EM in Gelsenkirchen: Brot und Spiele oder meine Stadt ist kein Knüller

EM-Werbung vor der größten Baustelle der Stadt Quelle: Voregger

Alles begann im Jahr 2017, als die UEFA und der DFB die Städte in Deutschland dazu aufriefen, sich als Austragungsorte für die Europameisterschaft 2024 zu bewerben. Damals war Oberbürgermeister Frank Baranowski für die Stadt Gelsenkirchen verantwortlich. Inzwischen hat Karin Welge das Amt der Oberbürgermeisterin übernommen und ist regelmäßig auf den zahlreichen Veranstaltungen und Fotos im Vorfeld des Turniers zu sehen.

Für die ärmste Stadt Deutschlands wird die EM mit vier Spielen in der Veltins-Arena auf Schalke ein teures Vergnügen. Bisher sind dafür 19 Millionen Euro veranschlagt und vom Stadtrat bewilligt. Mit dieser Summe wären die Umsetzung vieler anderer Maßnahmen für die Bürger und die Stadtentwicklung möglich. Dazu ein paar einzelne Beispiele:

32 neue Kunstrasenplätze
1,3 Kulturkirchen zu Veranstaltungsorten umbauen
3,2 neue Kindertagesstätten mit jeweils 100 Plätzen
90 Prozent der Kosten für eine Sanierung des abgerissenen Zentralbades
1,2 Jahre Defizitausgleich für das Musiktheater
950 Jahre Unterstützung der Begegnungsstätte Schloss Stolzenfels in der Innenstadt
76 Kilometer neue, von der Fahrbahn getrennte Radwege
100 Kilometer neue einfache Radwege
20,9 Jahre Defizitausgleich für Emschertainment
4,3 Jahre Defizitausgleich für die Neue Philharmonie Westfalen
190 Jahre Förderung für das Kreativquartier Bochumer Straße mit jährlich 100.000 Euro. So viel Geld stellt aktuell das „european centre for creative economy ecce“ jährlich zur Verfügung.
9,5 Sanierungen denkmalgeschützter Altbauten wie Haus Reichstein an der Bochumer Straße
7,6 Umbau von Kirchen zu sozialen Stadtteilzentren
38 Jahre Förderung der freien Kultur mit 500.000 Euro jährlich
5 Sanierungen der baufälligen Zeche Oberschuir als Kultur- und Veranstaltungsort

In Gelsenkirchen betragen die Altschulden aktuell fast 520 Millionen Euro. Die Kosten für Zinsen und Tilgung liegen aktuell 23 Millionen Euro im Jahr.Bei den veranschlagten 19 Millionen Euro für die Europameisterschaft wird es nicht bleiben. Die WAZ berichtete bereits im April, dass der städtische Entsorger Gelsendienste mit Mehrkosten von 430.000 Euro für die Müllentsorgung rechnet.

Die Fußball-Europameisterschaft im kommenden Sommer wird die zehn deutschen Austragungsorte insgesamt einen dreistelligen Millionenbetrag kosten. Nach eigenen Angaben investieren die Städte unter anderem in Sicherheit, Fanmeilen, Verwaltung und Personal. So rechnet die Stadt München, die das Eröffnungsspiel am 14. Juni zwischen der deutschen Nationalmannschaft und Schottland ausrichten wird, mit Kosten von rund 21 Millionen Euro. Die Stadt Berlin gab im Mai eine Kostensteigerung von 64 Millionen Euro auf mindestens 80 Millionen Euro bekannt.

„Bei nüchterner Betrachtung erscheint die Schlussfolgerung plausibel, dass von diesen Spielen eher keine nachhaltigen Effekte für die strukturellen Probleme von Gelsenkirchen zu erwarten sind“, schreibt der Stadtsoziologe Frank Eckardt in einem Beitrag für das Gelsenkirchener Stadtmagazin isso. „Die EM-Spiele können auch einfach mal etwas sein, das man sich gönnt. Gute Stimmung in der Stadt, viele bunte Aktivitäten, mediale Aufmerksamkeit aus aller Welt und ein bisschen frischer Wind in einer Stadt, in der so viele Menschen so unglücklich sind wie kaum irgendwo sonst in Deutschland – wenn man einer aktuellen Studie der Universität Freiburg und des SKL Glauben schenken darf“.
Ähnlich bewerten viele Experten und Wissenschaftler die begrenzte Wirkung von Sportgroßveranstaltungen. Der amerikanische Ökonom Andrew Zimbalist kommt in der Studie „Circus Maximus“ zu dem Schluss, dass die wirtschaftlichen und sozialen Versprechen von Olympischen Spielen und FIFA-Weltmeisterschaften oft nicht eingelöst werden. Die erheblichen Kosten und Risiken überwiegen oft den begrenzten wirtschaftlichen Nutzen. Die langfristigen Auswirkungen auf die Gastgeberstädte und -länder sind oft negativ, es sei denn, die Planung und Durchführung erfolgt sorgfältig mit einem klaren Fokus auf Nachhaltigkeit und langfristigem Nutzen.Frank Eckardt wurde in Gelsenkirchen-Schalke geboren und ist Professor an der Bauhaus-Universität Weimar. Er vermisst Ideen in der Stadtentwicklung und kreative Lösungen für die bekannten Probleme: „Wir brauchen dringend ein gemeinsames Nachdenken über den Weg in die Zukunft. Ohne die Wiederherstellung einer lokalen Öffentlichkeit wird es nicht gelingen, neue Ideen und Koalitionen zu entwickeln und auszuprobieren. Kritik ist notwendig, um einen lokalen Lernprozess zu organisieren“.

Eine reine Eventorientierung hilft Gelsenkirchen nicht, die seit Jahrzehnten bestehenden sozialen und wirtschaftlichen Probleme zu lösen. Das andere große Fußballthema der Stadt ist Schalke 04, wo die Verantwortlichen nach Jahren des Niedergangs einen Neuanfang für eine tragfähige Zukunft angekündigt haben. Dazu gehört auch, sich von ungeeignetem Personal zu trennen, einen langfristigen Plan zu verfolgen und das vorhandene Kapital sinnvoll zu investieren. Das scheint überfällig. Aber hier endet der Fußballvergleich mit der Kommunalpolitik. Ein solch radikaler Schritt wird in Politik und Verwaltung nicht erfolgen. Wahrscheinlich wird schon kurz nach dem Abpfiff des Endspiels am 14. Juli in Berlin das große Wehklagen über die fehlinvestierten 19 Millionen beginnen.

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