über Wege sprechen, was wir machen können, um erfolgreich in die Industrie 4.0 zu kommen. „Digitalisierung aktiv gestalten und sozial erfolgreich machen“ heißt hier das Thema. Generell wünsche ich mir, dass wir ein neues alternatives Wirtschaftsmodell zum Neoliberalismus stark machen. Keynesianismus und Rheinischer Kapitalismus bieten sich da an. Das können und das sollten wir wieder groß machen und ins 21. Jahrhundert bringen.

Ruhrbarone:  Ein großer Teil der politischen Linken ist sehr stark im Bereich der Identitätspolitik engagiert – sehen Sie darin mehr Chancen oder mehr Risiken?

Heisterhagen:  Wer sich jedenfalls auf „Identitätspolitik“ beschränkt, wird verlieren. Die SPD etwa, war unter Willy Brandt eine „Sowohl-als-auch-Partei“. Eine Partei, die für Freiheit und Werte streitet, aber eben weiß, dass ohne soziale Sicherheit, angemessene Beteiligung an Gewinnen und faire Chancen Freiheit keine Substanz hat. Das hat übrigens auch die FDP mal so ähnlich gesehen. Lange ist das her, dass wir ein soziales Bewusstsein in Deutschland hatten, welches auch in der Mehrheit war. Dieser Neoliberalismus hat viel kaputt gemacht. In den Köpfen und in der Gesellschaft. Die politische Linke wird weiter marginalisieren, wenn sie im postmodernen Bewusstsein manches einfach vernachlässigt und ausklammert. Die Linke – zu der die SPD gehört – braucht ein neues Bewusstsein.

Ruhrbarone:  Die Linke war traditionell zukunftsoptimistisch – das ist sie in großen Teilen nicht mehr. Wie soll man damit umgehen?

Heisterhagen:  Die Gesellschaft ist ja gerade auch nicht sonderlich „zukunftsoptimistisch“. Sozialdemokratische Sicherheitspolitik kann jedenfalls auch links sein. Viele haben Angst vor Abstieg. Angst nach dem Jobverlust ins Bodenlose zu fallen. Ich glaube, wir müssen unser Land erstmal wieder sozial stabilisieren. Wenn wir das geschafft haben, können und sollten wir die „konkrete Utopie“ rausholen, um eine Formel des Philosophen Ernst Bloch zu verwenden. Auf jeden Fall müssen wir aus diesem trostlosen momentanen Pragmatismus raus. Das „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama) hat nicht stattgefunden. Das war doch eine Illusion. Die liberale Illusion.

Ruhrbarone:  Wann ist die Linke aus der Spur gekommen und hat sich den postmodernen Ideen zugewandt anstatt aus sich selbst heraus neue Ideen zu entwickeln, die in ihren Denktraditionen standen? 

Heisterhagen:  Manche sagen schon 1968. Da sei die Studentenbewegung gekommen und habe dem Individualismus und einer Befreiungsrhetorik das Wort geredet. Auf der Strecke blieb die Arbeiterbewegung und ihre Idee einer universellen Solidarität. Wahrscheinlich stimmt das so nicht ganz. Willy Brandt und Helmut Schmidt haben in unterschiedlichen Ausprägungen Freiheit, Gleichheit und Solidarität immer zusammengedacht. Der Bruch mit der sozialdemokratischen Tradition kam in den 1990er Jahren nach dem vermeintlichen „Ende der Geschichte“. In den USA fing es mit Bill Clinton und den „New Democrats“ an, ging dann weiter mit „New Labour“ unter Tony Blair und fand hier in Deutschland unter Gerhard Schröder seinen Ausdruck in der „Neuen Mitte“. Im Grunde war das eine Anbiederung an den Neoliberalismus und die Übernahme vieler seiner Ideen und Konzepte. Etwas später schlug dann noch das Kulturprogramm der Postmoderne durch, welches sich wunderbar mit neoliberalen Ideen verband. So in etwa entstand ein „progressiver Neoliberalismus“, wie die Politikwissenschaftlerin Nancy Fraser sagt. Und dieser „progressive Neoliberalismus“ ist zumindest ein bedeutender Bestandteil für eine Erklärung der Malaise der politischen Linken und auch Bestandteil der Erklärung des Aufstiegs eines rechten Populismus.

Ruhrbarone:  Wie geht es nun weiter? Hat die politische Linke noch eine Chance?

Heisterhagen:  Ja, aber sie muss zu sich selbst zurückfinden. Reflektieren, dass sie sich bei manchem in jüngster Vergangenheit auch einfach geirrt hat, wie mit der Teiladaption neoliberaler Ideen. Die politische Linke muss vor allem die Idee der Solidarität zurückgewinnen. Oder kurz: „Einer für alle, alle für einen“. Glück auf!

 Nils Heisterhagen ist Sozialdemokrat und Autor des Buches: „Die liberale Illusion. Warum wir einen linken Realismus brauchen“, welches vor kurzem im Dietz-Verlag erschienen ist.

Link zum Buch:

Die liberale Illusion. Warum wir einen linken Realismus brauchen

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Helmut Junge
Helmut Junge
6 Jahre zuvor

Schön, die Linke, also nach Heisterhagen auch die SPD, muß umdenken. Sehe ich auch so.
Aber ich bin auch sicher, daß das mit dem derzeitigen Spitzenpersonal niemals gehen wird.
Dazu müßte es neue Parteien links geben. Vielleicht ist dieses aufstehen solch ein Versuch. Aber ein Versuch reicht vermutlich nicht.

Helmut Junge
Helmut Junge
6 Jahre zuvor

Es gab immer solche Hoffnungen. Im letzten Jahr eine zunächst glaubwürdige Hoffnung sogar.
Wer erinnert sich noch an Martin Schulz?
Daran konnte ich sehen, daß es durchaus ein großes Bedürfis gibt.
Nein, Stefan Laurin, ich glaube nicht an eine erneuerte SPD. Nicht mehr seit etwa 1973-1974.
Ich hatte auch nicht, im Gegensatz zu dir, an M. Schulz geglaubt.

.

Benni
Benni
6 Jahre zuvor

"Heisterhagen: Naja „den“ Arbeiter gibt es sicher nicht mehr."

Ist selbstverständlich nicht richtig. Richtig ist, dass Herr Heisterhagen kein Linker ist, sondern nur ein Sozialdemokrat, dem die Arbeiterklasse so oder so nichts bedeutet.

" Wir haben ja in der Industrie mehr qualifizierte Facharbeiter und nicht mehr so die Leute, die den ganzen Tag schaufeln."

Da sieht man gut die Verachtung des Sozialdemokraten für den Arbeiter, der den ganzen Tag schaufelt. Die Partei von Hartz-IV & Co.

Die SPD war nie eine Arbeiterpartei. Die restlichen 12 % werden das auch noch merken.

Helmut Junge
Helmut Junge
6 Jahre zuvor

Sorry Stefan, daß du an Schulz geglaubt hast, muß ich zurücknehmen. Das hatte ich wg. Scholz falsch gespeichert.

discipulussenecae
discipulussenecae
6 Jahre zuvor

"Aber wenn sie nur noch 12 Prozent der Arbeiter erreicht, braucht man sich über gar nichts mehr wundern."

Wer "brauchen" ohne "zu" gebraucht … den werde ich bestimmt nicht wählen …

JR
JR
6 Jahre zuvor

Was die SPD eben so macht, wenn einer von ihnen das Problem verstanden hat:
https://www.taz.de/Archiv-Suche/!5535597&s=heisterhagen/

Helmut Junge
Helmut Junge
6 Jahre zuvor

Parteiinterne Kritiker sind früher meist so gemobbt worden, daß sie von allein abgehauen sind.
Ich war es 1974 nach einem Jahr Mitgliedschaft leid.
Viele andere auch, die sind dann oft bei den Grünen gelandet. Da hab ich sie dann später wiedergetroffen. Jetzt werden sie wohl ebenso wie ich in keiner Partei mehr sein. Denn anpassen muß man sich wohl überall, wenn man "mitentscheiden" möchte.
Wie alle dachten, ähnlich wie Nils Heisterhagen, daß die SPD sich ändern könnte, und daß wir das schaffen würden. Daß das nicht klappt, habe ich in Kommentar (1) ja bereits angedeutet.

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