Die Diskussion um Einwanderungspolitik in Deutschland hat längst den Punkt überschritten, an dem sie nur noch theoretische Debatten zu sein scheint. Sie ist zur existenziellen Frage geworden – einer Frage, die die Grundlagen unserer Gesellschaft berührt. Friedrich Merz hat mit seinen jüngsten Forderungen nach einer strengeren Kontrolle der Migration und verstärkten Abschiebungen die Debatte wieder angeheizt. Wie viel davon rechtlich haltbar ist, wird sich zeigen. Aber wie begegnen wir den Herausforderungen, die eine immer komplexere Migration mit sich bringt? Unser Gastautor Sercan Celik ist Vorsitzende der SPD in Kierspe.
Als Sozialdemokrat mit eigener Migrationsgeschichte stehe ich selbst immer im Spannungsfeld zwischen humanitärer Haltung und der Notwendigkeit und Gebotenheit, realistisch und gerecht zu agieren. Mein persönlicher Hintergrund zeigt mir, dass Einwanderung nicht nur eine Frage von Chancen ist, sondern auch von Verantwortung – Verantwortung gegenüber den Menschen, die hier eine neue Heimat suchen, aber auch gegenüber der Gesellschaft, die diese Heimat bieten soll.
Es ist zutiefst ungerecht, Menschen mit der Aussicht auf ein neues Leben nach Europa zu locken und ihnen dann die Tür wieder zu schließen. Wer alles zurücklässt, um nach Europa zu fliehen, verdient mehr als vage Versprechungen. Deswegen müssen wir jetzt für Klarheit sorgen. Es muss klar definiert werden wem wir hier eine Perspektive bieten können und wem nicht. An dieser Stelle sind auch unsere europäischen Partner gefordert. Wir tragen eine Verantwortung gegenüber allen EU-Staaten, aber auch die EU ist uns gegenüber verpflichtet.
Die Dublin-III-Verordnung, die regelt, welcher EU-Staat für die Bearbeitung eines Asylantrags zuständig ist, führt häufig dazu, dass Deutschland überproportional belastet wird. Das liegt an mehreren Faktoren. Zum einen an der geografischen Lage, denn Deutschland liegt im Zentrum Europas und ist daher für viele das Hauptziel. Es liegt aber auch oft an der unzureichenden Solidarität innerhalb der EU. Die Dublin-III-Verordnung sieht vor, dass die Verantwortung für die Aufnahme und Bearbeitung von Asylanträgen auf alle EU-Mitgliedstaaten verteilt wird. In der Praxis funktioniert diese Verteilung jedoch nicht immer gerecht. Staaten an den Außengrenzen der EU sind oft stark überlastet und können die Asylverfahren nicht effizient bearbeiten. Realität ist aber auch, dass viele Menschen, die nach Europa kommen, nicht konsequent zurückgewiesen oder sogar durchgewunken werden. Durch diese Missstände wird das Prinzip der Dublin-Verordnung faktisch unterlaufen, was zu einer ungleichen Verteilung von Asylbewerbern führt.
Letztlich hat auch dieser Umstand in Deutschland zu politischen und gesellschaftlichen Spannungen geführt.
Es wird zunehmend deutlich, dass auch eine europäische Lösung notwendig ist, um die Belastung Deutschlands zu reduzieren und unsere innere Sicherheit zu stabilisieren. Wenn wir von einer gerechten Einwanderungspolitik sprechen, dann gehört freilich auch dazu, dass wir die Menschen schützen, die bereits hier leben – vor allem die Schwächsten. Der brutale Messerangriff in Aschaffenburg, der terroristische Anschlag in Solingen oder die Dutzenden von Fällen schwerer Gewalt, die immer wieder in den Medien landen, sind keine Randthemen. Schutz vor Kriminalität ist auch eine Form von sozialer Gerechtigkeit. Doch Kriminalität hat keine Herkunft. Wer sie instrumentalisieren möchte, um pauschal gegen Migrantinnen und Migranten zu hetzen, spielt mit dem Feuer.
Und hier kommen wir zum gefährlichen Populismus der AfD. Diese Partei ist meisterhaft darin, komplexe Probleme auf einfache Lösungen zu reduzieren. Sie spaltet, hetzt und nutzt Ängste – auch bei jungen Menschen und, ja, inzwischen auch bei Menschen mit Migrationshintergrund. Ich höre oft die Aussage: „Die AfD spricht doch nur die Wahrheit“ oder „Die anderen Parteien ignorieren doch, was wirklich schief läuft.“ Solche Aussagen nehme ich ernst. Sie zeigen, dass viele Menschen sich von den etablierten Parteien nicht mehr abgeholt fühlen. Ihre Sorgen – sei es um die Sicherheit, um die Belastung des Sozialstaates oder um eine unkontrollierte Migration – werden oft nicht ernst genommen.
Das alles zeigt aber vor allem, dass der politische Diskurs sich verändern muss. Populismus mag auf den ersten Blick verführerisch wirken, weil er einfache Lösungen anbietet. Doch die Realität ist nicht so einfach, wie er sie darstellt. Eine ehrliche Einwanderungspolitik muss mehr bieten als nur Slogans. Sie muss Strukturen schaffen, die einerseits Schutz und Integration ermöglichen, aber auch klare und konsequente Regeln durchsetzen.
Und ja, auch Abschiebungen gehören zur Realität. Es mag unangenehm sein, aber es ist gerecht, klare Regeln zu akzeptieren – auch für Menschen wie mich, deren Familie einst selbst eingewandert ist. Bereits in den 1990er-Jahren erlebte ich, wie Mitschüler mitten aus dem Unterricht abgeholt und in ihre Herkunftsländer abgeschoben wurden. Diese Szenarien sind keine Erfindung der Gegenwart – sie gehören und gehörten schon immer zur Geschichte dieses Landes.
Humanität und Rechtsstaatlichkeit stehen nicht im Widerspruch. Sie ergänzen sich. Wir können nur glaubwürdig für eine geregelte Einwanderungspolitik eintreten, wenn wir humanitäre Werte mit klaren, rechtsstaatlichen Rahmenbedingungen verbinden. Es ist unsere Pflicht, Menschen in Not Zuflucht zu bieten – aber wir müssen auch realistisch bleiben. Nicht jeder, der nach Deutschland kommt, kann bleiben. Ein Sozialstaat kann nur dann gerecht sein, wenn er seine eigenen Grenzen anerkennt. Es ist sozial ungerecht, Menschen jahrelang in Unsicherheit zu halten oder eine Integration vorzutäuschen, die letztlich nicht möglich ist. Genauso ist es ungerecht gegenüber der heimischen Bevölkerung, wenn der Staat seine Kapazitäten überschreitet.
Als Sozialdemokrat bin ich überzeugt: Die SPD trägt in der Debatte eine besondere Verantwortung. Wir müssen anfangen zu gestalten und eigene echte politische Angebote machen. Wir müssen uns auch mit den unangenehmen Themen auseinandersetzen, die angesprochen werden. Diese Themen beschäftigen die Menschen, und wir können sie nicht einfach ignorieren.
Deutschland steht jetzt an einem Scheideweg. Bis zur Bundestagswahl sind es nur noch wenige Wochen. Die Art und Weise, wie wir mit Einwanderung umgehen, entscheidet über unsere wirtschaftliche Zukunft und über den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Wir brauchen eine Politik, die sowohl humanitär als auch realistisch ist. Wir müssen den Mut haben, den Menschen die Wahrheit zu sagen – auch wenn sie unangenehm ist. Und wir müssen die Entschlossenheit aufbringen, gegen Populismus und Fremdenhass einzutreten, ohne uns der Diskussion zu verweigern.
Unsere Demokratie ist stark. Aber sie bleibt nur dann stark, wenn wir gemeinsam daran arbeiten – parteiübergreifend, mutig und progressiv.