Bei dem präsentierten Text handelt es sich um einen vierteiligen Auszug aus Mark Ammerns aktueller Arbeit an einem literarischen Konzeptbuch, das im AutorenVerlag Matern erscheinen wird. Dieses zukünftige Kapitel hatte er bereits in seinem Blog vorveröffentlicht, um einen Eindruck zu geben, was ihn derzeit umtreibt. Dort sind die Beiträge unter einem Stichwort separat gelistet, zudem in umgekehrter Reihenfolge. Hier ist es hingegen möglich, die Texte in einem Rutsch zu lesen. Viel Vergnügen!
Eine Bedingung (Mark Ammern)
I
Eine Bedingung von erzählender künstlerischer Literatur ist, einen Erzähler präsentieren zu können, wenigstens einen. Wäre lediglich ein Schriftsteller angebbar, jedoch kein Erzähler, könnte das relevante Werk eventuell authentisch geschrieben sein, eine erlangte Authentizität würde jedoch nicht ausreichen, um künstlerische Autonomie zu gewährleisten, nicht einmal zu ermöglichen. Authentizität würde zu Erzählendes bereits vorab stark einschränken. Eine Frage nach der ‚Echtheit‘ bezöge sich auf das Erzählte, berücksichtigte jedoch keinen Erzähler. Dies kann ein Grund sein, weshalb in authentischer Literatur Schriftsteller und Erzähler nicht selten zusammenfallen. Fehlte jedoch ein Erzähler, wäre eine sprachliche Kunst nicht möglich, lediglich ein Plaudern fast wie unter Nachbarn, sogar unabhängig von der konkreten sprachlichen Gestaltung.
Mit einem literarischen Erzähler entsteht eine Figur, die Hauptfigur eines erzählenden Werks. Der besondere Blinkwinkel und die Sprache sind relevant, nicht ein etwaiger Plot. Mit der Erschaffung einer solchen Figur entscheidet sich alles weitere, sogar die Form. An dieser Form ist leicht überprüfbar, ob die Figur dem Anspruch genügt, autonom zu erzählen, oder lediglich irgendwelchen Förmchen, bekannten Kunsthandwerks- bzw. Warenformen folgt.
Relevant wäre jedoch nicht nur, ob eine allgemeine Autonomie vorliegt, sondern auch ihre Angemessenheit. Einem künstlerischen Erzähler wäre zuzutrauen, was er betreibt. Es hat plausibel zu sein, wie er sprachlich vorgeht. Ob die Hauptfigur, der Erzähler, aus der ersten oder dritten Person heraus agiert, ist hingegen nicht entscheidend. Wechsel könnten allerdings interessant sein.
Die Frage nach Autonomie reicht aber weit über die allgemeine Formgebung des Erzählers hinaus. Sie richtet sich auch auf die behandelten Sachverhalte, ob sie primär sinnlich oder intellektuell sind. Einem Erzähler attestieren zu müssen, nicht zu wissen, eventuell nicht einmal zu ahnen, worüber er spricht, würde zwar nicht die Figur unglaubwürdig machen, menschlich wäre Unwissenheit durchaus möglich, eventuell sogar normal, aber ihre Autonomie bezweifeln lassen. Sich mit jedem literarischen Schritt entscheiden zu können, Auswahlen zu treffen, ist an Bedingungen geknüpft. Würde dem Erzähler praktisch keine Wahl bleiben, wäre er schlichtweg verloren.
Erzählende künstlerische Literatur zu verfassen, ist zentral eine intellektuelle Angelegenheit, die häufig unterschätzt wird. Ihre Bewältigung und spätere Kritik hängt letztlich vom einbringbaren intellektuellen Niveau ab. Schriftsteller zu sein, mit Schrift zu hantieren, ist heute tatsächlich relativ vielen Menschen möglich, dies jedoch in autonomer Weise zu vollbringen, ein Autor zu sein, weiterhin etwas Besonderes.
Eine Erzählerfigur ist im erzählten Geschehen integriert, sie steht nicht außerhalb. Die jeweiligen Umstände und andere Figuren üben eventuell Einflüsse aus. Die entstehende Simulation einer sozialen Konfiguration ist nur teilweise ein Resultat des Erzählers. Es ist ähnlich wie im richtigen, im wirklichen Leben. Außerhalb steht nur der Autor, der die Simulation wie ein Puppenspieler steuert und überwacht.
Die Integration der Erzählerfigur hat starke Auswirkungen auf die Sachverhalte, von denen er möglicherweise wissen und erzählen kann. Eine auktoriale, außenstehende Position einzunehmen, ist ihm nicht möglich. Sie könnte ihm erlauben, fiktional als allwissender Übervater zu fungieren. Doch obgleich funktionale Schemata über verschiedene Erzählsituationen angelegt wurden, würde ich die Wahl einer auktorialen Position ausschlagen. Sie ließe sich nicht nur mit einer angenommenen Existenz Gottes oder eines idealisierten Königs vergleichen, auch falls sich nicht mehr als eine Plaudertasche offenbart, sondern sogar mit einem als authentisch angelegten Erzähler, der primär über sich und seine literarisch gleichgültigen Eindrücke erzählt.
Zwischen einem auktorialen und einem authentischen Erzähler gibt aus historischer Sicht aber einen wichtigen Unterschied. Ein auktorialer Erzähler hat die spätesten mit der Aufklärung gesellschaftlich bemerkbare Säkularisierung noch nicht verarbeitet. Relativ viele Schriftsteller der sogenannten Moderne schrieben gleichsam im Prophetenmodus, so absurd diese Formulierung auch klingen mag. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg setzten sich auf relativ breiter Front erzählende Figuren durch.
Es muss nicht verwundern, dass mit der Etablierung von Erzählerfiguren viele ‚Experimente‘ entstanden, in denen literarisch getestet wurde, was man Figuren, aber auch möglichen Lesern, abverlangen kann. Die sogenannte Postmoderne entstand.
Als ein besonderes Beispiel der literarischen Postmoderne gilt „Unendlicher Spaß“ (Infinite Jest) von David Foster Wallace. In der ‚Welt‘ erläuterte Wieland Freund allgemein: „Infinite Jest“ ist eine irrlichternde Abrechnung mit der Spaßgesellschaft, überbordend, voller postmoderner Finessen, mal Zukunfts- und mal Bildungsroman, mal Satire und letztlich bodenlos traurig.“ (vgl. Freund, W., 2009). Diese Charakterisierung ist nicht am Inhalt orientiert, sondern fasst zusammen, worüber der Inhalt (der Text) des Romans erzählt. Diese Differenzierung ist aus sprachlicher Sicht unablässig und hilft, eine Distanz zu erlangen.
Konkreter geht Ulrich Greiner in der ZEIT auf die Sprache der Figuren des Romans ein: „In halb guten Romanen täuscht der Dialog lebendige Rede und Gegenrede nur vor, aber so spielt sich Kommunikation ja selten ab. Oft laufen bloß Monologe nebeneinanderher, Antworten kommen gar nicht oder verspätet.“ (vgl. Greiner, U., 2009) Es ist diesen Worten nach eine Frage der Angemessenheit – und zwar in Relation zur Wirklichkeit -, die letztlich darüber entscheiden hilft, wie der literarische Text zu beurteilen ist.
Doch was Greiner als Lob gilt, zehrt von einer alten Konzeption, die Literatur als ‚Spiegel der Gesellschaft‘ erfasst: „Ihm [dem Autor] entgeht ja nichts. Die Welt, die er uns zeigt, wirkt, als wäre sie mit zahllosen Kameras und Mikrofonen aufgenommen, widergespiegelt in zahllosen Sprachen, im Jargon der Pennäler oder Penner, der Wissenschaftler oder Manager.“ (Vgl. ebd.) Ich möchte gar nicht bestreiten, dass eine solche Vielstimmigkeit besonders emotional beeindrucken, sogar überwältigen kann, doch würde bereits eine Wendung zur gesellschaftlichen Wirklichkeit bei Lesern Ähnliches bewirken können. Eine ‚Widerspiegelung‘ brächte tatsächlich relativ wenig ein, wäre im Rahmen von angelegten gesellschaftswissenschaftlichen Studien auch zumeist belastbarer.
Der an der gesellschaftlichen Wirklichkeit gleichsam ausufernde Roman ist anstrengend zu lesen, Greiner betont, dass dem Autor aufgrund der quälenden Fülle aber zu verzeihen sei: „Und weil dieser Unendliche Spaß von einem unendlichen Ernst beherrscht ist, von einer geradezu christlichen Empathie, verzeihen wir dem Autor, dass er uns nicht selten quält mit virtuosen, nicht aufhören könnenden Schilderungen von Tennisturnieren oder aberwitzigen Kabinettssitzungen beim amerikanischen Präsidenten.“ (Vgl. ebd.) Gäbe es alternative Lösungen?
Literatur:
Freund, W., 2009, Nach diesem Roman erhängte er sich (https://www.welt.de/kultur/article3308615/Nach-diesem-Roman-erhaengte-er-sich.html)
Greiner, U., 2009, David Foster Wallace: Der Hammer (http://www.zeit.de/2009/36/Infinite-Jest)
II
Die Formulierung ‚Spiegel der Gesellschaft‘ ist eine altbürgerliche, relativ eingängige aber misslungene Metapher, mit der die Inhalte eines belletristischen und künstlerischen Buches schlicht entfallen. Sprache scheint gesellschaftlich derart ungewöhnlich und außerordentlich zu sein, dass man auf sie und ihre Anführung am besten verzichtet. Tatsächlich ist sie unter Menschen jedoch selbstverständlich, und wer mit ihr und ihren sozialen Konventionen hadert, zeigt sich gesellschaftlich asozial. So sehen es zumindest nicht wenige ‚Oberlehrer‘, die inzwischen auch durch das Internet streifen, nicht nur durch muffig riechenden Wohnviertel. Die Welt des Internets, der Bits und Bytes, ist übrigens genauso Wirklich wie die Außenwelt, virtuell könnte innerhalb jener allenfalls Dargestelltes sein, ob z.B. Hunde oder Katzen. Sprache jedoch, um auf die Metapher zurückzukommen, könnte gar nicht spiegeln.
Einem Erzähler wäre es aber möglich, sich mittels Sprache auf etwas zu beziehen, doch worauf? Auf die durch menschliche Sinneswahrnehmungen und Hirntätigkeiten erzeugte Wirklichkeit? Es wäre bereits schwierig, sprachliche Bezüge wissenschaftlich abzusichern. Ein angenommenes Vorliegen von Bezügen hat überprüfbar zu sein. Diese methodische Einengung erfolgte u.a. aufgrund der leicht entstehbaren Unsicherheiten im alltäglichen Umgang. Falls künstlerisch erzeugte Figuren ihre figürlich bzw. persönlich geprägten Eindrücke erläutern, dann nicht solche der gesellschaftlichen Wirklichkeit.
Nun kann etwas Außergewöhnliches geschehen: schwindet die Wirklichkeit, die Annahme einer Realität wäre ohnehin Humbug, eröffnen sich weitaus umfangreichere Räume von Möglichkeiten, von empirischen und sogar von logischen. Die empirischen Möglichkeiten sind primär durch probabilistische Naturgesetze beschränkt, logische Möglichkeiten ließen sogar einen Butt (vgl. Grass, G., 1979) sprechen, zumindest solange keine Widersprüchlichen Annahmen getätigt werden. Lediglich Vergleiche mit der Wirklichkeit, falls man einen Zugang hat, ließen sich sich bewerkstelligen.
Es gibt noch einen weiteren Unterschied zu den Wissenschaften. Einzelereignisse sind allenfalls politikwissenschaftlich und historisch relevant und werden i.d.R. zigfach erforscht und diskutiert. Literatur aber ‚lebt‘ erst durch erzählte Einzelfälle, durch sprachliche Besonderheiten.
Selbstverständlich wäre es weiterhin möglich, literarisch einer gesellschaftlichen Wirklichkeit ‚nachzueifern‘, den Erzählern sprachliche Ausdrucksmöglichkeiten in den Mund zu legen, die quasi einen verbeulten Spiegel erscheinen lassen könnten, es wäre jedoch ebenso möglich, Skurrilitäten Raum zu schaffen, die im Kontext von Worten ‚Wirklichkeit‘ möglich sind. Vielleicht würde sich das experimentelle Niveau von Schriften erhöhen, bereits innerhalb der Romantik gab es ähnliche Bestrebungen, die ziemlich abgedreht anmuten könnten, im vorliegenden Kontext aber stünden relevante Schriften im Rahmen einer wissenschaftlichen Weltanschauung.
Die literarisch vordringlichste Schwierigkeit wäre, Figuren zu schaffen, denen man zutrauen könnte, sich durch solche Wirklichkeiten zu bewegen. Ich habe mich bislang für Künstler entschieden, zwei Tänzer (Modern Dance) und einen Sänger (Bariton), zudem für einen Duisburger Tourismusführer, der an Skurillität kaum zu überbieten ist. Die u.a. von ihnen erzeugten Formen sind freilich alles andere als marktgerecht, sie sind schlicht frei.
Literatur
Grass, G., 1979, Der Butt, Frankfurt a.M.
III
Die Abgrenzung zur Wissenschaft will ich gar nicht vertiefen. Wahrscheinlich ist, dass kaum ein Leser etwas über wissenschaftliche Arbeit weiß, und sie auch gar nicht kennenlernen will. Sie ist sogar ein stark diversifizierter Bereich von Experten geworden, in dem fast nur noch die analytische Philosophie um allgemeine, übergreifende Ansichten ringt.
Außerhalb schwimmen Menschen hingegen einem Meer von Meinungen; dies lässt sich in den sozialen Medien leicht verfolgen, bis hin zu Äußerungen von Wut- und Kulturbürgern.
Meinungsfreiheit ist ein rechtlich wichtiges Gut in unserer Gesellschaft. Auch Wissenschaftler und Philosophen sind darauf angewiesen, spätestens sobald sie ihre jeweiligen Arbeitsbereiche verlassen, falls dies rechtlich überhaupt eine Rolle spielt. Ich muss eingestehen, dass ich als Literat von bürgerlichen Rechten konkret kaum eine Ahnung habe.
Dennoch formuliere ich einen relativ kurzen Zusatz: die Formulierung ‚logisch möglich‘ könnte zu unliebsamen Missverständnissen führen. Logisch möglich sind Sätze, wie viele oder wenige Worte diese auch umfassen, die widerspruchsfrei geäußerten werden können. Wenn die sprachliche Annahme eines sprechenden Butts nicht zu Widersprüchen in einem Text führt, ist die Annahme einer Existenz möglich. Sie bliebe allerdings konzeptionell.
Die Menge an logisch möglichen Sachverhalten ist weitaus größer als die Menge der empirisch möglichen. Veranschaulichen ließe sich dies durch ein verschachteltes Mengenbild: Der größte Kreis würde all die Sachverhalte umfassen, über die widerspruchsfrei gesprochen werden kann. Darin läge ein sehr viel kleinerer Kreis der sich speziell auf empirisch mögliche Sachverhalte konzentrierte, die naturwissenschaftlich unter den Bedingungen der Erde möglich sind. Und ein klitzekleiner Fliegenschiss innerhalb dieses Kreises, kaum zu erkennen, umfasste die entstandene Empirie. Alles zusammen könnte die literarisch relevante Wirklichkeit ausmachen – und all der ‚unsägliche‘ Sinn/Unsinn, der typischerweise durch Meinungsäußerungen verzapft wird.
Es gibt jedoch, darauf ist zum Schluss noch hinzuweisen, ein weiteres mögliches Problem, das speziell in der Physik entdeckt wurde und bis in die Logik reicht. Wenn mikroskopisch kleine Teilchen an zwei verschiedenen Stellen gleichzeitig sein können, wie beobachtet wurde, dann könnten sich Aussagen über ihren Aufenthaltsort, obgleich gemessen wurde, aus logischer Perspektive widersprechen. Eine Lösung könnte eventuell eine dreiwertige, nicht-klassisch Logik bereithalten, in der zu den Werten ‚richtig‘ und ‚falsch‘ eine ‚Nicht-Entscheidbarkeit‘ käme.
IV
Die Aufwertung all der Möglichkeiten gegenüber der empirischen Wirklichkeit führt allerdings auch zum auktorialen Erzähler zurück. Logisch ist er durchaus möglich, ähnlich wie Gott. Ein solcher Gott stände jedoch als logisch möglicher Sachverhalt lediglich neben vielen anderen Sachverhalten, z.B. neben Papageno, wie der Theologe in meiner ‚Novelle‘ „Papageno in Parga“ erläuterte. Eine Theologie ließe sich auf diese Weise nicht begründen noch erzwingen – auch kein Prophetenmodus in der künstlerischen Literatur. Für einen auktorialen Erzähler würde lediglich die grobe Einfachheit sprechen können, mit der diktiert werden könnte, ähnlich wie für Autokraten oder Tyrannen in der empirischen Politik. Vergleiche mit dem Fliegenschiss Empirie wären also durchaus hilfreich. Mit einer sprachlichen Kunst würde die zu erwartende narzisstische Entladung in der Literatur nichts zu tun haben können, eher mit einem Blöken oder schier unablässigen Plaudern auf einer Apfelsinenkiste im Schrebergarten, freilich bis der Notarzt kommt. Literatur ist aber kein Krankheitsbild, sondern bestenfalls ein intellektuelles Abenteuer.
Aber mich interessiert kein literarisches Ideal, keine Unterteilung in ‚gute‘ oder ‚schlechte‘ Literatur; interessant könnte jedoch sein, was jeweils sachlich einbezogen wurde und was nicht: die sachliche Angemessenheit. Typische Urteile ‚gut‘ oder ‚schlecht‘ erlangen häufig nur instinktgeleitetes Niveau. Der ehemalige Verleger des Hanser Verlages z.B. lud zu einem Essen ein, das letztlich an den gut-bürgerlichen Geschmack appellierte. Auch Geschmack interessiert mich nicht. Eine solche Primitivität könnte ich mir gar nicht erlauben. Sie wäre literarisch schlicht verfehlt.
Ich möchte dieses Paper jedoch nicht nutzen, um auf ein Fehlen von Intellektuellen im deutschsprachigen Raum hinzuweisen oder gar um meine eigenen Schriften zu interpretieren. Auch liegt es mir fern, literaturwissenschaftlich zu arbeiten. Mehr als die Publikation einer (weiteren) Meinung ließe von mir sich nicht anführen, außer einigen konzeptionellen Hinweisen habe ich nichts zu geben.
Literatur
Ammern, M., 2013, Papageno in Parga, eBook, Duisburg.