Der ehemalige Bundesligaspieler Erwin Kostedde war ab der Stunde seiner Geburt ein Outlaw. In 219 Bundesligapartien gelingen ihm 98 Treffer, als Stürmer gilt er als Instinktfußballer und Schlitzohr. Im Leben neben dem Fußballplatz misslingt ihm vieles, er ist ein unsteter Geist der nie lange an einem Ort bleiben kann. Der aus Münster stammende Autor Alexander Heflik hat nun das Leben auf 188 Buchseiten komprimiert. Mit vielen szenischen Einstiegen liest es sich wie eine griechische Tragödie aus dem Herzen der Bundesrepublik, die bei Aktenzeichen XY präsentiert wird: Spannend und maximal brutal, weil Kostedde durch seine dunkle Hautfarbe immer wieder stigmatisiert wird und sein tragisches Leben auf langer Strecke einfach nicht gelingt.
Im Roman „Berlin Alexanderplatz“ ist die Hauptfigur Franz Biberkopf. Ein Transportarbeiter, dem übel mitgespielt wird und dessen Leben nicht recht gelingen will – auch wenn er sich noch so anstrengt. Auch Kostedde ist eine Art Biberkopf, dem im katholischen Münsterland der 1950er schon Ressentiments entgegenfliegen. Er soll sich mit Kernseife waschen, damit seine Hautfarbe auf ein „normales“ Otto-Normalbürger-Niveau ausbleicht. Sein Vater ist ein unbekannter G.I. aus den USA, den er nie kennenlernen wird. Seine Mutter hat fünf weitere Kinder, deren Vater fällt als Soldat im zweiten Weltkrieg. Sein 15 Jahre älterer Halbbruder kommt mit Erwin überhaupt nicht klar – und Erwin strauchelt, probiert sich anzupassen, doch immer wieder wird er stigmatisiert wie ein wild gewordenes Haustier. In seiner Pubertät muss er in mehrere Erziehungsanstalten, denn Kostedde ist sensibel und weiß nicht wie er mit den ewigen Anschuldigen umgehen soll.
Seine Ausflucht ist der Fußball – hier kann er was und sein Talent spricht sich schnell herum. Sein Jugendtrainer Felix „Fiffi“ Gerritzen bringt ihm ein paar Tricks bei, unter anderem den „Übersteiger“ der zu seinem Markenzeichen wird. In den 1970er Jahren kickt er für Kickers Offenbach und Hertha BSC, wird sogar zur Nationalelf eingeladen – weil unter anderem „Kaiser“ Franz Beckenbauer sich für ihn stark macht. Als er zwischen 1976 und 1978 zwei Saisons für Borussia Dortmund spielt, erlebt er die Ungerechtigkeiten aus der Kurve. Gelingen im Tore, wird er auf der Südtribüne gefeiert, leidet er unter Ladehemmung wird er mit dem unterirdischen Ressentiment „Kohleneimer“ etikettiert. Zu seiner Offenbacher Zeit singen die Fans von Eintracht Frankfurt sogar: „10 Schwule und ein Nigger – das sind die Offenbacher Kicker.“
Wenn Erwin zu viel Druck erhält, dann gelingt ihm nichts – manchmal haut er wie ein einsamer Wolf in der Prärie einfach ab und bleibt über mehrere Tage verschollen. Hält man ihn an der langen Leine und gibt ihm Wertschätzung – dann funktioniert er wie ein zweiter Gerd Müller: bei seiner Stippvisite beim französischen Club Stade Laval in der Bretagne wird er Torschützenkönig, bei Standard Lüttich wird er dreimal belgischer Meister – und Werder Bremen gelingt sogar der Aufstieg aus der zweiten Liga nach der Saison 1980/81 dank 29 Kostedde-Treffern.
Ein ewiges Auf und Ab – mit vielen Nebengeräuschen
Mit vielen Transfers kommt Kostedde dank lukrativer Handgelder zu einem großen Vermögen – doch mit dem Geld kann er nicht umgehen – im Stile von George Best verpasst er alles, sein Steuerberater haut ihn übers Ohr und windige Berater stecken sein Geld in Immobilien-Geschäfte, die wie Luftballons zerplatzen. Kostedde fährt noble Luxusautos, mal Jaguar, mal einen goldenen Mercedes. Er gibt beim Winterreifenwechsel in der Werkstatt dicke Trinkgelder und tritt mit Satinhemden und langem Pelzmantel in der Öffentlichkeit auf. Sein Erschinungsbild in den späten 1970er Jahren lässt ihn streckenweise so erscheinen, als sei er der Manager von Siegfried und Roy – ein Leisetreten gelingt ihm während seiner aktiven Profi-Karriere nicht immer.
Vielleicht will er in diesem extrovertierten Aufzug der Öffentlichkeit auch nur beweisen: „Ich habe es geschafft.“ Denn im erzkatholischen Westfalen ticken die Uhren nach spießigen Dogmen: „In Münster wurde man schon komisch angeschaut, wenn man am Sonntag eine Jeans trug. Und ich hatte noch die falsche Hautfarbe“, betont Kostedde gegenüber seinem Biografen Haflik. 1990 verdreht sich das Schicksal so heftig gegen den Fußballer, dass Kostedde nach einem angeblichen Überfall in U-Haft kommt und anschließend in eine psychiatrische Anstalt muss.
Kostedde hält es nicht mehr aus ein öffentlich Gejagter zu sein und ist in dieser Phase stark selbstmordgefährdet, denn auch die Boulevardmedien schlachten seine Story aus – und hauen wieder auf ihn drauf. Seine Frau Monika und Sohn Marcel halten in dieser schweren Zeit zu ihm, aber nach dem Jahr 1991 will kein einziger Schritt mehr richtig gelingen. Weder Engagements als Trainer klappen, noch Jobs als Repräsentant von Puma oder als Spieler-Berater.
Kostedde wird als Unschuldiger verhaftet – eine Tragödie
Auch eine Anstellung als Waschmaschinenverkäufer ist nur von kurzer Dauer. Mit Willi „Ente“ Lippens spielte Kostedde bei Borussia Dortmund zusammen. Lippens sagt über Kostedde: „Im Leben ist es so, dass sich wahre Freunde erst dann zeigen, wenn es einem dreckig geht. Das ist in der Tat so. Wenn beispielsweise der große Gatsby Geld hatte, waren die Feten gut – und wenn nichts mehr läuft, dann kommt keine Sau mehr. Von daher kann man den Maßstab anlegen. Erwin ist eine arme Sau, dass hat der nie verpackt, dass man ihn nach dem angeblichen Spielhallen-Überfall da beschuldigt hat. Durch sein Elternhaus und seine Hautfarbe war er unglaublich sensibel. Dann kam diese Scheiße noch dazu, dazu war er ja noch komplett unschuldig – eine schlimme Geschichte.“ Lippens war übrigens der einzige Spieler, der Kostedde in U-Haft besucht hat.
Vergangenen Freitag ist Kostedde 75 Jahre alt geworden, Vereine wie Werder Bremen oder Kickers Offenbach haben sich seiner mit tollen Geburtstgasspecials erinnert – auch Arnd Zeigler hat ein beeindruckendes Feature über den ehemaligen Mittelstürmer in seiner Sendung gezeigt. Alexander Heflik hat mit diesem Buch eine packende Biografie verfasst, die es wert wäre in eine Netflix-Doku umzumünzen. Denn nicht viele Bundesliga-Profis haben ein derartig wunderliches und absurdes Leben mit so vielen Niederschlägen und ein paar wirklich wunderbaren Höhepunkten erlebt. Zu seinen spielerischen Hochzeiten konnte Erwin Kostedde im gegnerischen 16-Meter-Raum wirklich alles. Und das Tor des Jahres 1974 hat er auch geschossen: mit den Kickers aus Offenbach gegen Borussia Mönchengladbach.