Envio: Kann der Schaden nie ermittelt werden?

Envio-Chef Dirk Neupert (links) vor Gericht

Im Mai begann mit dem Envio-Prozess in Dortmund eines der größten Umweltstrafverfahren der vergangenen Jahre.  Nach einem halben Jahr sind wichtige Fragen noch immer vollkommen offen. Das Verfahren droht zur Farce zu werden.

Als der Envio-Prozess am 9. Mai vor dem Landgericht Dortmund begann, schien sich die Staatsanwaltschaft sicher zu sein, genug Material für eine Verurteilung zusammen zu haben:

Über 50 ehemalige Mitarbeiter des Dortmunder Entsorgungsunternehmens Envio waren mit dem Umweltgift PCB versucht worden. In ihrem Blut wurden PCB Werte festgestellt, die bis zum 25.000fachen über dem Durchschnittswert der Bevölkerung lagen. Ehemalige Arbeiter des Unternehmens  berichten, dass sie ohne Schutzkleidung mit PCB belastete Transformatoren auseinander nehmen mussten. Unterlagen, die dieser Zeitung vorliegen, belegen, dass dies ohne eine Genehmigung der Behörden geschah, dass diese allerdings das Unternehmen nur sehr nachlässig kontrollierten. Dem ehemaligen Geschäftsführer des mittlerweile insolventen Unternehmens Envio Recycling-GmbH & Co. KG, Dirk Neupert und drei seiner Mitarbeiter waren von der Staatsanwaltschaft wegen verschiedener Umweltstraftaten und Körperverletzung in über 50 Fällen angeklagt worden.

In der Anklageschrift, die der Welt am Sonntag vorliegt, legte die Staatsanwaltschaft auf 78 Seiten ihre Anschuldigungen dar. Die wollte das Gericht im September dann genau untersuchen lassen: Bis zu 700 Menschen beabsichtigte Richter Thomas Kelm medizinisch begutachten zu lassen, um festzustellen, wie stark sie mit PCB und anderen Umweltgiften durch Envio belastet wurden und welche gesundheitlichen Folgen ihnen drohten. Denn zuvor hatte der vom Gericht bestellte Gutachter, der Essener Arbeitsmediziner Prof. Albert Rettenmeier, dargelegt, dass es keine gesicherte Beziehung zwischen der festgestellten PCB  Menge im Blut und Krankheiten gäbe. Der pauschale Vorwurf der Staatsanwaltschaft sei nicht zu belegen.

Das Verfahren hätte für Jahre unterbrochen werden müssen, Kosten von nahezu einer Million Euro entstanden. Und als ob alles nicht schon kompliziert genug wäre, erklärte Rettenmeier dem Gericht im Sommer, er stünde altersbedingt für diese Untersuchungen nicht mehr zur Verfügung. Rettenmeier schlug als seinen Nachfolger den Essener Epidemiologen Prof. Karl-Heinz Jöckel vor und Richter Kelm machte am Vormittag des 14. September deutlich, dass er Jöckel zum Nachfolger Rettenmeiers bestellen will. Dann, in der Mittagspause, teilte einer der Anwälte der Envio-Arbeiter, die als Nebenkläger im Prozess auftreten, Rolf Michael Quittmann, Thomas Kelm mit, dass er Zweifel an der Qualifikation Jöckels habe. Der sei kein Mediziner, sondern Mathematiker. Eine Tatsache, die dem Richter bis zu diesem Zeitpunkt entgangen war. Sichtlich erbost teilte Kelm daraufhin allen Beteiligten mit, dass der Prozess nun doch nicht ausgesetzt wird.

Als es dann Anfang Oktober weiterging, sorgte dann die Staatsanwaltschaft für eine Überraschung: Sie beantragte sechs weitere Gutachter zu hören, um die Frage zu klären, ob es überhaupt einen PCB-Wert gibt, ab dem ein erhöhtes Krankheitsrisiko besteht und ob PCB als Verursacher von Krankheiten sicher bestimmt werden kann. Eine Frage, welche die Staatsanwaltschaft eigentlich vor der Anklageerhebung hätte klären müssen, denn wenn die Antwort lautet, dass es einen solchen Wert nicht gibt, macht eine Anklage wegen   Körperverletzung keinen Sinn.

Am vergangenen Mittwoch waren dann die ersten Gutachter vor Gericht: Prof. Karl-Heinz Jöckel, der Epidemiologe aus Essen und der Bremer Mediziner Prof. Rainer Frentzel-Beyme, ein erfahrener und bekannter Umweltmediziner. Beide sollten dem Gericht zwei Fragen beantworten: Wie gefährlich ist PCB und kann festgestellt werden, ob die 51 Arbeiter durch PCB erkrankt sind?

  Jöckel äußerte sich mehr als skeptisch: „Erkrankungen durch PCB wird man auf individuellem Niveau bei den Arbeitern nicht nachweisen können.“ Auf die Frage, wie schädlich PCB sei sagte der Gutachter: „ Wenn sie mich fragen ob ich mich PCB aussetzen würde, sag ich ihnen: Nein.“

Jöckel führte aus, dass, wenn man bei einer Untersuchung der 51 Arbeiter und 300 weiterer Betroffener aus Dortmund im Vergleich zu einer mindestens doppelt so großen Kontrollgruppe unbelasteter Menschen eine Steigerung von Krankheiten wie Diabetes, Depressionen oder Stoffwechselerkankungen feststellen könnte, das noch nichts darüber aussagt, ob die Erkrankung eines einzelnen Arbeiters durch die PCB-Belastung bei Envio verursacht worden wären. Zumindest nicht mit der Wahrscheinlichkeit, die in einem Strafprozess erforderlich ist.

Drei bis fünf Jahre würden aber auch solche Untersuchungen brauchen. Wolle man das Krebsrisiko feststellen, sagte Jöckel, müsse man in Jahrzehnten rechnen.

In der Befragung durch die Staatsanwaltschaft und die Anwälte der Nebenklage musste Jöckel jedoch einräumen, das er kein PCB-Fachmann ist und seine Meinung sich vor allem auf das Gutachten von Rettenmeier stützt. Studien zu massenhaften PCB-Verseuchungen und ihren Folgen in Japan und Taiwan hatte er nicht gelesen.

Der zweite vom Gericht bestellte Gutachter Frentzel-Beyme wurde am Mittwoch überhaupt nicht gehört. Ralf Neuhaus, der Verteidiger des Hauptangeklagten Dirk Neupert, beantragte, Frentzel-Beyme als Gutachter abzulehnen: „Mein Mandant misstraut seiner Unabhängigkeit.“ In Beilagen einer von Frentzel-Beyme mit herausgegebenen Zeitschrift habe es Vorverurteilungen der Envio-Angeklagten gegeben und bei einem Umweltkongress im vergangenen Jahr  sei er mit einem Envio Mitarbeiter zusammen in einer Diskussionsveranstaltung aufgetreten.

Das Gericht wird in den kommenden Tagen entscheiden, ob es Frentzel-Beyme als Gutachter ablehnt oder den Anträgen von Staatsanwaltschaft und Nebenklage folgt, den Antrag von Neuhaus abzulehnen.

Unabhängig davon ist klar: Die Anklage gegen Neupert und seine drei Mitarbeiter wegen Körperverletzung steht auf tönernen Füßen. Reinhard Birkenstock, der zahlreiche ehemalige Envio-Arbeiter in der Nebenklage vertritt, brachte bereits in der Verhandlung am Mittwoch den Tatbestand des Misshandlung in Spiel – der allerdings deutlich geringer geahndet wird als eine Körperverletzung. Und das betrifft nicht nur das Strafmaß: Auch die möglichen Entschädigungen würden im Falle einer Verurteilung wegen Misshandlung deutlich geringer ausfallen.

Die Leidtragenden dieses Prozesses sind die ehemaligen Envio-Arbeiter: Die Anklageschrift weckte  in ihnen Hoffnungen, die sich wahrscheinlich nicht erfüllen werden. Dazu kommt bei vielen die Arbeitslosigkeit. Reinhard Birkenstock: „Bei Envio gearbeitet  zu haben ist ein Stigma. Viele Arbeitgeber lehnen ehemalige Envio-Arbeiter ab, weil sie Angst haben, dass sie häufig krank werden.“

Der Artikel erschien in einer ähnlichen Version bereits in der Welt am Sonntag.

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Klaus Lohmann
Klaus Lohmann
12 Jahre zuvor

Das Problem im Envio-Prozess ist nicht der völlige Blindflug hinsichtlich der Erkenntnisse über PCB-Folgeschäden, sondern die Missachtung von Staatsanwaltschaft, Nebenkläger-Anwälten und Vorsitzendem bezüglich der massiven Kontamination mit Tetrachlorethen (PER). Darüber wundern sich auch die Kläger, wie ich aus eigenen Gesprächen weiß, denn sie wurden von Anfang an – wenn überhaupt – eher halbherzig auf diese Immissionen hin untersucht.

Die Erkenntnisse über die Giftigkeit und die karzinogene Wirkung von PER sind in der Fachliteratur gesichert. Man muss also keinen „Wettbewerb“ um die giftigste Substanz, der die Envio-Mitarbeiter vorsätzlich ausgesetzt wurden, veranstalten, um den Tatvorwurf der vorsätzlichen Körperverletzung im Prozess durchzusetzen.

Ich kannte das Rettenmeier-„Gutachten“ als Bestandteil der Ermittlungen und als völlig ahnungslose Fragestellung der Staatsanwaltschaft lange vor Prozessbeginn und war von Anfang an entsetzt über die Schwafelei und der Copy/Paste-Mentalität, als es um gesichertes Fachwissen über PCB ging. Das kann jeder Uni-HiWi besser.

Aber der schon im Vorfeld durch staatsanwaltschaftliche Kollegen aus der ganzen Republik wegen Amateurhaftigkeit geschmähten Dortmunder Staatsanwaltschaft ging es wohl von Anfang an nicht um die konkreten Fälle, sondern um den „Ruhm“, den sie durch eine Durchsetzung ihrer Anklage auf der Basis von PCB-Schäden hätte erlangen können, weil das in der deutschen Rechtssprechung einmalig und neu wäre.

Auch dieser permanent durch die YellowPress geisternde Promi-Anwalt Birkenstock ist meilenweit davon entfernt, im Prozess irgendjemandem eine echte Hilfe zu sein, da er nichts Inhaltliches beitragen kann. Da war eine grüne Ulrike Märkel leider viel zu optimistisch, als sie dessen Einstieg bejubelte.

Es geht nun einzig und allein darum, den Opfern/Klägern noch mehr Kraft und Überzeugung zu geben, um diesen Prozess zu überstehen und danach eine Revision vor einem wirklich professionellen Gericht durchzusetzen. Was angesichts deren Enttäuschung über den bisherigen Verlauf und der individuellen Probleme, denen jedes einzelne Opfer durch z.B. völlig fehlender Hilfe seitens Politik, Berufsgenossenschaften, Versicherungen und Rententräger ausgesetzt ist, eine fast unlösbare Aufgabe darstellt.

Aus Maus
Aus Maus
12 Jahre zuvor

waren mit dem Umweltgift PCB versucht worden

Klaus Lohmann
Klaus Lohmann
12 Jahre zuvor

Ach so, nur falls es für Irgendwen von Bedeutung ist: Die Nachfolge-Bude von Neupert, die Bebra Biogas Holding AG mit Sitz in Hamburg (die per Aktien-Umwandlung der Envio-Aktien entstand), hat heute per Bundesanzeiger-Meldung den Verlust der Hälfte ihres Grundkapitals anzeigen müssen. Eine außerordentliche Hauptversammlung wurde für den 17.12.12 angekündigt.

Gleichzeitig wurde der Geschäftszweck der Holding auf „Erwerb, das Halten und Verwalten von Immobilienvermögen“ ausgeweitet. Mag sein, dass die als letzten Strohhalm nochmal die Finger auf das Gelände an der Kanalstr. legen wollen.

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