„Einsame Menschen“ im Schauspielhaus Bochum – vergessen, aber nicht verloren

Einsame Menschen Foto: Schauspielhaus Bochum Lizenz: Copyright
Einsame Menschen Foto: Schauspielhaus Bochum Lizenz: Copyright

Nur knapp über hundert Menschen fanden sich am vergangenen Donnerstag im großen Saal des Schauspielhauses Bochum ein, um als passiv beobachtender, aber eingebundener Teil den Konflikten der Familie Vockerat beizuwohnen. Gerade weil die Premiere von „Einsame Menschen“ von Gerhart Hauptmann, uraufgeführt im Jahr 1891, unter der Regie Roger Vontobels schon gut eineinhalb Jahre her ist, bedarf es einer Erinnerung an diese besondere Inszenierung. Von unserer Gastautorin Lu Rieland.

In Zeiten, in denen Prominenz und vielfach unterstrichener, moralischer Pathos mehr Zuschauer begeistern können als aufrichtige Analyse und Feinfühligkeit, darf diese Produktion nicht vergessen werden. Auch in der nächsten Spielzeit (2016/17) bleibt dem Repertoire des Hauses die Inszenierung mit eingespieltem Ensemble erhalten und sollte dringend mit steigenden Besucherzahlen entlohnt werden.

19.30 Uhr. Die wenigen Zuschauer finden sich langsam auf ihren Plätzen, im zur Hälfte gesperrten, abgehangenen Saal und auf eigens aufgebauten Tribüne an einer Seite der Bühne, ein. Nebensächlich, fast zugehörig zum eintreffenden Menschenstrom, ist auch bereits das Elternpaar Vockerat Senior (Katharina Linder, Michael Schütz) zu beobachten. Auf einer sich drehenden Plattform in der Mitte beider Zuschauerperspektiven stehen fünf Stühle, daneben ein Klavier (im Weiteren zumeist gespielt von Matthias Herrmann).

Jeder im Raum befindet sich als Gast auf der Tauffeier des Nachwuches Phillip, Sohn des Wissenschaftlers Johannes Vockerat (Paul Herwig) und seiner, offensichtlich an einer postnatalen Depression leidenden, Ehefrau Käthe (Jana Schulz). Braun (Felix Rech), als einer der beiden real erscheinenden Gäste außerhalb der Familie, ist seines Zeichens Maler und der beste Freund von Johannes. Relativ wenig besinnliche Familienzeit vergeht, bis ein spontan eintretender Gast, die scheinbar herrschende Ruhe stört und daraufhin im weiteren Verlauf des Stückes auch im Entferntesten nicht mehr an Zufriedenheit und Glück zu denken ist.

Anna Mahr (Therese Dörr) ist eine Studentin aus Zürich, die, so stellt sich heraus, längerfristig bei der Familie zu Gast sein wird: eine Frau, vollkommen konträr zur tristen, verstörten Käthe angelegt, nämlich bunt, laut und anrüchig. Ihr Auftreten inspiriert den intellektuell unterforderten Johannes und provoziert seinen exzessiven Wunsch nach Freiheit und geistiger Erfüllung.

Im Laufe der Vorstellung wird deutlich, worum es eigentlich geht: Ganz im Sinne der, auch um die Jahrhundertwende brisanten, Konflikte um Glaube und Wissenschaft, Affekt und Vernunft gelingt Vontobel ein genauer, feinfühliger Einblick in die Identitäten der Protagonisten. Trotz Erinnerung Annas: „Herr Doktor, der böse Affekt!“ gelingt Johannes fortwährend keine Aussöhnung mit sich selbst, seinen Ansprüchen, geprägt durch naive Freiheitsphantasien und den Verpflichtungen, denen er für die Familie eigentlich nachkommen sollte.

Eingebettet in ein Szenario, welches stark an systemtheoretische Strukturen erinnert, nährt sich das, um sich selbst drehende, geschlossene System der Familie selbstreferentziell ausschließlich aus inneren Prozessen. Die Charaktere bekommen keine Chance aus ihrem bürgerlichen Käfig auszubrechen, aber auch keine Möglichkeit in diesem zur Ruhe zu kommen: Entropie.

Anna Mahr ebnet sich im Laufe des Stückes immer mehr den Weg als Störfaktor, bezogen auf das in sich geschlossene System, um die Zerrissenheit und die damit einhergehende Einsamkeit der einzelnen Familienmitglieder zu symbolisieren, quasi auf die Spitze zu treiben. Aber selbst dieses, auf den ersten Blick unabhängige „Fräulein“, muss sich immer wieder der Zuneigung der Familie vergewissern und pendelt ihrerseits ebenfalls zwischen zwei Welten, welche keine so richtig ihre Türen öffnet.

Zuletzt nimmt sich Johannes aufgrund schier unaushaltbarer Sehnsucht nach Freiheit, geistiger Auslastung und jugendlicher Schwärmerei, in fast bipolarer Manier, das Leben: für Käthe, die unaufhaltsam mit den grausamen Egoismen ihres Mannes und somit ihrer scheinbaren Unvollkommenheit konfrontiert wurde, ein weiterer Schlag ins Gesicht. Doch das in sich geschlossene System bedient sich systemtheoretisch nach eingetroffenem Zelltod (Nekrose) ausschließlich eigener Ressourcen ohne Außenreize zuzulassen. So hat man gegen Ende nicht das Gefühl, dass Johannes sich durch seinen Suizid befreit bzw. die Familie zu irgendeinem Reflexionsprozess angeregt hat. Nein, durch die absurde Erscheinung des, schon vorher bereits aufgetretenen, Kammersängers Tomas Möwes, der nun, gottesgleich illuminiert, „Heidschi Bumbeidschi“ zum Besten gibt, macht es eher den Anschein, dass Familie Vockerat ihrer bürgerlichen Pflicht nachkommt und zum Alltag zurückkehrt. Von daher bleibt sich wohl nur Käthe treu und ist an Aufrichtigkeit nicht zu übertreffen. Die empfundene Beklemmung, im Anschluss an die Aufführung, ist der Einbindung des Zuschauers in das Setting dieses Dramas zu verschulden, gekoppelt mit, sich lächerlich machenden musikalischen Einwürfen und einer permanent fortlaufenden Dynamik, die zu Lasten einer gewünschten Belustigung des Zuschauers und einhergehender kommerzieller Auslastung nur noch selten zu erleben ist. Zum Schluss ist noch zu sagen, dass der Stoff Gerhart Hauptmanns (auch noch aktuell „Rose Bernd“, Schauspielhaus Bochum) keine Aktualität verliert und auch aus feministischer Sicht als ungeheuer wertvoll zu betrachten ist. Kürzlich medial geführte Diskussionen rund um die Rolle der Mutterschaft, damit verbundene, suggerierte und geforderte Gefühle und das absolute No-Go zu bereuen ließen erahnen, welche Brisanz ein Abweichen von der Norm heute hat. Die Rollen aller, insbesondere auch weiblichen, Akteure beider Stücke laden förmlich dazu ein, Rollen, deren Selbstverständnis und Zweck zu reflektieren und zu vergleichen. Deswegen, schaut doch mal vorbei, die Termine für den nächsten Spielplan kommen im August.

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